Japser Barenberg: Herr Gebauer, leere Stadien, eine große Skepsis in der Bevölkerung in Japan, Corona-Fälle unter den Athletinnen und Athleten. Darf man sich auf die Spiele überhaupt freuen?
Gebauer: Ich glaube, es freut sich kaum jemand darauf, bis auf einige Athleten, die sich Goldmedaillen-Chancen ausrechnen. Ich glaube, es hat noch nie eine solche Situation gegeben, in der man die Olympischen Spiele so kühl und ablehnend empfangen hat.
Barenberg: Was für eine Situation ist das?
Gebauer: Das ist eine Situation, in der eigentlich der gesunde Menschenverstand und auch eine normale mitmenschliche Ethik verlangen würde, dass man die Spiele nicht stattfinden lassen würde. Statt sie um ein Jahr zu verschieben, hätte man vor einem halben Jahr sagen können, das wird nichts mehr, wir müssen darauf verzichten. Man verzichtet dann auf viel Geld, aber das muss man in solchen Situationen eigentlich auch tun.
Und auch Athleten müssen dann ihr individuelles Schicksal leider Gottes in diesem Fall nicht in Erfüllung gehen lassen. Aber ich glaube, Geld und die Ambitionen von Athleten sind sehr, sehr stark, und natürlich auch die Pressionen innerhalb der japanischen Gesellschaft von Seiten der regierenden Politikerkaste, das doch durchzuführen, es durchzudrücken und zu zeigen, wir schaffen es doch, ist einfach stärker als die Skepsis und die Ethik.
"Das sind die individuellen Ambitionen, die man auch ernst nehmen muss"
Barenberg: Der Frankfurter Tennisspieler Tim Pütz schreibt heute in der FAZ über die riesige Stimmung unter den insgesamt sechs Spielern, mit denen er zusammen im Olympischen Dorf auf 50 Quadratmetern untergebracht ist. "Wir sind bei Olympia mega cool", schreibt er, und das dürfte ja wahrscheinlich für viele Athletinnen und Athleten gelten.
Von den Handballern habe ich heute Ähnliches gelesen. Die freuen sich natürlich alle. Die sagen, gut, dass wir endlich da sind. Eine einmalige Chance für viele in ihrer langen sportlichen Karriere. Wieviel darf man dem Rechnung tragen? Wieviel muss das auch zählen dürfen?
Gebauer: Das muss auch zählen, wenn man weiß, wie sehr Athleten darauf sich vorbereiten. Die mussten ja im letzten Jahr schon auf ihre Chancen verzichten. Eine Vorbereitung Olympischer Spiele dauert mindestens drei Jahre, vielleicht noch viel länger. Die gezielte Vorbereitung bedeutet sehr viel Verzicht, sehr fokussiertes Leben. Das sind die individuellen Ambitionen, die man, finde ich, auch ernst nehmen muss.
Es sind 10.000 Sportler und Sportlerinnen dort und darunter die Weltbesten vor allen Dingen. Das kann man nicht einfach vom Tisch wischen. Aber die Frage ist, ob diese 10.000 Menschen, die dort sind, die gewinnen wollen, jedenfalls einige von ihnen, stärker zählen als alle anderen Bedenken.
Barenberg: Dazu zählt auch, dass wir die Situation haben, es wird Spiele geben vor leeren Rängen. Sind das überhaupt Olympische Spiele?
Gebauer: Das muss man ein bisschen sortieren. Viele olympische Sportarten sind Individualsportarten, die meisten von ihnen sogenannte Amateursportarten. Da wird ein bisschen Geld verdient, aber unerheblich. Es ist nicht alles wie beim Fußball. Der Fußball spielt ja sowieso gar keine Rolle bei Olympia. In dem Fall sind die Sportler gewohnt, auch vor wenigen Zuschauern ihre Performance abzuliefern.
Tim Pütz schreibt das ja auch in einigen Artikeln, die er vorher schon in der FAZ veröffentlicht hat, wo er gesagt hat, es kommt wie es kommt – als guter Kölner "et kütt wie et kütt" -, wir machen das, wir konzentrieren uns auf unseren Wettbewerb, auf den sind wir fokussiert, alles andere interessiert uns nicht. Deswegen ist die Stimmung auch gut, weil sie nun endlich in Olympia sind und ihre Leistungen abrufen wollen. Das kann man irgendwo auch verstehen.
Ich glaube, wenn ich Sportler wäre, würde ich ganz ähnlich reagieren. Aber alle anderen, die nicht die Sportler sind oder Angehörige derselben, denken etwas globaler und sind kühler mit dem Ganzen.
Was geschehen wird auf jeden Fall ist, dass es Spiele sein werden, die eine ganz starke Internet- und Fernsehpräsenz haben, die fast nur im Fernsehen und im Internet stattfinden werden. Das sind Spiele, bei denen die Zuschauer gar keine Rolle spielen, und man kann sich fragen, welche Rolle spielen normalerweise Zuschauer bei Olympischen Spielen.
Ich denke, das ist eine ganz erhebliche – nicht nur zahlenmäßig, sondern auch durch die Tatsache, dass die Wettbewerbe vor Menschen stattfinden, die das bewerten können, die beurteilen, die davon berichten können, so dass man das Gefühl hat, ja, diese Spiele haben tatsächlich stattgefunden und sie haben bei Menschen Resonanzen ausgelöst. Aber das wird in diesem Fall gar nicht möglich sein zu kontrollieren.
Barenberg: Es gibt auch genug Sportarten, wo die Athletinnen und Athleten gewohnt sind, dass es nie Zuschauer gibt, moderner Fünfkampf, sagen wir, oder Fechten in den Fechthallen. Die haben sich eigentlich auf viele Zuschauer gefreut und müssen jetzt ohne klarkommen.
Sie sind da eher unterm Strich an der Seite der SPD-Sportpolitikerin Dagmar Freitag, die sagt, zwei Herzen schlagen in meiner Brust, aber im Grunde genommen kann man eine Veranstaltung mit 100.000 Menschen aus fünf Kontinenten gerade in Japan "eigentlich" nicht verantworten.
Gebauer: Natürlich! Aber man muss mal ein bisschen wegkommen von der Undeutlichkeit einer solchen Position. Ich denke, man kann Athleten verstehen. Man kann auch die Veranstalter verstehen. Aber man kann trotzdem der Meinung sein, das ist nicht vernünftig, dass man das macht.
"Das hat das IOC in Gestalt von Thomas Bach versäumt"
Barenberg: Wann auf dem Weg hat das IOC falsch gehandelt? Da hat man sich ja die schöne Erzählung ausgedacht, das soll Licht am Ende des Tunnels sein. Das ist ja aus heutiger Sicht eine grobe Fehleinschätzung. Wann hätte man die Reißleine denn noch ziehen können?
Gebauer: Eigentlich im letzten Jahr, und zwar reichlich vor den Spielen. Das hat das IOC in Gestalt von Thomas Bach versäumt. Es war eigentlich klar, dass daraus nichts mehr werden könnte, und es wäre besser gewesen, man hätte im Frühjahr des letzten Jahres die Spiele abgesagt, angesichts der großen weltweiten Bedrohung, die ja nun auch noch nicht beendet ist.
Stattdessen wird so eine große Rhetorik wieder angeworfen, die man vom IOC kennt. Herr Bach neigt eigentlich nicht zu Pathos, aber immer, wenn er über Olympia spricht, wird er extrem pathetisch und redet vom Licht, aber nicht nur Licht am Ende des Tunnels, sondern überhaupt Licht über der Welt und Licht über der Zukunft und Frieden und so weiter. Das sind ja alles Dinge, die man eigentlich unter die Rubrik "sich was in die Tasche lügen" verbuchen muss.
Das ist ja weder in den vergangenen Spielen so gewesen, noch ist es jemals das Ziel der Olympischen Spiele, das wirkliche Ziel der Olympischen Spiele gewesen, Frieden zu bringen, Gesundheit zu bringen, Hoffnung zu geben und so weiter. Ich denke, das hat es nur zweimal gegeben in der olympischen Geschichte, dass so etwas Ähnliches mal eingetreten ist, aber ganz zaghaft. Das war der Wiederbeginn der Olympischen Spiele nach den beiden großen Weltkriegen, und da muss man sagen, da hat tatsächlich nicht das IOC, sondern die Sportler, die dann von den Kriegsfeldern zurückgekommen sind, die haben gesagt, jetzt wollen wir Sport machen, wir bauen zuhause alles wieder auf, wir denken an unsere toten Mitmenschen, die wir verloren haben, wir versuchen, wieder in ein normales Leben zurückzukommen. Das ist ihnen nicht gleich gelungen, das hat eine ganze Zeit gedauert, aber die Spiele haben da etwas Hoffnung gegeben. Das muss man sagen.
Ich denke insbesondere an die Olympischen Spiele in Antwerpen, gleich nach dem Ersten Weltkrieg, oder in Finnland, in Helsinki 1952, wo wirklich mal versucht wurde, die alten Gegner zusammenzubringen. Deutschland durfte da wieder mitmachen. Das war für Deutsche - ich war damals ein kleines Kind, aber ich kann mich gut daran erinnern - auch eine Hoffnung zu geben, dass man wieder aufgenommen wird in der Völkergemeinschaft.
Barenberg: Jetzt hält man wider besseres Wissen, so verstehe ich Sie, fest an den Spielen mit Blick auf die Ambitionen der Sportlerinnen und Sportler, haben Sie gesagt, und deren Interessen.
Gebauer: Und Geld natürlich!
"Spiele, die im Wesentlichen Fernsehcharakter haben"
Barenberg: Und Geld! Das wollte ich gerade fragen. Das ist für Sie der zweite große Grund. Die Olympischen Spiele sind eine einzige Profitmaschine inzwischen?
Gebauer: Das ist eine Profitmaschine, aber in dem Maße, wie diese Profitmaschine ausfällt, produziert sie natürlich Defizite, und zwar im großen Stil. Der Ausfall würde zig Milliarden Euro kosten oder Dollar kosten, die auch das IOC nicht mehr aufbringen kann, auch Japan nicht ohne weiteres aufbringen kann. Das ist ein schwerwiegender Verlust, weil sich die Olympischen Spiele in den letzten 30 Jahren zu einer solchen Geldmaschine entwickelt haben. Jetzt hat man die Quittung und sieht, wenn das mal ausfällt, dann gibt es riesenhafte Defizite.
Nun versucht man, denke ich, die ganzen Sachen zu retten übers Fernsehen, so dass wir im Grunde genommen dann Spiele haben, von denen wir gar nicht richtig wissen, ob sie stattfinden, weil ja gar keine Leute dabei sind, weil niemand davon wirklich berichten kann, wo immer der Verdacht in der Luft steht, dass das Ganze möglicherweise Science Fiction ist oder irgendwie ausgedacht oder in Studios produziert. Ich glaube, das ist ein bisschen der Weg, den der Sport jetzt einschlägt, dass man zu Studioproduktionen kommt. Um die Werbung zu garantieren, die ja enorm wichtig ist, lebenswichtig ist für den Sport, den olympischen Sport, macht man Spiele, die im Wesentlichen Fernsehcharakter haben, wenn man so will, Manga-Charakter oder Karaoke-Charakter.
Karaoke heißt ja stummes Orchester. Das heißt, in diesem Fall wird es eingespielt in die Stadien als Geräuschkulisse. In Wirklichkeit ist da aber niemand und die Zuschauer vorm Fernsehschirm können sich dann selber ihren Gesang dazu machen.
Barenberg: Gucken wir mal, wie das sich anfühlt und wie das ausgeht in den nächsten Wochen. Der IOC und Präsident Thomas Bach bekommen ja auch noch Unterstützung von unerwarteter Seite. Der Chef der Weltgesundheitsorganisation hat gerade am Mittwoch noch dem IOC attestiert, dass alles getan sei für sichere Spiele in Corona-Zeiten. Ist das im Moment noch die perfekte Rückendeckung? Wir hören jetzt jeden Tag die Meldungen, wie viele positive Tests es da gibt.
Gebauer: Ja! Es ist ja nicht ganz falsch. Die Japaner sind extrem vorsichtige Menschen und haben große Befürchtungen, dass auf ihre Insel Infektionen, Krankheiten und so weiter geschleppt werden. Das haben sie schon immer gehabt. Das kulminiert natürlich im Augenblick und die Fremden werden erst mal sehr misstrauisch beäugt. Man will die eigentlich gar nicht haben. Nun hat man einige davon und die werden unter engste Beobachtung gestellt. Das berichten ja auch die ersten Teilnehmer.
Beispielsweise jemand, der nicht verdächtigt ist, den olympischen Sport zu diskreditieren, Anno Hecker, der Sportchef der FAZ, schreibt davon, wie er vom Flughafen ins Hotel kommt, und das war eine lange, lange, lange Prozedur mit bestimmt zehn Tests und Wartezeiten und so weiter. Ich glaube, diejenigen, die da hinfahren, müssen sich einer langen Prozedur unterwerfen, und das schreibt ja auch Herr Pütz mit seinem Bericht über das kleine, 50 Quadratmeter große Appartement, in dem er mit seinen, ich glaube, acht Leuten wohnt. Das ist ihnen aber egal. Das ist ein bisschen Jugendherbergs-Stimmung bei ihnen, habe ich das Gefühl, und dann geht’s!
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