Jessica Sturmberg: Ysra, wie hart war für Sie die Entscheidung Syrien zu verlassen, als ich das Buch gelesen habe, hatte ich den Eindruck, dass sie und ihre Familie alles versucht haben, um in Syrien zu bleiben?
Yusra Mardini: Ja, es war wirklich hart, weil wir unser Land verlassen mussten wegen des Krieges. Das war keine Sache, die man einfach entscheidet. Wir mussten diese Entscheidung treffen, weil meine Schwester und ich ein neues Leben wollten. Wir wollten sicher sein und wir wollten eine Zukunft haben und nicht Gewalt und Krieg.
Sturmberg: Und diese Zukunft haben Sie nicht mehr in Ihrem Land gesehen?
Mardini: Nein, wegen des Krieges. Und auch weil, ich hatte ein Leben, Schule, das Schwimmen, aber ich hatte das Gefühl, dass das nirgendwo mehr hinführte und wir waren ständig in der Angst – was passiert als Nächstes? Ich weiß nicht, ob ich morgen noch leben werde oder tot bin. Damit konnte ich nicht leben. Auch zu wissen, das unser Haus zerstört war, wir mussten umziehen alle 6 Monate raus aus einer Wohnung in eine andere und wieder eine andere. Und das war nicht einfach.
Die schwere Entscheidung Syrien zu verlassen
Sturmberg: Der Moment, in dem Sie beschlossen zu gehen, war das der Moment, als Sie in der Schwimmhalle waren und eine Granate durch das Dach einschlug und im Wasser landete?
Mardini: Das war es nicht. Es gab eine Situation, in der wir auf dem Weg nach Hause waren und wir kamen nicht weiter, die Straßen waren gesperrt, alles war zerstört und es gab einen Panzer, der umdrehte und auf das Auto zusteuerte. Mein Vater rannte zurück so schnell er konnte und wir gingen dann zurück zur Wohnung meiner Oma. Dieses Erlebnis war so heftig und so schlimm, auch die Granate im Schwimmbad und auf dem Fußballplatz starben Menschen und dann an einem Tag, als ich auf dem Weg zum Auto war, da sind die Scheiben eines Hotels alle explodiert, das war ein Moment, den ich nie vergessen werde. Das war alles so schrecklich, und der Grund, warum wir dann geflohen sind.
Sturmberg: Welche Rolle hat das Schwimmen, generell der Sport für Sie und ihre Familie gespielt, bei der Flucht, beim Verlassen des Landes und in Deutschland bei der Integration?
Die Rolle des Schwimmsports
Mardini: Es hat eine sehr große Rolle in meinem Leben gespielt seit ich jung war und auch jetzt nimmt es einen großen Teil ein. Es ist auch deswegen so wichtig, weil vielleicht wäre ich jetzt nicht mehr am Leben. Auf dem Wasser im Mittelmeer, diese dreieinhalb Stunden im Meer und als ich nach Deutschland kam, wurde ich direkt in einen Schwimmverein aufgenommen. Ich habe sofort neue Freunde beim Schwimmen gewonnen. So etwas wie meine zweite Familie. Es hat mir auch einen ganz anderen, viel schnelleren Zugang zu den Menschen hier ermöglicht. Schwimmen spielt eine große Rolle in meinem Leben, es hat mein Leben verbessert, es hat es gerettet.
Sturmberg: Und das geht noch weiter, Sie waren bei den Olympischen Spielen in Brasilien im Flüchtlingsteam, es wird in Tokio wieder eines geben, was ist ihr nächstes sportliches Ziel?
Mardini: Mein nächstes Ziel ist die Qualifikation für Tokio 2020. Ich arbeite seit zwei Jahren daran, seit den letzten Spielen. Es sind noch zwei Jahre, wir hoffen, dass ich mich qualifizieren kann.
Sturmberg: Wenn es das Flüchtlingsteam nicht gäbe, für welches Land würden Sie dann starten?
Mardini: Bei den letzten Spielen habe ich Millionen repräsentiert, das hat mir eine Menge bedeutet. Es war nicht nur mein Land, ich habe viele Länder repräsentiert. Und ich habe die Olympische Fahne repräsentiert. Aber ganz egal, für welches Land ich starte oder im Flüchtlingsteam, ich werde mich geehrt fühlen, wieder Millionen Flüchtlinge aus Syrien zu repräsentieren und auch Deutschland, das uns so freundlich aufgenommen hat. Diese drei sind alle irgendwie mein Land. Es würde mir viel bedeuten im Namen dieser drei anzutreten.
Sturmberg: Wäre es für Sie vorstellbar allein für Syrien anzutreten?
Mardini: Es ist hart war die politische Seite angeht. Ich weiß nicht mal, ob ich es überhaupt könnte um ehrlich zu sein. Ich weiß es nicht. Aber es wäre dennoch eine Ehre mein Land zu repräsentieren.
Sturmberg: Vom Wettbewerbsgedanken her, was glauben Sie wäre realistisch, was Sie erreichen könnten? Ist allein das Dabeisein das Ziel oder haben Sie auch höhere Ambitionen?
Mardini: Das Ziel ist schon mehr. Aber wenn ich mein gegenwärtiges Level zugrunde lege, kann ich nicht sagen, ich könnte eine Medaille in Tokio 2020 gewinnen. Um realistisch zu sein, ich arbeite daran, besser zu werden und meine persönliche Bestzeit zu steigern. Ich arbeite so hart wie ich kann, aber ich kann nicht sagen, was in zwei Jahren sein wird. Aber wir arbeiten daran gute Resultate zu erzielen und wir werden sehen wie es in Tokio sein wird. Das Ziel ist besser zu werden und zu sehen wie weit ich es bringen kann.
Die Kombination aus Sport- und Fluchtgeschichte
Sturmberg: Ihre Geschichte ist eine Fluchtgeschichte und eine Sportgeschichte, eine Kombination aus beidem. Nur sehr wenige Menschen haben die Chance, dass ihre Geschichte so endet wie ihre, fast wie ein Märchen. Sie haben den Papst getroffen Barack Obama, Sie waren bei den Olympischen Spielen. Sie sind inzwischen in der ganzen Welt bekannt. Als was fühlen Sie sich? Noch als Flüchtling und was können Sie für die anderen tun?
Mardini: Es ist wie Sie sagen, wie ein Märchen und ich fühle mich so glücklich, ich bin so dankbar für alles, was passiert ist. Als wir auf der Flucht waren, hätte ich nie geglaubt, dass ich so weit kommen würde. Was ich sagen will: ich stehe für viele Menschen. Ein großer Teil von mir steht für Flüchtlinge und dann habe ich realisiert, dass es nicht nur Flüchtlinge sind, die ich verkörpere, ich verkörpere auch viele Teenager in der ganzen Welt, Frauen, Mädchen, die Träume haben. Es sind nicht nur Flüchtlinge, sondern Menschen, die alles tun um ihre Träume wahr zu machen. Auch wenn ich ein Flüchtling bin, schauen viele Menschen auch ohne Fluchterfahrung zu mir und beobachten, was ich mache. Ich sehe es als meine Aufgabe, sie zu vertreten, sie zu anzuspornen, ihr Bestes zu geben, sie zu motivieren, zu inspirieren. Dass sie Gutes tun in ihrem Leben. Manche brauchen diese Orientierung, jemand, der ihnen sagt, dass sie das können. Das ist, was ich versuche zu tun.
Und den Flüchtlinge versuche ich zu vermitteln: es ist ein neues Leben, das ist hart, aber sie sollten nicht Halt machen an diesem Punkt. Sie können ihr Leben neu aufbauen, sie können wieder Träume haben und eine Zukunft. Und das versuche ich zu tun.
Die Rolle als UN-Sonderbotschafterin für Flüchtlinge
Sturmberg: Wie einfach lässt sich diese Mission mit dem professionellen Training kombinieren, die vielen offiziellen Termine nehmen ja viel Zeit in Anspruch?
Mardini: Ich muss manches Mal das Training ausfallen lassen um Reden zu halten, um bei Veranstaltungen dabei zu sein, die wichtig sind. Um ehrlich zu sein, ist das sehr, sehr hart, weil Leistungsschwimmer eigentlich jeden Tag im Becken sein müssen, zwei Trainingseinheiten am Tag und es ist sehr wichtig für mich als Athletin, dass ich da im Rhythmus bleibe, auch beim Fitnesstraining. Und manchmal muss ich eben raus und wichtige Termine wahrnehmen. Ich war z.B. vor kurzem eine Woche in London und da war es wichtig für mich, dass ich dort ein Schwimmbecken hatte, in dem ich trainieren kann. Wenn ich beispielsweise in meiner Rolle als UN-Sonderbotschafterin für Flüchtlinge des Flüchtlingshilfswerks UNHCR unterwegs bin, dann wissen die, dass ich ein Schwimmbecken brauche, in dem ich trainieren kann. Damit ich dann den jeweiligen Termin mit dem Training kombinieren kann. Ich mache meine Arbeit, gehe dann zurück ins Hotel und absolviere mein Training. Das ist schon hart und manchmal kann ich auch einfach nicht mehr. Aber dann erinnere ich mich wieder an mein Ziel, meine Träume und führe mir auch vor Augen, dass ich Vorbild bin für viele Menschen und das treibt mich dann an weiterzumachen. Es ist schon hart, aber das ist eben jetzt mein Leben.
Sturmberg: Ihr Leben wird gerade verfilmt. Wie ist das für Sie, wenn Ihre Geschichte eine so große Aufmerksamkeit bekommt und viele Menschen das dann im Kino sehen können?
Mardini: Ich finde es total verrückt, dass ein Film über mein Leben produziert wird. Ich bin natürlich superstolz und ganz gespannt wie der Film aussehen wird. Und ich vertraue den Menschen, die an dem Film arbeiten. Wir haben die Geschichte ja schon erzählt, sie ist also an sich bekannt. Ich kann jetzt nur auf das Ergebnis warten, was dabei herauskommt.
Sturmberg: Wofür wollen Sie Ihre Bekanntheit, Ihre Popularität nutzen? Wenn Sie Reden halten und als UNHCR-Sonderbotschafterin auftreten, was wollen Sie genau erreichen?
Den eigenen Bekanntheitsgrad nutzen
Mardini: Was ich daraus machen will, ist Flüchtlingen beim Aufbau eines neuen Lebens zu helfen, so gut ich kann. Ich will den vielen Menschen zeigen: Nur weil ich ein Flüchtling bin, heißt das nicht, dass ich ein Niemand bin. Und dass ich, weil ich ein Flüchtling bin, das nicht heißt, dass ich nicht gebildet bin. Oder dass ich kein Zuhause hatte oder keine Ahnung von Technik. Mir geht es darum, das Bild zu korrigieren, das viele Menschen von Flüchtlingen haben. Es dominieren die traurigen Geschichten über unsere Leben, was passiert ist. Aber nein, ich will zeigen, dass es auch eine gute Seite der Geschichte gibt. Dass wir auch nach der Flucht weiter leben und Träume haben, und etwas erreichen. Das ist das eine. Das andere ist, dass ich an Projekten für und mit Flüchtlingen arbeiten will. Ich habe dafür sehr gute Partner, viele unterstützen mich und mein Team und UNHCR hilft mir auch sehr dabei. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit bis ich eigene Projekte starten werde. Meine Projekte für Flüchtlinge.
Die Situation mit Yusras Schwester
Sturmberg: In Ihrem Buch beschreiben Sie sehr ausführlich das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrer Schwester. Sie beschreiben sich da selber als eher schüchtern, Ihre Schwester Sara dagegen als eher offen, jemand, der auf die Leute zugeht –
Mardini: Ja sie ist eine Verrückte –
Sturmberg: Was denken Sie war Ihr Gedanke, dass sie zurückgegangen ist nach Griechenland um Flüchtlingen zu helfen und dabei ein vorerst sicheres Leben hier in Deutschland aufgegeben hat?
Mardini: Meine Schwester, so wie ich sie mein Leben lang kenne, hat ein großes Herz, Sie ist der Typ, der seine eigene komfortable Situation aufgibt, um Menschen zu helfen. Worauf ich superstolz bin. Sie hat ihr Studium unterbrochen, um nach Lesbos zurückzukehren und anderen Flüchtlingen zu helfen. Sie hat mir mal gesagt, dass das Lächeln eines Kindes sie glücklicher machen kann als aller Besitz dieser Welt. Ich bin wirklich stolz darauf, was sie tut. Sie hat da unten geholfen, ist bei den Flüchtlingen, übersetzt vom Arabischen ins Englische und umgekehrt. Sie hat mir oft erzählt, dass sie mal wieder nur 4 oder 5 Stunden geschlafen hat. Sie will einfach andere Menschen unterstützen. Sie will, dass sie auch ein besseres Leben haben. Anderen zu helfen ist das Mindeste, was wir tun können. Ich bin sehr stolz auf sie und werde immer an ihrer Seite sein und sie unterstützen, egal was kommt.
Sturmberg: Und wie fühlen Sie sich, dass Sie gerade im Gefängnis sitzt, vor dem Hintergrund, was Sie gerade über Arbeit beschrieben haben?
Mardini: Ich bin sehr traurig darüber. Aber ich denke immer positiv. Sie ist im Gefängnis für eine gute Sache. Sie ist dort, weil sie Menschen hilft. Ich haben hundertprozentiges Vertrauen in meine Schwester und weiß, dass sie unschuldig ist. Wir tun alles um ihr zu helfen. Es ist so traurig, dass viele Freiwillige ihre Städte, ihre Familien, ihre Jobs zurückgelassen haben um zu helfen und sie enden dann im Gefängnis. Aber ich vertraue meiner Schwester und bin stolz auf sie, egal, was passiert und werde immer an ihrer Seite sein.
Sturmberg: Das ist für Sie bestimmt sehr emotional, weil sie so eng miteinander verbunden sind. In Ihrem Buch beschreiben sie im Kapitel über die Zeit vor dem Krieg in Syrien, dass sie sich da eher aus dem Weg gegangen sind, aber dann kam dieses gemeinsame Fluchterlebnis, die dreieinhalb Stunden im Wasser, die so ein entscheidend waren in ihrem Leben. War das der Moment, der vieles verändert hat?
Mardini: Sie meinen, zwischen meiner Schwester und mir, wie wir näher zusammengekommen sind?
Sturmberg: Ja –
Mardini: Das war schon in Syrien so, da hatten wir auch schon ein enges Verhältnis. Sie war für mich da, wenn ich sie brauchte und ich für sie, das war schon immer so in unserem Leben. Aber dann hat unsere Flucht uns so viel mehr zusammengeschweißt. Weil ich war vorher der Teenager, der nicht mehr die ganze Zeit mit der Schwester verbringen wollte. Ich wollte dann auch mal mein eigenes Leben haben, eigene Freunde und das alles. Aber dann nach der Flucht und nach all dem, was wir dabei erlebt haben, ist mir klar geworden, was für eine tolle Schwester ich habe, dass sie mich immer beschützen wird, und sie hat immer meine Unterstützung und mir ist auch klar geworden, wie wichtig mir meine Schwester im Leben ist und es gab diese Situation auf dem Boot. Ich wollte rausspringen, und sie schrie, nein, Du bleibst auf dem Boot und ich sagte, nein ich bin Schwimmerin, ich will ins Wasser und helfen, dass das Boot nicht untergeht. Sie sagte, nein, ich habe Angst, dass Dir was passiert und ich meinte zu ihr, ja, aber Du bist auch im Wasser!
Sturmberg: Denken Sie oft an diese dreieinhalb Stunden im Wasser? Und was passiert wäre, wenn der Motor nicht wieder angesprungen wäre?
Dreieinhalbstunden im Mittelmeer
Mardini: Ich habe keine Ahnung. Ich hätte schwimmen können. Und wir wären nicht so erschöpft gewesen wie andere, weil wir Leistungsschwimmer sind. Ich kann viel machen, weil ich weiß wie ich mich im Wasser bewegen muss. Aber wir haben auch an die anderen gedacht. Sie haben uns angebettelt, bitte helft uns, wenn wir untergehen. Wenn das Boot sinkt, dann bleib bitte bei mir. Viele konnten nicht schwimmen und sie sind panisch geworden und ich habe auch Panik bekommen. Ich wusste zwar, dass ich überleben kann irgendwie. Eigentlich. Aber ich hatte trotzdem Todesangst, weil Du nicht weißt, was auf hoher See passieren kann. Selbst wenn wir Schwimmer sind, es kann passieren, dass Dich jemand runterdrückt, oder das man am Kopf getroffen wird, mit dem Boot zusammenprallt. Diese dreieinhalb Stunden waren so heftig, es gab nichts, an das ich nicht gedacht hätte, mein ganzes Leben schwamm da auf dem Meer, und ich habe mich immer wieder gefragt, werde ich am Ende sterben? Oder schaffe ich es an die Küste?
Sturmberg: Fühlten sich diese dreieinhalb Stunden an wie eine Ewigkeit, wie zehn Stunden?
Mardini: Ja es war so lang. Wir haben zwar die ganze Zeit die Lichter an der Küste gesehen, in der Ferne, aber hätten sie nie erreichen können. Es war nicht nur das Gefühl wir könnten hier ertrinken, sondern die Insel zu sehen, aber sie nicht erreichen zu können, das war eine ganz andere Stufe von Folter. Ich werde niemals vergessen, was an diesem Tag passiert ist, das Salz, das Wasser war so kalt, es war so windig. Und auch die Schlepper, die hat das nicht interessiert, ob wir überleben oder nicht. Sie haben einfach nur unser Geld genommen, auf das Boot gepackt und ja – go! Das ist so herzzerreißend, was da passiert mit den Flüchtlingen und am Ende hier anzukommen, und alle denken, wir sind gerettet und alles ist jetzt gut und dann kommt auf einmal das Problem, dass sie vielleicht nicht willkommen sind und sie müssen schon wieder kämpfen, nachdem, was sie bis dahin schon alles erlebt haben.
Sturmberg: Ihre Mutter, Ihre kleine Schwester und Ihr Vater sind mittlerweile alle in Deutschland, hat jetzt für Sie ein zweites Leben begonnen?
Mardini: Ja ich denke ja, meine kleine Schwester spricht inzwischen deutsch, viel besser als ich. Mein Vater und meine Mutter lernen inzwischen auch Deutsch und sie bauen ihr Leben neu auf. Und ich habe das Wichtigste, meine ganze Familie ist hier. So ich kann mich wirklich glücklich schätzen
Sturmberg: Es gibt in Deutschland eine Entwicklung, die viele beunruhigt, die rechtsextremen Vorfälle, die Tendenz ist eher Grenzen zu schließen als noch weitere Flüchtlinge ins Land zu lassen bzw. Ihnen in den gefährlichen Fluchtsituationen z.B. auf dem Meer zu helfen. Können Sie mit Ihrer Geschichte und der Erzählung, welche Menschen da auch auf der Flucht sind zu mehr Verständnis beitragen oder welche Rolle, welches Selbstverständnis haben Sie?
Den Blick auf Flüchtlinge ändern
Mardini: Das ist, was ich tue. Den Blick auf Flüchtlinge zu ändern. Ich sage dabei nicht, wir sind alle hundertprozentig gute Menschen. Wir sind auch ganz normale Menschen, da gibt es gute Menschen, schlechte Menschen. Wohin man immer geht, egal welches Land, gibt es die Freundlichen und die, die sich nicht öffnen wollen. Das ist eben normal. Ich sage nicht, Ihr müsst mit ihnen leben und wir müssen auch nicht alle Freunde werden. Ich sage nur, wir sollten versuchen gegenseitig offen zu sein, offen dafür zu schauen, ob da gute Menschen sind oder nicht. Man weiß doch nicht, ob da gute oder schlechte Menschen sind, wenn man die Türen schließt, im Haus sitzt und nur Nachrichten schaut. So ist doch nicht möglich, irgendwas herauszufinden, wenn man eben nicht mit den Menschen spricht und Sie nach ihren Geschichten und Hintergründen fragt. Bevor man sich ein Urteil bildet. Ich verstehe auch Menschen, die die Türen nicht aufmachen wollen. Da kommen neue Kulturen, Menschen mit ganz anderen Hintergründen, die einfach eine Weile brauchen um hier anzukommen.
Aus meiner Sicht müssen diese Menschen es einfach versuchen. Ich bin vollkommen dafür, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, weil es so traurig ist mit anzusehen, wie Menschen in Zelten schlafen müssen, wenn es schneit und viele Menschen haben nicht genug zu essen, Kinder können nicht zur Schule gehen. Das ist so traurig. Und wenn ich an sie denke, dann sehe ich es so, als wären es Familienmitglieder und frage mich, würde ich wollen, dass einer aus meiner Familie oder überhaupt meine Familie so leben muss? Natürlich nicht. Wie kann ich dann damit einverstanden sein, dass andere so leben müssen? Es ist wirklich hart darüber nachzudenken. So viele Kinder, die keine Schulbildung bekommen, keine medizinische Versorgung. Wir müssen helfen, wenn wir das können.
Sturmberg: Die Frage ist, wie viele schaffen es überhaupt bis zu diesem Punkt?
Mardini: Bis heute kann nicht so tief ins Meer gehen, weil ich immer daran denken muss, wie viele Menschen sind da gestorben? Und wie viele Stunden haben Sie gegen das Ertrinken angekämpft? Es bricht mir das Herz allein daran zu denken.
Sturmberg: Zu Beginn des Buches beschreiben Sie das Verhältnis zu Ihrem Vater, was für ein überaus harter Trainer er war. Wie er Ihre Schwester Sarah dazu nötigte trotz kaputter Schulter zu trainieren, da dachte ich geht das nicht zu weit? Wie ist das für Sie? Sind Sie ihm dafür dankbar, weil es Ihnen möglicherweise auf dem Meer das Leben gerettet hat? Auch wenn es überhart war?´
Mardini: Am Anfang habe ich überhaupt nicht verstanden, warum er so hart ist und ich habe mich gefragt warum ich dies nicht darf und warum das nicht. Ich muss immer so viel schwimmen. Aber später habe ich verstanden, das war das Beste was mir in meinem Leben passieren konnte. Wenn mein Vater nicht so hart gewesen wäre wie er war, ich weiß nicht, ob meine Schwester und ich die Flucht überlebt hätten. Daher bin ich jetzt dankbar, dass er so hart ist. Er hat uns viel beigebracht und er hat uns auch beigebracht alleine wieder auf die Füße zu kommen.
Sturmberg: Das nächste Ziel ist jetzt Tokio, und was möchten Sie danach machen, also was ist ihr langfristige Perspektive nach Tokio, wenn Sie die Qualifikation schaffen?
Mardini: Das ist ein bisschen tricky, ich habe eine Menge Ideen in meinem Kopf, habe mich aber noch nicht entschieden, was ich genau machen will. Es sind ja jetzt erst einmal noch zwei Jahre bis zu den Spielen, aber ich würde gerne schreiben. Vielleicht schreibe ich ein weiteres Buch, ich weiß es nicht, aber ich würde es dieses Mal alleine schreiben. Oder ich kann mir auch Schauspielerei vorstellen, aber ich weiß natürlich nicht, ob ich das machen kann und ich werde natürlich 100, 100 Prozent irgendwas mit Schwimmen machen, auch wenn ich das dann nicht mehr als Leistungssport mache. Und ich mache mir auch viele Gedanken über Projekte für Flüchtlinge. Also ich bin mir sicher, ich werde weiterhin schwimmen und Flüchtlingen helfen und bei allem anderen bin ich mir noch nicht sicher, aber es gibt jede Menge Ideen, über die ich nachdenke.
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