Der Zweifel schwimmt mit. So lässt sich zusammenfassen, was bei den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris wohl viele Schwimmerinnen und Schwimmer denken, wenn sie gegen chinesische Gegnerinnen und Gegner antreten.
Recherchen der ARD-Dopingredaktion hatten im April aufgedeckt, dass im Jahr 2021 bei einem nationalen Wettkampf 23 chinesische Schwimmerinnen und Schwimmer positiv auf ein Herzmittel getestet worden waren. Eine Sperre durch die chinesische Anti-Doping-Agentur (CHINADA) blieb damals aus, die WADA akzeptierte ohne eigene Ermittlungen einen CHINADA-Bericht mit der Erklärung einer "Massenkontamination" durch verunreinigtes Essen in einer Hotelküche. Elf dieser Athletinnen und Athleten sind in Paris am Start.
Und Zhang Yufei gewann schon über 100 Meter Schmetterling Bronze – Angelina Köhler aus Deutschland belegte hinter ihr Platz vier. Dem ZDF sagte Köhler danach: "Es hat natürlich immer einen miesen Beigeschmack (...). Ich hoffe, dass da nochmal Aufklärung kommt. Aber erstmal gehört die Medaille ihr und da gibt es nichts auszusetzen."
Paris-Olympionikin Muhan 2022 positiv auf Steroid getestet
Doch die Aufklärung im Fall der 23 Schwimmerinnen und Schwimmer bleibt die WADA nach Ansicht von unter anderem ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt, dem Athleten Deutschland e.V. und der US-amerikanischen Anti-Doping-Agentur (USADA) schon lange schuldig. Und darüber hinaus gibt es nun zwei neue Verdachtsfälle, die den enormen Druck auf die WADA aufrechterhalten.
Wie die New York Times am Dienstag (30.07.2024) berichtete und die ARD durch Quellen separat bestätigen konnte, wurden 2022 Tang Muhan und He Junyi positiv auf das anabole Steroid Methandienon getestet. Zwar sperrte die CHINADA sie immerhin vorläufig, sprach sie später aber frei, erklärte erneut alles mit einer Essenskontamination – diesmal mit verunreinigtem Hamburger-Fleisch in einem Restaurant in Peking. Und erneut winkte laut der Recherchen die WADA die heimlichen Freisprüche ohne Vorlage konkreter Beweise durch.
Junyi ist bei den Sommerspielen nicht dabei. Er war aber auch 2021 schon unter den positiv auf das Herzmittel getesteten Schwimmern, wurde also zweimal in zwei Jahren ohne öffentliche Kenntnis vom Dopingverdacht freigesprochen. Und Muhan, Staffel-Olympiasiegerin von Tokio 2021, ist sehr wohl in Paris am Start. Sie kämpft mit der chinesischen 4x200-Meter-Freistil-Staffel der Frauen am Donnerstag um Edelmetall.
USADA-Chef Tygart bezeichnet WADA als "Schoßhündchen"
Bereits infolge der ersten Recherchen, schon vor Bekanntwerden der zwei neuen Verdachtsfälle, ist ein Machtkampf im internationalen Anti-Doping-Kampf entbrannt. Die Kritikerinnen und Kritiker setzten die WADA und Präsident Witold Banka massiv unter Druck, allen voran die USADA und ihr Chef Travis Tygart. Er bemängelt schon seit Jahren Interessenkonflikte, forderte im Spiegel "eine Generalüberholung der WADA" und eine "komplett unabhängige, aus dem Sport herausgelöste Organisation". Vor wenigen Tagen bezeichnete er die WADA als "Schoßhündchen des Sports".
Zweifel am Anti-Doping-Kampf überschatten Spiele in Paris
Die USA haben außerdem vor zwei Jahren mit dem "Rodchenkov Act" den strafrechtlichen Rahmen geschaffen, auch über ihre Ländergrenzen hinaus gegen das Umfeld von Dopern vorgehen zu können, wenn US-Athletinnen und -Athleten benachteiligt werden. Namensgeber für das Gesetz ist der russische Whistleblower Grigory Rodchenkov, der das russische Staatsdoping-System auffliegen ließ.
Auf der anderen Seite steht die WADA, die um ihre Autorität fürchtet und den USA vorwirft, "sich über den Rest der Welt erheben" zu wollen (Präsident Banka). Die Verbündeten auf der WADA-Seite sind überschaubar, wobei genügend nationale Anti-Doping-Agenturen sie nach wie vor unterstützen.
Allerdings hat eine besonders gewichtige Institution energisch für die WADA Partei ergriffen: das IOC. Die Führung unter Präsident Thomas Bach baute bei der Vergabe der Olympischen Winterspiele 2034 an Salt Lake City (USA) sogar eine Drohkulisse auf: So verankerte das IOC im Vertrag eine einseitige Kündigungsklausel für den Fall, dass die USA die WADA nicht als höchste Autorität im Anti-Doping-Kampf anerkennen sollten.
Warum das IOC die WADA bedingungslos unterstützt
Dies führt zur Frage, wieso eigentlich das IOC, das einzig die Aufklärung zugunsten des sauberen Sports im Sinn haben müsste, sich so klar hinter ein Kontrollorgan stellt, dass der Kontrolle womöglich nicht ausreichend nachkommt.
Die WADA und das IOC sind auf dem Papier zwar getrennte Institutionen, doch es gibt Verflechtungen. So war die Gründung der WADA im Jahr 1999 das Ergebnis einer durch das IOC initiierten Welt-Anti-Doping-Konferenz, die WADA ist also eine Art Kind des IOC. Und immer wieder war es üblich, dass Sportfunktionäre der WADA auch IOC-Mitglied waren, etwa die ehemaligen WADA-Präsidenten Richard Pound (1999-2007) und Craig Reedie (2014-2019). Hinzu kommt, dass das IOC auch die Hälfte des WADA-Etats finanziert. Die andere Hälfte kommt von Regierungen der Mitgliedsländer und damit aus Steuergeldern.
Gemeinsam haben die WADA und das IOC auch, dass sie in ihren Bereichen auf ihre Stellung als höchste Autorität im Sportsystem sowie auf ihre Autonomie pochen und damit eine alte Frage beantworten: Wem gehört der Sport? In ihrer Organisation und Rechtsprechung wollen sich Kontinental- und Weltverbände des Sports traditionell von niemandem reinreden lassen, weder von Staaten noch von privatwirtschaftlichen Konkurrenten.
Gute Beziehungen zwischen IOC und China
Im konkreten Doping-Verdachtsfall China und der laut Kritik zu lockeren Handhabung der WADA geht der Blick zwangsläufig auch auf die Beziehung zwischen IOC-Präsident Bach und China. Bach und Chinas Staatspräsident Xi Xinping schätzen sich, das merkte man auch im Rahmen der Olympischen Spiele 2022 in Peking.
Xi bezeichnete Bach vor einiger Zeit mal als "guten Freund". Und schon 2017 sagte er: "Im Laufe der Jahre haben das IOC und Präsident Bach einen wichtigen Beitrag zur gesunden Entwicklung nicht nur der olympischen Bewegung, sondern auch der Entwicklung des Sports in China geleistet."