Bei den Spielen von Tokio zeigt sich Japan als blühende Sportnation. 17 Goldmedaillen haben japanische Athleten in der ersten Woche geholt. Bereits jetzt ein historischer Medaillenrekord für das Land.
Die Erfolge sind die Früchte großer Investitionen ins Sportsystem des Landes, berichtet Atsuhisa Yamamoto, Professor für Sportwissenschaften an der Seijo Universität in Tokio: "Über die letzten 20 Jahren hat die Regierung ein sehr großzügig ausgestattetes Förderprogramm erarbeitet, durch das Talente früh erkannt und ausgebildet werden. Als Tokio im September 2013 das Austragungsrecht für die ursprünglich 2020 geplanten Spiele erhielt, wurde noch einmal deutlich mehr Geld in die Sportförderung gesteckt. Das zahlt sich jetzt in Medaillen aus, und es dürfte auch noch einige Jahre halten."
Immer weniger Kinder treiben Sport
Aber ist deshalb – sportlich gesehen – alles gut in Japan? Eher nicht: Vor allem die traditionell beliebtesten Sportarten, in denen Japan im Moment reichlich Medaillen sammelt, verlieren seit Jahren ihren Nachwuchs. Das liegt nicht nur daran, dass es im Land mit einer schnell alternden Bevölkerung generell an Nachwuchs mangelt. Auch pro Kopf treiben immer weniger Kinder Sport.
Im Baseball und Softball, der bisher beliebtesten Sportart im Land, ist die Zahl von angemeldeten Kindern zwischen 2009 und 2019 um etwa die Hälfte auf 167.000 gesunken. Japanische Judoka holen eine Goldmedaille nach der anderen – aber die Judo-Sportklubs, die meist in Schulen organisiert sind, klagen über Nachwuchsmangel. Und auch im Volleyball, einst ebenfalls eine beliebte Disziplin, suchen Mannschaften nach Kindern.
Das berichtet Kenichi Mototani, ein Volleyball-Nachwuchstrainer aus Hiroshima, der 25 Jahre lang hunderte Kinder ausgebildet hat: "Bei den großen Jugendturnieren in Hiroshima haben früher 27 Mannschaften teilgenommen, in den letzten Jahren waren es noch 12 oder 13. Mannschaften verschwinden, weil sich niemand mehr anmeldet. Vielleicht haben Kinder heute weniger Interesse an Sport. An den Schulen werden, wenn überhaupt, die Einzelsportarten beliebter, zum Beispiel Tanzen und Skateboarden. Aber Sport wird auch insgesamt unbeliebter."
Trainer haben Kinder geschlagen
Die Gründe dafür? Oft geht es um altmodische Trainingsmethoden, die für den heutigen Geschmack zu streng sind und manchmal auch zu Gewalt führen. In den letzten Jahren sind vermehrt Fälle ans Licht gekommen, in denen Trainer die Kinder geschlagen hatten. Die NGO Human Rights Watch stellt 2020 sogar fest, dass dies im japanischen Sport allgemein nicht unüblich sei.
Hinzu kommt, dass Sport über die letzten Jahre teurer geworden ist. Ein Kind zum Baseball zu schicken, kostet im Jahr an die 1.000 Dollar oder sogar deutlich mehr. Aber auf Japans schwierigem Arbeitsmarkt mangelt es zunehmend an sicheren Arbeitsplätzen, mit denen man seine Einkommenslage gut planen könnte. Darunter leiden auch die Kinder.
Könnte da nicht die Sportförderung des Staates Abhilfe schaffen? Immerhin hat das japanische Bildungsministerium neben seiner "Eliteakademie" noch das Breitensportförderungsprogramm "Sport for Tomorrow" ins Leben gerufen. Altmeister in ihrer Disziplin sollen Kindern den Sport schmackhaft machen.
In einem Werbefilm erklärt der Judoka Kosei Inoue, Goldmedaillengewinner 2000 in Sydney, wie er Kindern jetzt das Greifen und Abrollen lehrt: "Ganz ehrlich gesagt ist es ein extrem tolles Gefühl, den Kindern durch Judo viel mehr beizubringen als diesen Sport, sondern auch eine Einstellung. Bei Judo geht es ja auch um Respekt und Haltung. Und die Kinder nehmen das wirklich ernst."
Förderung geht in Entwicklungsländer
Das klingt toll, und in der Tat wurden durch das Programm der japanischen Regierung zufolge zwölf Millionen Kinder erreicht. Das anfangs gesteckte Ziel wurde damit um 20 Prozent übertroffen. Nur hat die japanische Sportszene davon wenig. Denn die Förderung geht in Entwicklungsländer.
Atsuhisa Yamamoto hat zwei Kritikpunkte: "Der japanischen Regierung geht es hierbei nicht primär um die Förderung von Breitensport, sondern um Imagepflege im Ausland. Es werden typisch japanische Sportarten wie Judo beworben. Das hat ein nationalistisches Element, das bei dieser Regierung immer wieder zu erkennen ist. Oft wird von der Stärkung der Nation durch Sport gesprochen. Und im Inland spürt man diesen nationalistischen Ansatz dadurch, dass der Staat praktisch nur in die Eliten investiert. Der Freizeitsport wird dem Markt überlassen."
Neuer Boom durch Olympia?
Könnten die Olympischen Spiele, angesichts der großen japanischen Erfolge, denn zumindest die Jugend inspirieren? Während Atsuhisa Yamamoto eher skeptisch ist, hat Volleyballtrainer Kenichi Mototani in dieser Sache Hoffnung: "Wenn du als Kind siehst, wie die Erwachsenen für dein Land Medaillen gewinnen, willst du selbst doch auch so sein. Ich glaube schon, dass die Medaillenerfolge jetzt etwas auslösen."
Aber auf die Frage, was getan wird, damit es einen nachhaltigen Aufschwung des Breitensports in Japan geben kann, weiß das olympische Organisationskomitee von Tokio auf Anfrage nichts zu sagen. Man verweist auf das japanische Ministerium für Bildung und Sport. Aber das setzt ja vor allem auf die Elitenförderung.