Olympia 2012
Das unvollkommene Erbe der Spiele von London

Die Olympischen Spiele 2012 in London sollten der lokalen Bevölkerung nutzen und den Schul- und Breitensport ankurbeln. So die Versprechungen der Verantwortlichen damals. Die Realität sieht zwölf Jahre später jedoch ganz anders aus.

Von Benjamin Bathke | 28.07.2024
Überblick über den Londoner Olympiapark mit dem Olympiastadion im Vordergrund.
Im Londoner Olympiapark stapelten sich früher alte Haushaltsgeräte. (IMAGO / Propaganda Photo / IMAGO / David Rawcliffe)
„Die zwei Wochen der Olympischen Spiele und die zwei Wochen der Paras haben London verwandelt. Die Menschen sprachen zum ersten Mal miteinander, und wir waren eine etwas glücklichere Nation. Wir hatten einfach einen großartigen Sommer in 2012.“ LINK Mark Robinson von der London Legacy Development Corporation, kurz LLDC, führt durch den Queen Elizabeth Olympic Park, den Haupt-Austragungsort der Olympischen Sommerspiele.
Das etwa Berliner Tiergarten-große Areal im Nordosten Londons ist das Herzstück der Neugestaltung der Gemeinde Stratford. Vor 20 Jahren war die Gegend noch eine Mischung aus Bahngelände, Sumpfland, Gaswerken, einigen Wohnhäusern, lebensmittelverarbeitenden Betrieben - und dem sogenannten Fridge Mountain. Hier stapelten sich meterhoch ausgediente, elektrische Küchen- und Haushaltsgeräte.

UK sollte "weltweit führende Sportnation" werden

Als London 2005 den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhielt, versprach das Organisationskomitee - Zitat - "die Wiederbelebung des Gebietes zum unmittelbaren Nutzen aller Bewohner". Außerdem gelobte die Regierung, das Vereinigte Königreich zu einer der "weltweit führenden Sportnationen " zu machen, in der eine Million mehr Erwachsene regelmäßig Sport treiben.
Ein Jahr vor den Spielen zog der Teenager James Kaguima mit seiner Mutter in eine der begehrten Sozialwohnungen in Stratford. Heute ist der 27-Jährige unter anderem Vorsitzender des Olympiapark-Jugendausschuss.

Anwohner haben von Investitionen profitiert

Viele Anwohner hätten von den Investitionen der Spiele, wie er selbst auch, profitiert, sagt Kaguima: "Die Möglichkeit, zu den Paralympics zu gehen und den Olympiapark zu Fuß zu erreichen, hat mein Leben definitiv verbessert. Nach den Spielen konnten wir im selben Becken schwimmen wie die olympischen AthletInnen, das ist ein tolles Gefühl. Die Spiele haben hier einen Dominoeffekt ausgelöst."
Das nationale Wassersportzentrum ist eines von fünf neu gebauten Sportanlagen, die noch heute auf dem Gelände des Olympiaparks stehen. Zusammengenommen hat deren Bau mehr als eine Milliarde Pfund gekostet, die aufwendigen Umbauten und die jährlichen Verluste nicht mit eingerechnet.
Spencer Harris forscht seit über 15 Jahren zu den Auswirkungen von Olympischen Spielen. Bei der Bewertung des sportlichen Erbes von London 2012 sieht der Wissenschaftler der University of Colorado am ehesten im Hochleistungssport und bei Großbritanniens Medaillenspiegel eine positive Wirkung: „Die Entscheidung, stark in die Entwicklung des Spitzensports zu investieren, wurde lange vor der Bewerbung für London 2012 getroffen. Daher ist das, was wir in London, Rio und Tokio in Bezug auf Podiumserfolge gesehen haben, weitgehend eine Folge dieser Finanzierung. Hat London 2012 der Sache einen zusätzlichen Schub gegeben? Wahrscheinlich. Aber ist das zehn Milliarden Pfund wert?“
Beim Parasport sieht Harris ähnliche Tendenzen: Zwar hätten die Paralympischen Spiele durch die zweiwöchige mediale Omnipräsenz von Rollstuhlbasketball, Goalball und Para-Leichtathletik positiv gewirkt; allerdings primär als Katalysator eines bereits vorher spürbaren Trends.

Keine positiven Auswirkungen auf Schul- und Breitensport

Durchweg negativ fällt dagegen die Bilanz des Sportpolitikforschers für den Schul- und Breitensport aus. Der Plan, die Nation insgesamt fitter zu machen, sei krachend gescheitert: "Unsere Daten zeigen, dass es nur sehr wenige positive Auswirkungen gab, was das sportliche Erbe angeht; eher gab es wahrscheinlich eine Reihe von negativen Auswirkungen."
Bei den unter Elfjährigen bleibt die Lustlosigkeit im Schulsport auf gleichem Niveau, bei den Elf- bis 16-Jährigen sank das Interesse sogar noch weiter. Und das, obwohl von 2008 bis 2015 1,1 Milliarden Pfund in verschiedene Programme investiert wurden.

Zahl der Vereinsmitglieder rückläufig

Noch schlechter sieht es beim Vereinssport aus. Die große Mehrheit der Verbände verzeichnet einen deutlichen Rückgang der Teilnahme- und Mitgliederzahlen. Und die Fettleibigkeitsrate in der Bevölkerung stieg entgegen der Hoffnungen zwischen 2012 und 2021 leicht an. Harris räumt allerdings ein, dass die Sportförderung in Großbritannien den Negativtrend im Schul- und Vereinssport zumindest verlangsamt haben könnte.
Außerdem ist London keine Ausnahme: Laut Harris eigener Studie hat keine der sieben Olympischen und Paralympischen Spiele von 1996 bis 2020 - mit Ausnahme von Peking - die Teilnahme am Sport langfristig erhöht.

Zu wenig Geld an der Basis angekommen

Dabei hätte eine richtig investierte Sportförderung durchaus einen Unterschied machen können. Von den insgesamt 2,7 Milliarden Pfund sei aber zu wenig an der Basis angekommen, glaubt Harris: "Anstatt in Institutionen und nationale Organisationen wie den Fußball- oder den Radsportverband zu investieren, wäre das Geld besser direkt an die Zivilgesellschaft und freiwillige Vereinigungen geflossen, die SportlerInnen direkt unterstützen können. Mein Rat an Paris wäre also, einen Weg zu finden, die Sportförderung an örtliche Initiativen zu geben."

Wohnungen zu teuer

Paris und London haben mit der Aufwertung sozial benachteiligter Wohnviertel gleiche Ziele, allerdings ist jetzt 12 Jahre nach den Sommerspielen in Großbritannien erkennbar: Der Anteil an Sozialwohnungen ist zu gering. Kommerzielle Interessen wurden über die Bedürfnisse der Anwohner gestellt.
Die meisten der gebauten Wohnungen auf dem Olympiagelände sind unerschwinglich für einen Großteil der Bevölkerung. Angesichts dessen haben die Worte von Rosanna Lawes von der London Legacy Development Corporation einen schalen Beigeschmack, wenn sie sagt, mit Sportereignissen und einem neuen Kultur- und Büroviertel käme der Olympiapark auch anderen Anwohnern zugute: "Seit 2014 haben im Park mehr als tausend Spitzensportveranstaltungen stattgefunden. Im Kulturviertel East Bank siedeln sich unter anderem die BBC, das Victoria & Albert Museum und zwei Universitäten an. Dadurch werden über 1,5 Milliarden Pfund nach London und in die lokale Wirtschaft zurückfließen. Langfristig werden rund um den Olympiapark etwa 125.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen."
Insgesamt ist das Vermächtnis der Spiele von London also bestenfalls unvollkommen. Trotzdem hat Londons Bürgermeister Sadiq Khan im April angekündigt, Olympia 2040 zurück nach London holen zu wollen.
Welche Versprechungen die Regierung das nächste Mal abgibt, um die Bevölkerung an ihre Seite zu bekommen - und was zukünftige Olympische Spiele angesichts der ernüchternden Erkenntnisse über die Kosten und das sportliche Erbe überhaupt liefern können -, bleibt weiter fraglich.