Am 9. Juni fährt Anna Paula Cotta zum Büro ihres Vaters im Norden von Rio de Janeiro. Erst wenige Tage zuvor ist die Sportschützin aus Deutschland zurückgekommen. In München war sie Ende Mai beim Weltcup des Internationalen Schießsportverbandes angetreten. An diesem Morgen wird die 27jährige in ihrem Auto von Banditen mit einer Waffe gestoppt. Anna gibt Gas. Die Kriminellen eröffnen das Feuer. Mindestens sechs Schüsse durchschlagen die Wagenverkleidung. Eine Kugel trifft Anna am Kopf. Ihre Mutter Jussara sagt:
"Als die Kugel durch die Auto-Karosserie drang ist das Geschoss wohl abgebremst worden. Der Arzt sagt, Anna muss den Kopf in diesem Moment weggedreht haben, sodass die Kugel abgelenkt wurde und nicht in den Kopf eindrang, aber auf der Stirn eine schwere Verletzung hinterließ."
Eine Notoperation rettet Anna Cotta das Leben
In einer Notoperation öffneten Ärzte Annas Schädel, um Knochensplitter zu entfernen und retteten so ihr Leben. "Der Schnitt beginnt hier am rechten Ohr", zeigt Mutter Jussara am eigenen Haupt, "und geht über den Kopf fast bis zum linken. Und, sie hat hier auf der Stirn eine Prothese. Aber sie ist bei Bewusstsein, Gott sei Dank!"
Über den Überfall hat Anna aber selbst mit ihrer Familie bisher kein Wort geredet. Mutter Jussara will ihr Zeit geben, das Erlebte zu verarbeiten. Es war schon der zweite bewaffnete Überfall in Rio de Janeiro in zwei Jahren.
"Das ist die Hölle hier!"
Schimpft Anna Paulas Mutter Jussara. "Was für ein Scheiß-Land! Entschuldigen Sie den Ausdruck! Das macht mich so wütend! Es gibt hier keine Sicherheit, kein bisschen!"
Am 30. Juni 2016 gab das Institut für öffentliche Sicherheit die aktuellen Zahlen für Rio de Janeiro bekannt: Demnach starben im Mai durch Mord, Überfall mit Todesfolge und Polizeieinsätze 472 Menschen. Die Zahl der gemeldeten Straßenüberfälle stieg auf fast 10.000. Und eine Bloggerin in Rio zählte in diesem Jahr bis zum 28. Juni 566 Schießereien. Beobachter wie der Soziologe Ignacio Cano sind sich unschlüssig, warum gerade jetzt eine Welle der Gewalt über Rio de Janeiro rollt.
"Es gibt keinen linearen Zusammenhang aus Ökonomie und Gewaltanstieg. Aber der generelle Kontext der ökonomischen Krise, einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit, unbezahlter Beamter und Polizisten beeinflussen die Sicherheitslage wirklich sehr negativ."
Polizei ohne Toilettenpapier
Rio de Janeiros Finanzen sind kollabiert. Am 17. Juni rief der Gouverneur den Notstand aus. Der Staat kann seine Gehälter nicht mehr bezahlen. Anfang der Woche demonstrierten Beamte der Kriminalpolizei und drohten während der Olympischen Spiele zu streiken. Auf Dienststellen gebe es nicht einmal mehr Toilettenpapier und der Lohn von anderthalb Monaten stehe aus, so Leandro Antiles, leitender Kriminalbeamter einer Dienststelle im Zentrum von Rio.
"Wir haben kein Papier für den Drucker, keine Patronen, kein Benzin für die Fahrzeuge. Wie sollen wir so arbeiten? Dass die Kriminalität sich erhöht, ist die logische Konsequenz."
Am 30. Juni gab der brasilianische Bund umgerechnet 800 Millionen Euro Soforthilfe frei. Sie sind zweckgebunden, um die Sicherheit der Olympischen Spiele zu garantieren. Mit dem Geld nun zuerst die ausstehenden Gehälter bezahlt werden. Das Gewaltproblem löse das jedoch nicht, sagt Journalist Vitor Abdala, bei der brasilianischen Presseagentur spezialisiert auf öffentliche Sicherheit.
"Die Polizei hat in den letzten Jahren wegen WM und Olympia Millionen an Investitionen bekommen. Aber ich habe keine Verbesserungen gesehen, selbst als das Geld da war. Sie sind einfach wenig effizient, sowohl die Straßen- als auch die Kriminalpolizei."
Polizisten töten oft und werden oft getötet
Als Beispiel nennt er die Befreiung des Drogenbosses "Fat Family" aus einem Krankenhaus im Zentrum von Rio am 19. Juni mit einem unschuldigen Todesopfer. Seitdem durchsuchen tausende Militärpolizisten die Armenviertel von Rio de Janeiro nach dem Verbrecher. Bis Ende Juni wurden dabei mindestens zehn weitere Menschen erschossen. Journalist Abdala:
"Normalerweise sterben nicht Banditen, sondern Unschuldige. Die Polizei drückt der Person eine Pistole in die Hand und sagt: es war ein Krimineller. So löst sie natürlich keine Probleme. In Wirklichkeit wissen sie nicht, wo sie suchen sollen. Also rücken sie mit Panzerwagen und Maschinenpistolen in eine Favela ein und töten einige Personen. Das beruhigt Presse und Bevölkerung. Aber das provoziert nur noch mehr Gewalt, noch mehr Tote."
Laut Institut für öffentliche Sicherheit starben allein im Mai 84 Menschen durch Polizeieinsätze, 2015 waren es laut Amnesty International etwa 600. Gleichzeitig starben 2016 bisher 54 Polizisten. Und es wird noch ein bisschen komplizierter, sagt Journalist Abdala.
"Rio hat ein sehr einzigartiges Problem. Das ist die Besetzung der etwa 1000 Armenviertel durch verschiedene bewaffnete Bandenfraktionen, die wie Milizen das Territorium kontrollieren und von dort aus ihre Drogen verkaufen."
Krieg der Drogenkartelle
Das heißt: drei große Verbrecherkartelle bekriegen sich gegenseitig – und das auch in der Nähe von Olympia-Wettkampfstätten. Wenige Kilometer von Deodoro, wo unter anderem die Reitsport-Wettbewerbe ausgetragen werden, herrscht ein Krieg um die Herrschaft von vier Hügeln. Im Mai starben dabei neun Menschen.
"Öffentliche Sicherheit ist ein schwieriges Thema hier", sagt Vitor Abdala. Weil es keine schnelle Lösung dafür gibt, schickt Brasilien zu Olympia 85.000 Sicherheitskräfte auf die Straße: Nationalgarde, Polizei, Armee. Konflikte sollen durch die pure Masse an Einsatzkräften erstickt werden. Durch die Methode erwarten weder Journalist Abdala noch Soziologe Cano während der Spiele größere Probleme.
"Aber was passiert danach?", fragt Cano. "Wenn wir international nicht mehr so sichtbar sind und die brasilianische Bundesregierung uns nicht mehr finanziell unterstützt? Dann kann es sehr kritisch werden."