Sandra Schulz: Bis heute gibt es keinen Beweis, dass die Frau an einem der vielen Tatorte war. Als die NSU-Terroristin Beate Zschäpe vor Jahren trotzdem wegen Mordes angeklagt wurde an den zehn Opfern des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds, da fragten viele, ist das nicht zu kühn. Was, wenn das Gericht von ihrer Täterschaft nicht zu überzeugen ist und sie dann ein milderes Urteil bekommt? Wäre das nicht ein Triumph für die rechtsextreme Szene.
So ist es nicht gekommen. Mit der Höchststrafe für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe ist dieser Mammutprozess vor dem Oberlandesgericht München gestern zu Ende gegangen. Das Gericht erkannte auf Lebenslang wegen mittäterschaftlichen Mordes. Deutlich kürzere Strafen gab es aber für die anderen vier Angeklagten, und vor allem darüber ist die Enttäuschung bei vielen Angehörigen der Opfer groß. Wir können darüber in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Barbara John, Obfrau für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU. Schönen guten Morgen.
Barbara John: Einen schönen guten Morgen.
Schulz: Wir haben viele Stimmen gestern ja schon gehört. Wie würden Sie es zusammenfassen? Was bedeutet dieses Urteil für die Angehörigen?
John: Natürlich eine Erleichterung. Fünf Jahre Prozessbegleitung sind vorbei. Aber auch eine Enttäuschung. Sie haben es eben schon gesagt. Die Strafen besonders für Emminger waren viel zu wenig. Der Mann hat das Gericht verlassen können, obwohl er eigentlich zwölf Jahre bekommen sollte. So hatte die Bundesanwaltschaft vorher plädiert. Das war eine bittere Enttäuschung. Wir haben uns nach dem Urteil noch mal getroffen in der Evangelischen Landeskirche, wo auch der Innenminister Herrmann aus Bayern dabei war, und haben darüber gesprochen, und man hörte aus den Stimmen und aus den Einwürfen, wie groß die Enttäuschung war und wie das alles weitergehen soll, denn natürlich können sich die Angehörigen damit nicht zufriedengeben.
Schulz: Ist mit dem Urteil denn trotzdem was erreicht?
John: Ja, es ist natürlich viel erreicht worden. Ich habe mit der Familie Simsek noch ausführlich sprechen können. Für die Familie Simsek, die 18 Jahre ja am längsten von den Morden erst einmal betroffen war – Enver Simsek ist m Jahr 2000 ermordet worden; gestern hatten wir schon Juli 2018 -, da ist eine ganze Zeit zu Ende gegangen. Natürlich nehmen jetzt andere Dinge das Leben wieder in Anspruch. Alles normalisiert sich. Die Kinder waren mit ihren Kindern da. Es ist die dritte Generation, die da hineinwächst. Aber das, was natürlich die Familien wollten, dass sie erfahren, wie die Helfershelfer gewirkt haben, das ist wieder nicht zur Sprache gekommen und das bleibt vollkommen im Dunkeln. Ich denke auch, das darf da nicht bleiben. Es muss irgendwie weitergehen, vielleicht mit einer Enquete-Kommission, die da noch etwas rausbuddeln kann.
"Wie tief der Schmerz sitzt"
Schulz: Enquete-Kommission – das wäre der neue Vorschlag. Der Generalbundesanwalt Peter Frank hat gestern ja noch mal gesagt, damit sind aber die Ermittlungen nicht zu Ende. Welche Form von Nachforschungen wünschen sich die Angehörigen denn?
John: Ja, natürlich gibt es noch zwei Ermittlungen bei der Bundesanwaltschaft, die durchgeführt werden müssen. Das ist sicher das Beste, was man machen kann, weil da Zeugen verhört werden müssen und das auch eine sehr in die Öffentlichkeit hineinwirkende Ausstrahlung hat. Aber die Angehörigen wünschen sich sehr, dass in irgendeiner Form – das ist in Deutschland ja schwierig; wir hatten 15 Untersuchungsausschüsse; einige arbeiten noch, manche werden vielleicht erst noch gegründet in Mecklenburg-Vorpommern -, dass das vielleicht doch noch etwas zu Tage bringt. Aber das sind alles Hoffnungen und an den Hoffnungen sehen wir ja, wie tief das auch sitzt, der Schmerz. Es gab gestern noch einen Vorfall, der die Angehörigen doch auch verletzt hat, als Richter Götzl die Taten noch einmal vor Augen führte, und das ist ja sehr drastisch, wenn das getan wird in den Plädoyers oder in dem Gerichtsurteil. Dann wird natürlich genau beschrieben, wie es war, wo das Einschussloch war, wie die Menschen dann dalagen. Herr Yozgat hat in seinem Leid um Hilfe gebeten, auf Arabisch und Türkisch, und da ist er sehr schroff zurückgewiesen worden. Das war nicht sensibel, das war ganz unsensibel.
Und dann gab es noch eine zweite Szene, die sehr unschön war, nämlich als das kurze Gerichtsurteil für Herrn Menninger verkündet wurde. Da gab es Klatschen bei einer Reihe von Rechtsradikalen, die auch anwesend waren. Das war eine Verhöhnung der Opfer. Der gestrige Tag hat die Menschen noch einmal aufgewühlt und das, was sich eigentlich setzen sollte, was sich beruhigen sollte, hat sich gestern nicht beruhigt, wie wir es erwartet und gewünscht haben.
Lehren aus dem NSU-Prozess
Schulz: Jetzt haben wir viel über die Defizite gesprochen, die sicherlich auch gut nachzuvollziehen sind. Wenn wir trotzdem mal versuchen, die Perspektive zu wechseln – sehen Sie denn auch Lehren, die das Land gezogen hat aus diesem NSU-Skandal?
John: Ja, die wird es geben. Die müssen aber noch viel deutlicher werden. Die muss es zum Beispiel bei den Ermittlungsbehörden geben, etwa bei der Polizei. Da sehe ich im Gespräch mit Polizeifachhochschulen Änderungen, dass beispielsweise das Material, das sich ja aus den Untersuchungsausschüssen ergeben hat, benutzt wird, um Verhörmethoden noch einmal zu überprüfen, um zu sagen, an welcher Stelle hätten wir eigentlich erkennen müssen, dass es sich um rechtsradikale Täter handeln könnte, warum haben wir das nicht erkannt. Das sind ganz wichtige Änderungen. Wir wissen weniger, was sich in den Verfassungsschutzbehörden geändert hat. Auch da soll es Änderungen geben, die sind aber minimaler Art. Und ich würde mir sehr wünschen, dass auch der Verfassungsschutz, dass der Präsident ein Gespräch mit den Familienangehörigen führt, weil es da große Vorbehalte gibt. Das sollte nicht sein. Es sollte erklärt werden nicht warum so gehandelt wurde – da gibt es viele Spekulationen -, aber warum man es jetzt besser machen will, und vor allem wie.
Schulz: Hat es denn da noch keine Gespräche gegeben?
John: Nein, die hat es nicht gegeben.
"Ernsthaftigkeit des Prozesses war schon eindrucksvoll"
Schulz: Das ist in der Tat ein interessanter Punkt. – Die Angehörigen der neun Männer türkischer und griechischer Herkunft, die haben in der Tat auch das als starke Belastung immer wieder geschildert, dass es am Anfang die Ermittler überhaupt nicht in Betracht gezogen haben, dass es rassistische Morde gewesen sein könnten mit einem rechtsradikalen Hintergrund. Noch mal die Frage: Glauben Sie, das könnte sich wiederholen, oder ist das jetzt mit diesem NSU-Skandal wirklich "Lessons Learned"?
John: "Lessons Learned" bedeutet ja, dass Rechtsradikale, die dazu neigen, selbst zu bestimmen, wer hier in diesem Land lebt oder nicht, oder Menschen auch aggressiv anzugehen, dass die das gelernt haben.
Schulz: Ich meine die Ermittler.
John: Die haben das mit Sicherheit nicht gelernt, sondern diese Szene wird weitermachen. Ich denke dennoch, dass sie kleiner geworden ist, auch in der Agitation, und dass der Prozess schon eine Wirkung hatte. Die Ernsthaftigkeit, die Länge, die Ausführlichkeit, mit der gesucht wurde und mit der berichtet wurde, die war schon eindrucksvoll, natürlich auch auf diese Szene.
Schulz: Also gar nicht die Ambivalenz, auf die man kommen könnte, wenn man noch mal an die Szene denkt, die Sie auch gerade noch mal geschildert haben von gestern mit dem Applaus im Gerichtssaal?
John: Nein, die sehe ich nicht.
"Zusammenhalt ist eine Aufgabe für alle"
Schulz: Jetzt ist mir gestern noch ein Zitat aufgefallen von Außenminister Heiko Maas. Der sagt, unsere Gesellschaft stehe auf gegen Intoleranz und Hass, und da brauche es die Kraft der Vielfalt unserer offenen Gesellschaften. Sind nicht gerade unsere offenen Gesellschaften ganz schön unter Druck im Moment?
John: Natürlich sind sie unter Druck, aber das sind offene Gesellschaften immer und besonders dann, wenn sie sich dieser Offenheit bewusst werden und spüren, was das eigentlich bedeutet, dass es eine große Unterschiedlichkeit gibt, dass es Polarisierungen gibt, dass der Zusammenhalt erst einmal bröckelt. Das ist eine Aufgabe natürlich für uns alle. Das sagt sich so einfach. Aber wir müssen das erkennen, was wir auch sind: Wir sind nicht nur Arbeitnehmer, wir sind nicht nur Partner, wir leben nicht nur in Beziehungen; wir sind Bürger eines Landes, in dem das gemacht werden muss, was wir alle machen müssen, nämlich friedfertige Verhältnisse herstellen und uns bewusst sein, dass man Dinge aushandeln muss. Man kann sie nicht mehr von oben dekretieren, nicht in einer offenen pluralistischen Gesellschaft. Da gibt es unterschiedliche Lebensvorstellungen. Aber es gibt selbstverständlich auch Grenzen. Es gibt Menschenrechte, es gibt Rechte, es gibt Gesetze, die müssen eingehalten werden. Aber das Zusammenhalten ergibt sich aus Dialogen und aus Aushandlungen und nicht aus Befehlen.
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