Zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele war das Stadion bei der traditionellen Eröffnungsfeier leer. Aufgrund der Corona-Pandemie finden die Spiele in Tokio in diesem Jahr komplett ohne Zuschauer statt. Zudem sind auch nicht alle Athleten vor Ort. Deutschlands Handballer, das Dressur-Team und die Segler verzichten etwa auf eine Teilnahme. Für IOC-Präsident Thomas Bach ist die Feier dagegen ein "Moment der Freude und der Erleichterung". Ist eine solche Eröffnungsfeier - vor allem in Pandemie-Zeiten - noch zeitgemäß? Ein Pro und Contra.
Pro von Matthias Fiebe: "Die Olympische Kraft ist immer noch da"
Am 15. September 2000, kurz nach 23 Uhr Ortszeit entzündet Cathy Freeman das Olympische Feuer im Olympiastadion von Sydney. Noch heute, mehr als 20 Jahre danach, bekomme ich beim Anblick dieser Bilder eine Gänsehaut.
Ein Moment, in dem alles passte. Ein historischer Moment, der zeigt, welch enorme Kraft von der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele ausgeht. Symbolisch, emotional und sogar politisch. Es ist ein Abend, an dem nicht nur Menschen aus aller Welt zuschauen. Es ist eine Feier für die ganze Welt, die gerade ihren Reiz aus dem Pathos und der festen, quasi-liturgischen Struktur der Rituale zieht. Apropos Feier, im Grundgedanken finden diese Spiele nicht nur statt. Es ist offiziell die "Feier der Spiele der soundsovielten Olympiade".
Zuallererst für die Sportlerinnen und Sportler. Die ehrliche, fast kindliche Freude manch eines Sportlers, der fast schon Purzelbäume schlagend ins Stadion kommt ist ansteckend. Das alte, schon abgedroschene Motto "Dabei sein ist alles", entfaltet unter ihnen noch immer eine enorme Kraft, obwohl viele von ihnen auch laut und offen die IOC-Politik kritisieren.
Sie wissen um die Schattenseiten der Spiele, darum, dass viele die Eröffnung für IOC-Propaganda halten. Das Problem ist aber nicht die ritualisierte Feier, das Problem sind nicht die zugegeben triefend-pathetisch Hymne, die Fackel, die Ringe oder der Eid, das Problem ist das IOC.
Denn die olympische Kraft ist immer noch da, die Gedanken der gemeinsamen "Feier" der Spiele, des Olympischen Friedens und der Völkerverständigung sind aktueller denn je. Wenn das IOC sie nur besser nutzen und in Szene setzen würde.
Denn so häufig gehen die hehren Ziele unter in der Gier nach Geld und Gewinn. Eine weise Entscheidung haben die olympischen Gründer aber getroffen: Das Staatsoberhaupt darf nur eine karge, wortwörtlich festgeschriebene Eröffnungsformel sprechen, die nicht geändert werden darf. Danach folgt der Eid – und mit der Feuer-Entzündung ist dann wieder Zeit für Gänsehaut.
Contra von Marina Schweizer: "Feier soll Zuschauer ablenken"
Eine olympische Liturgie – so lässt sich am besten beschreiben, was die Olympischen Eröffnungsfeiern sind: Eine Aneinanderreihung von Ritualen, Symbolen und Musik, um eine quasi-religiöse Ergriffenheit zu erzeugen. Ein Event, das vor Selbstüberhöhung des Internationalen Olympischen Komitees strotzt.
Gegen eine unterhaltsame Feier, die dem Milliardenpublikum die Kultur des Gastgeberlandes nahebringt, wäre nichts einzuwenden. Japanische Künsterinnen und Künstler, japanische Musik, japanische Traditionen. Auch nichts gegen den Einmarsch derer, um die es bei solchen Spielen eigentlich geht: den Athletinnen und Athleten.
Vielleicht wäre es sogar schlau, dass der Staatchef des Gastgeberlandes eine Rede halten darf. Dann würde noch mehr auffallen, mit wem das IOC Deals macht. Und das IOC würde sich vielleicht zweimal überlegen, ob es diese Bühne an Diktatoren gibt. Stattdessen hält der IOC-Präsident eine Willkommensrede und wirft mit seinen Worten die IOC-Marketing- und Umdeutungs-Maschine an.
Bei der Eröffnungsfeier in Tokio wird es dann nicht mehr alleine darum gehen, dass jetzt ein globales Sportereignis losgeht. Dass Sportlerinnen und Sportler fair sein sollen. Und dass sich dafür alle alles Gute wünschen. Das wäre angemessen und würde völlig ausreichen.
Aber das genügt dem Eigentümer der Spiele nicht. Dass IOC will eine teure und exklusive Marke pflegen. Will weiter inszenierte Träume verkaufen, die mehr sein sollen als Sport. Deswegen bezeichnet das IOC die Spiele in Japan auch bei jeder Gelegenheit als "Leuchtfeuer der Hoffnung", das für eine friedlichere und bessere Zukunft steht. Als Licht am Ende des Tunnels der Pandemie. Und will damit vergessen machen, dass die Spiele in Japan IN der Pandemie durchgezogen werden. Die Eröffnungsfeier soll die Zuschauer davon ablenken, aber mit dem Wissen von heute kann ich dieses Zeremoniell nicht mehr unbeschwert wie früher als Kind ansehen. Die Inszenierung verfängt nicht mehr. Eine schlankere Feier ohne überzogene Rituale würde den Blick auf die Wirklichkeit freier machen.