Olympia 2024
Wie es um die Versprechen zum "Olympischen Erbe" von Paris steht

Vollmundige Versprechen über ein positives "Olympisches Erbe" sind die Regel, wenn die Politik sich für eine Ausrichtung von Sommerspielen einsetzt. Auch Paris erhofft sich positive Effekte durch Olympia. Aber es gibt begründete Zweifel.

Von Julian Tilders |
    Blick in das Beachvolleyball-Stadion bei den Olympischen Spielen in Paris 2024.
    Bei den Olympischen Sommerspielen will Paris auch mit spektakulären Austragungsorten punkten, etwa dem Beachvolleyball-Stadion am Eiffelturm. (IMAGO / GEPA pictures / IMAGO / GEPA pictures / Matic Klansek)
    Wenn Politikerinnen und Politiker für die Ausrichtung Olympischer Spiele im eigenen Land werben, geben sie Versprechen ab. Und zwar Versprechen zu (vermeintlichen) positiven Effekten – dem Erbe der Olympischen Spiele, von dem der Austragungsort langfristig profitieren soll, in infrastruktureller, sozialer und ökologisch-nachhaltiger Hinsicht.
    Schon Ende 2014 hatte der damalige französische Präsident Francois Hollande "viele neue Jobs" versprochen. Die Spiele seien auch "für Paris als Hauptstadt (...) der Kultur" sehr wichtig. Mitte 2016, ein Jahr nach der offiziellen Bewerbung, bekräftigte er: "Die Spiele können einen großen Effekt auf Wirtschaft und Beschäftigung haben."

    Große Versprechungen von Politik und IOC

    Hollandes Nachfolger, Emmanuel Macron, versprach nach der Vergabe 2017 "Spiele für alle". Olympia habe einen sozialen und wirtschaftlichen Nutzen und könnte zu einer Umwandlung des Landes beitragen. Die Kosten für das Großsportevent betragen laut Rechnung des Organisationskomitees aus dem März 2024 insgesamt rund neun Milliarden Euro.
    Im bereits Ende 2020 vom Organisationsteam geschmiedeten Konzept ("Legacy and Sustainibilty Plan") heißt es außerdem, die Spiele würden "inklusiv, genügsam und nachhaltig" sein und für "mehr Gleichheit und Solidarität" stehen. Und das Internationale Olympische Komitee (IOC) schreibt sogar von einer Vision, "durch den Sport eine bessere Welt zu erschaffen".
    Vor Beginn der Sommerspiele (26. Juli bis 11. August) stellt sich nun die Frage, wie es um diese Versprechen und das voraussichtliche Erbe der Spiele in Frankreichs Hauptstadt steht.

    Die Seine: Prestigeprojekt mit beachtlichem Preisschild

    Ein dauerhaftes Erbe von Olympia soll eine saubere Seine sein. Der Fluss war lange als "Toilette von Paris" verschrien, fing große Teile des Abwassers auf. 1,4 Milliarden wurden deswegen in Kläranlagen, Auffangbecken und neue Kanalisation investiert, um den Bakteriengehalt im Wasser zu senken. Ein Prestigeprojekt von Präsident Macron. Und ein Projekt, dass die Lebensqualität der Menschen in der Ausrichterregion verbessern soll – so, wie im Plan für das Olympische Erbe vorgesehen.
    Es soll eine ökologische Verbesserung zum Anfassen, respektive Reinspringen, für die Pariserinnen und Pariser sein. Auf und in der Seine sind die Eröffnungsfeier sowie einige Schwimmwettbewerbe geplant. Ab 2025 soll planmäßig auch die Bevölkerung wieder im Fluss schwimmen dürfen.

    Neues Wassersportzentrum soll Schwimmbad für Pariser werden

    Der immense Bau- und Kostenaufwand für dieses ökologische olympische Erbe relativiert allerdings ein Argument, das Frankreich bei der Bewerbung vorangestellt hatte: Fast alle Sportstätten existierten schon, es müsse nicht mehr viel in Neubauten investiert werden – nur die Kletteranlage und das neue Olympische Wassersportzentrum im Norden würden speziell für die Spiele als permanente Sportanlagen neu geschaffen.
    Das Wassersportzentrum soll nach den Spielen dann als Schwimmbad allen Menschen im Viertel zur Verfügung stehen. In der Vergangenheit sind Pläne zur Nachnutzung von Olympia-Sportanlagen aber nicht selten gescheitert. So brachten etwa die Olympischen Spiele von Athen (2004) und Rio (2016) viele "weiße Elefanten" hervor – leerstehende und verwahrloste Sportstätten, die zu hohe Instandhaltungs- und Betriebskosten nach sich zogen.

    Metro-Ausbau erst nach Olympia abgeschlossen

    Auch der Ausbau des Metro-Systems soll ein infrastrukturelles Erbe der Sommerspiele sein, zumindest im weitesten Sinne. Denn angestoßen wurde das Projekt "Grand Paris Express", das unter anderem das Stadtgebiet und seine Vororte mit vier fahrerlosen neuen Linien verbinden soll, schon 2011 – weit vor der Vergabe der Olympischen Spiele nach Paris. Baubeginn war 2016, mit einer möglichen Olympia-Ausrichtung 2024 zumindest im Hinterkopf.
    Allerdings sind zwei der neuen Linien (16 und 17), die die nördlichen Vororte durchziehen, wo sich viele Wettkampfstätten und andere Einrichtungen befinden, aufgrund von Verzögerungen noch nicht fertiggestellt. Weitere Knotenpunkte des öffentlichen Nahverkehrs befinden sich nach wie vor im Bau. Außerdem gibt es "nicht genügend Züge", wie Bürgermeisterin Anne Hidalgo schon Ende November 2023 beim französischen TV-Sender "TMC" sagte. Sie prophezeite: "Was den Transport angeht, werden wir nicht bereit sein."

    Statt kostenloser Tickets steigen die Preise im ÖPNV

    Außerdem wurde bei der Bewerbung 2015 versprochen, dass nach dem Vorbild von London 2012 der öffentliche Verkehr für Besucherinnen und -Besucher der Olympischen und Paralympischen Spiele gratis sein solle. Doch "Ile-de-France Mobilités", das ÖPNV-Unternehmen im Großraum Paris, kippte diese Pläne nach der Haushaltsüberprüfung des Organisationskomitees im Dezember 2022. "Es handelte sich um eine Frage des Haushaltsausgleichs", hieß es von Seiten des Komitees.
    So wird sich der Metro-Preis für ein Einzelfahrt-Ticket während der Spiele für Touristen ohne Abonnements nun sogar fast verdoppeln auf vier Euro. Ein Sieben-Tage-Ticket kostet 70 Euro. Die auswärtigen Gäste sollen die Spiele mitbezahlen. Ein weiterer großer Kostenfaktor für alle Gäste: Hotel- und Unterkunftspreise stiegen massiv an. Aus Macrons "Spiele[n] für alle" werden Spiele, deren Besuch sich nur Bessergestellte leisten können.

    Soziales Erbe? Obdachlose werden aus Paris gedrängt

    Für Sorgenfalten auf der Stirn der Bürgermeisterin sorgt auch nicht nur die voraussichtlich überforderte Verkehrsinfrastruktur in Paris. Wie Hidalgo ebenfalls im November 2023 sagte, sollen die Olympischen Spiele auch genutzt werden, um eine langfristige Lösung für die Situation der tausenden Obdachlosen zu finden, die unter Brücken oder an anderen öffentlichen Orten ihre provisorischen Camps aufschlagen – ein soziales Erbe der Spiele also. "Wir müssen Fortschritte machen, sind aber noch nicht so weit", hieß es von Hidalgo dazu.
    Auch der offizielle "Legacy Plan" für die Olympischen Sommerspiele sieht vor, "Menschen aus benachteiligten Verhältnissen in die Gesellschaft durch Sport zu integrieren". Ein Ansatz, der zu den von Macron vollmundig versprochenen "Spiele[n] für alle" passt – sich aber nur auf dem Papier gut liest.
    Denn die Realität sieht anders aus. In den letzten Monaten wurden Anlaufstellen mit Hilfsangeboten für Obdachlose, Geflüchtete und weitere Menschen in Not aus dem Stadtzentrum in die Peripherie verlegt. Außerdem wurden viele Camps – auch in von der Stadt bereitgestellten Turnhallen – aufgelöst, Veranstaltungsorte für die Olympischen Spiele geräumt. Laut des Kollektivs "Le revers de la médaille (z. Dt.: "Die Kehrseite der Medaille") ist auch die Anzahl jugendlicher Geflüchteter, die von Zwangsräumungen betroffen sind, dieses Jahr fast dreimal so hoch wie noch zwei Jahre zuvor.
    Das Bündnis spricht von "sozialer Säuberung". Dem Deutschlandfunk sagte Anwältin Emma Eliakim, die sich für Betroffene einsetzt: "Man hätte erwarten können, dass die Stadt oder die Präfektur angesichts der besonderen Situation der Jugendlichen Unterkünfte bereitstellen, selbst wenn es sich nur um vorübergehende Unterkünfte während des Sommers handelt. Dies ist jedoch nicht der Fall und die Situation verschlimmert sich." Die überforderte Lokalbehörde von Paris sieht hingegen die Staatsregierung in der Verantwortung, die Stadt zu unterstützen.

    Studierende müssen Wohnheim für Olympia verlassen

    Auch eine weitere, in der Regel finanzschwache Gruppe, hat während der Spiele ein persönliches Nachsehen. Wie die französische Zeitung "Le Monde" berichtete, mussten 3.200 Studierende aus zwölf Studierendenwohnheimen nach großen Protesten ihre Wohnungen verlassen, weil das Pariser "Zentrum für Universitäts- und Schulwerke" ihre Plätze vorübergehend zur Unterbringung von Sicherheitspersonal, öffentlichen Bediensteten und Volunteers beschlagnahmte.
    Das Pariser Verwaltungsgericht hatte die Pläne zunächst beanstandet, sie Ende 2023 aber dann durchgewunken, weil die Studierenden "verschiedene Formen der Unterstützung" erhalten würden, um die "Folgen eines Wohnungswechsels zu mildern". Teil des aufgezwungenen Deals: ein Zuschuss von 100 Euro und zwei Eintrittskarten für Veranstaltungen der Olympischen Spiele.

    Athen, Rio und Tokio als mahnende Beispiele

    Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedenfalls, dass sich schon häufig die sozialen und wirtschaftlichen Erwartungen an ein Olympisches Erbe nicht erfüllten, oder es sogar nachteilige Entwicklungen gab.
    In Griechenland, das 2004 für insgesamt fast zehn Milliarden Euro die Spiele in Athen ausrichtete, profitierte in den Jahren danach laut dem Athener Wirtschaftsprofessor Nikos Vettas zwar der Tourismus und damit auch die Wirtschaft. Doch es fehlten nachher die Mittel und Konzepte, um die teuren Sportanlagen zu nutzen und zu erhalten.
    Ähnlich sah es in Rio 2016 aus, das laut einer Studie der Universität Oxford 23 Milliarden US-Dollar für die Ausrichtung ausgab. Marcelo Crivella, zwischen 2017 und 2020 Bürgermeister von Rio, machte die Olympischen Spiele verantwortlich für die Finanzprobleme der Stadt. 2018 führte er fast die Hälfte der drei Milliarden Euro Schulden auf die Olympia-Infrastrukturprojekte zurück.
    Das sind Probleme, die möglicherweise nicht auf die französische Wirtschaft anwendbar sind. Ein älteres Negativbeispiel in Sachen Olympisches Erbe in einer größeren Volkswirtschaft sind die Spiele von Montreal 1976 (Kanada). Die Sommerspiele entpuppten sich als Schuldenfalle, jahrzehntelang stotterte die Bevölkerung per Sondersteuer Verbindlichkeiten ab.
    Und als aktuelles Beispiel für ein fragwürdiges soziales Erbe dienen die Sommerspiele in Japan 2021, die ein Jahr zuvor wegen des Corona-Pandemie-Ausbruchs verschoben worden waren. Entgegen der Haltung von zwei Dritteln der Bevölkerung zog Tokio die Spiele durch, sie wurden nur für wenige zur großen Party. Ein gesellschaftlicher Boom im Amateur- und Nachwuchssport blieb aus.

    Positivbeispiel Barcelona 1992

    Eines der eher wenigen Beispiele für ein echtes Olympisches Erbe: die Sommerspiele in Barcelona 1992. Infrastrukturell wurde genau wie bei vielen anderen Ausrichtungen viel investiert, allerdings baute Barcelona vor allem für die eigenen Zwecke und weniger für die der Olympischen Spiele. So klappte auch die Nachnutzung von Infrastruktur und der neu errichteten Sportanlagen – zugunsten der Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Die Stiftung "Olympia Barcelona" verwaltete nachher eigens das Vermächtnis der Spiele.

    Was wird von Paris 2024 bleiben?

    Ob Paris also ein Gewinner oder Verlierer der Ausrichtung Olympischer Spiele sein wird, wird sich zeigen. Zuletzt äußerten im Dlf-Sportgespräch allerdings Spencer Harris (Universität Colorado/USA) und Marijke Taks (Universität Ottawa/Kanada) erhebliche Bedenken zu den Effekten – und ob diese überhaupt messbar sind.
    Die Sportwissenschaftlerin Taks sagte im Rahmen der "Play the Game"-Konferenz in Trondheim, es seien in Fragen von Sozialkapital, sozialem Zusammenhalt und Freundschaften, die wegen des Ereignisses geschlossen worden seien, keine wirklich positiven Zahlen gefunden worden. Der "vorübergehende Wohlfühlfaktor" verblasse bald nach der Eröffnungsfeier. Zudem profitierten vor allem Menschen innerhalb des Sportsystems, nicht aber die breite Gesellschaft.
    Ihr Kollege, der Sportökonom Spencer Harris, sagte: "Wenn man sich die Daten ansieht, egal ob es sich um wirtschaftliche oder sportliche Auswirkungen handelt, gibt es nur sehr wenige Hinweise darauf, dass dieses Vermächtnis im Laufe der Zeit tatsächlich realisiert wird. Worte sind billig." Für erhöhte sportliche Beteiligung und mehr körperliche Aktivität der Bevölkerung gebe es laut der beiden keine Beweise.