Stramme Nazis zuckten zusammen, wenn sie im Sommer 1936 durch die Berliner Kampstraße gingen. Denn im dortigen Delphi-Palast gastierte das Orchester von Teddy Stauffer, dessen Goody Goody unfreiwillig zu einer Begleitmusik der Olympischen Spiele wurde. Berliner und internationale Gäste drängten auf die Tanzfläche, schreibt Oliver Hilmes.
"Der Delphi-Palast ist eigentlich ständig ausgebucht. Wenn die Band nachmittags im Vorgarten auftritt, bilden sich Menschentrauben auf den umliegenden Straßen. Abends müssen regelmäßig Hunderte Besucher abgewiesen werden. Auf den Sound der Teddies scheint Berlin nur gewartet zu haben."
Berlin 1936 – dieser Band ähnelt einem Tagebuch. Hilmes stellt reale Personen vor und schildert, wie sie die Olympiatage erlebten. Da ist etwa der US-Zeitungsreporter Tom Wolfe, der alles mit einer Mischung aus leiser Faszination und angewiderter Distanz beobachtet. Da ist die Weltrekordschwimmerin Elanor Holm Jarrett, die sich auf der Überfahrt von Amerika so danebenbenimmt, dass ihr Chef de Mission, Avery Brundage, die Skandalnudel kurzerhand aus der Olympiamannschaft wirft. Und da ist auch die amerikanische Touristin Carla De Vries, die im Stadion zur Ehrentribüne strebt und Adolf Hitler dort einen Kuss gibt. Eine der grotesken Episoden jener olympischen Tage. Offiziell verlautete davon natürlich nichts.
"Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler eröffnet die 11. Olympischen Spiele 1936 im Olympiastadion."
"Ich verkünde die Spiele von Berlin zur Feier der 11. Olympiade neuer Zeitrechnung als eröffnet!"
Die Spiele als perfekte Schau
Joseph Goebbels hat diese Spiele zu einer perfekten Schau gemacht. Privat setzt er nun alles daran, mit seinem großen Fest auf der Pfaueninsel die Empfänge Hermann Görings und Joachim von Ribbentrops ein paar Tage zuvor in den Schatten zu stellen. Adolf Hitler wiederum steht etwas außerhalb der Handlung – unnahbar und doch allmächtig.
"Als er in der Arena eintrifft, wird die sogenannte Führerstandarte gehisst. Für William Dodd ist es eine beklemmende Erfahrung, dass über hunderttausend Menschen sich nun erheben und einer einzelnen Person salutieren."
William Dodd ist US-Botschafter in Deutschland. Sein polnischer Kollege Józef Lipski hat schon während der Eröffnungsfeier bemerkt: vor einem Volk, das so gut organisieren könne, müsse man auf der Hut sein. Denn eine Mobilmachung werde genauso reibungslos funktionieren. Keiner dieser Diplomaten ahnt etwas vom Schicksal des Maurermeisters Erich Arendt. Der hat kurz vor den Spielen in einer Kneipe lautstark über die Partei hergezogen. Jetzt sitzt er in Eberswalde im Gefängnis. Die Denunzianten und die Gestapo sind in der Olympiastadt allgegenwärtig. In einer Stadt, deren Provinzialität aufblitzt, wenn die Presse in Sonderrubriken zur internationalen Küche erklärt, wie man Makkaroni zubereitet – und dann doch wieder das Berliner Eisbein anpreist.
Um den Sport geht es natürlich auch in diesem Buch. Um den Star der Spiele, Jesse Owens, und seine Freundschaft mit dem deutschen Konkurrenten Luz Long. Um die jüdische Ausnahmeathletin Helene Mayer, die aus dem deutschen Fechtteam geworfen worden war und dann von den Nazis in einem perfiden Akt doch noch aufgestellt wurde, damit die USA die Spiele nicht boykottierten. Und auch um die deutsche 4x100-Meter-Staffel der Damen, vier sichere Gold-Kandidatinnen.
"... gibt jetzt am Ende der Geraden an die Dollinger ab, ein guter Wechsel! Die Dollinger schießt in der Kurve davon, hat sechs Meter, sieben Meter Vorsprung vor der Amerikanerin – jetzt gibt sie ab an die Dörffeldt – da geht die Dörffeldt los, und da verliert sie den Stab! Helen Stevens jagt an der Engländerin vorbei, unangefochten ein amerikanischer Sieg! Die Dörffeldt fasst sich an den Kopf. Sie hatte den Stab in der Hand, und dann ließ sie ihn fallen – und der sichere Sieg, die sichere Goldmedaille für Deutschland war dahin!"
Wie erging es den Protagonisten nach den Olympischen Spielen?
"Ein kleiner Junge im Publikum ist außer sich vor Freude. Noch Jahrzehnte später beschreibt Peter Fröhlich dieses Unglück als 'einen der großen Augenblicke in meinem Leben'."
Peter Fröhlich ist ein dreizehnjähriger Junge, der 1939 mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland fliehen muss – und der später als Peter Gay ein bekannter amerikanischer Historiker wird. Oliver Hilmes erzählt eben auch davon, was nach den Spielen aus seinen Protagonisten geworden ist. Der Läufer Luz Long fiel im Krieg als Soldat auf Sizilien. Otto Horcher, der Betreiber des erlesensten Berliner Restaurants, sah im Frühjahr 1943 seine Existenz gefährdet – auf Betreiben Joseph Goebbels'.
"Der Propagandaminister will nach der Schlacht von Stalingrad die verbliebenen Berliner Schlemmerlokale schließen lassen – womit er aber Maître Ottos Stammgast Hermann Göring gegen sich aufbringt. Es kommt zu einem regelrechten Kleinkrieg um das Restaurant in der Lutherstraße, in dessen Verlauf Goebbels sogar Hitler einschaltet. Als SA-Männer eines Nachts die Fensterscheiben einschmeißen, erkennt Otto Horcher die Zeichen der Zeit.
Göring stellt Horcher einen Sonderzug der Reichsbahn zur Verfügung – in den der Gastronom seinen gesamten Besitzstand verladen lässt. Es ist wirklich kaum zu glauben: Während die Welt im Krieg versinkt, kutschiert Otto Horcher sein Luxusrestaurant durch das brennende Europa. Mitte November 1943 feiert Horcher in Madrid die Wiedereröffnung. Bis heute in Familienbesitz, zählt das Restaurant zu den besten kulinarischen Adressen in der spanischen Hauptstadt."
Alternativ-Geschichte der Olympischen Spiele
Während am einstigen Sitz des Edelrestaurants in Berlin heute eine Dönerbude residiert. Aus solchen Kuriosa und aus ernsten Begebenheiten hat Oliver Hilmes eine Alternativ-Geschichte der Olympischen Spiele verfasst, ohne Effekthascherei, dabei äußerst kurzweilig und auch mit Sinn für Spannung: immer wieder gibt es Cliffhanger.
Die Art der Quellenverweise ist wohl eigenwillig; statt nummerierter Anmerkungen zitiert der Anhang in einer Liste jeweils die letzten Worte der betreffenden Textpassage, um dann die Quelle zu nennen. Vermutlich ein Zeugnis dessen, dass Lektoren heute fürchten, schon mit einer einzigen Fußnote Leser zu verschrecken. Aber man findet sich zurecht; und nur an ein, zwei Stellen springen Ungenauigkeiten ins Auge. Berlin 1936 ersetzt natürlich keine konventionelle Geschichte dieser Spiele; aber der Band liefert griffige Alltagshistorie aus der deutschen Diktatur – ebenso lebendig wie beklemmend.
Oliver Hilmes: "Berlin 1936. Sechzehn Tage im August"
Siedler Verlag, 303 S. 19,99 €
Siedler Verlag, 303 S. 19,99 €