Nouripour sagte weiter, vor drei Monaten habe es noch 600 Anträge täglich auf die Ausstellung von Pässen gegeben, damit die Afghanen ausreisen könnten. Jetzt seien es 10.000. Es werde also viele Flüchtlinge geben.
Dabei habe es nach der Präsidentschaftswahl in der Bevölkerung eine große Euphorie gegeben. Aber weil zwei Kandidaten den Sieg für sich reklamierten hätten, sei ein Jahr verloren worden. "Es gibt eine riesige, chronische Unzufriedenheit mit der Regierung in Kabul." Nouripour sagte, er hoffe, dass der Fall von Kundus dazu beitrage, dass die Regierung jetzt wieder zusammenarbeite. Er habe mit Abdullah Abdullah gesprochen. Der habe sehr offen zugegeben, dass viele Fehler gemacht worden seien. Nouripour fügte hinzu, dass die afghanischen Sicherheitskräfte von innen heraus zersetzt würden. Das habe auch zur Erstarkung der Taliban beigetragen.
Der Westen müsse Afghanistan weiter unterstützen und deshalb den geplanten Abzug bis Ende 2016 überdenken, forderte der Grünen-Politiker: "Es wäre sehr kurzsichtig, zu sagen, wir wollen hier eigentlich nur noch raus, wir wollen damit nichts zu tun haben."
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Nichts ist gut in Afghanistan - ein Zitat aus der Neujahrspredigt von Margot Käßmann vor fast sechs Jahren. Die westliche Welt hat sich inzwischen weitgehend aus Afghanistan zurückgezogen, die Bundeswehr etwa mit ihren Kampfverbänden. Bis Ende vergangenen Jahres war sie dort stationiert, unter anderem auch im Feldlager von Kundus. Sprichwörtlich über Nacht stürmten Kämpfer der Taliban die nordafghanische Stadt. Sie überrannten die teils von Deutschen ausgebildeten afghanischen Polizisten und Soldaten. Also nichts ist gut in Afghanistan, auch nicht, wenn die USA eingreifen und Stellungen der Taliban bombardieren, dabei aber das Krankenhaus von Kundus treffen und 22 Menschen dabei sterben, darunter auch ausländische Helfer der Ärzte ohne Grenzen.
In Afghanistan unterwegs ist dieser Tage Omid Nouripour, der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag. Wir erreichen ihn gerade in Kabul. Guten Morgen, Herr Nouripour.
In Afghanistan unterwegs ist dieser Tage Omid Nouripour, der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag. Wir erreichen ihn gerade in Kabul. Guten Morgen, Herr Nouripour.
Omid Nouripour: Schönen guten Morgen!
Dobovisek: Sie führen politische Gespräche in Afghanistan, gestern unter anderem mit dem Außenminister des Landes. Wie tief sitzt der Schock im Land über den Vormarsch der Taliban?
Nouripour: Es gibt schon einen sehr großen Schock und alle sehen das als einen sehr großen Rückschritt an, was dort passiert ist: einmal natürlich für das Militär und für die Sicherheitskräfte, auf der anderen Seite aber auch für die Staatlichkeit. Wir haben hier so was wie eine Regierung der nationalen Einheit, die nicht besonders gut funktioniert, und jetzt gibt es wenigstens die Hoffnung, dass dieser Vorfall, der Fall von Kundus dazu führt, dass die sich zusammenraufen und endlich miteinander arbeiten, was in den letzten zwölf Monaten nicht passiert ist.
Chronische Unzufriedenheit mit der Regierung
Dobovisek: Was gedenkt die afghanische Regierung zu tun, um der Situation jetzt wieder Herr zu werden?
Nouripour: Na ja, das sind verschiedene Dinge, die alle ineinandergreifen müssen. Das eine ist natürlich die militärische Rückeroberung nicht nur der Stadt, sondern auch des Umlands, wobei von der gesamten Provinz Kundus spricht schon lange keiner mehr, dass man das zurückerobert. Da gibt es Landstriche, die waren noch nie unter der Kontrolle der afghanischen Sicherheitskräfte.
Das Zweite ist, dass man natürlich schauen muss, dass aufgearbeitet wird, warum das passiert ist, und da gibt es eine sehr erschreckende Erkenntnis, dass es viele Leute gegeben hat, die nett gesagt keinen Widerstand geleistet haben. Aber es gab auf alle Fälle Leute, die von innen das mit zersetzt haben, die dadurch die Kampfkraft und die Fähigkeiten der Sicherheitskräfte zersetzt haben und man die wirklich unterwandern konnte. Da ist die Frage, wie ist das möglich, und die Antwort darauf ist natürlich eine riesige chronische Unzufriedenheit mit der Regierungsführung vor Ort und auch in Kabul und daran muss man arbeiten.
Und das Letzte ist, wenn ich die Herzen und Köpfe der Menschen zurückgewinnen will, die ich verloren habe, wie ich gerade versucht habe, zu beschreiben, dann muss man natürlich schauen, dass so schnell wie möglich die Infrastruktur funktioniert, die Daseinsversorgung funktioniert, die Stromversorgung funktioniert, aber auch die medizinischen Zugänge, und das letzte Krankenhaus in einer großen Stadt zu zerstören, ist ganz sicher kein Beitrag dazu.
Das Zweite ist, dass man natürlich schauen muss, dass aufgearbeitet wird, warum das passiert ist, und da gibt es eine sehr erschreckende Erkenntnis, dass es viele Leute gegeben hat, die nett gesagt keinen Widerstand geleistet haben. Aber es gab auf alle Fälle Leute, die von innen das mit zersetzt haben, die dadurch die Kampfkraft und die Fähigkeiten der Sicherheitskräfte zersetzt haben und man die wirklich unterwandern konnte. Da ist die Frage, wie ist das möglich, und die Antwort darauf ist natürlich eine riesige chronische Unzufriedenheit mit der Regierungsführung vor Ort und auch in Kabul und daran muss man arbeiten.
Und das Letzte ist, wenn ich die Herzen und Köpfe der Menschen zurückgewinnen will, die ich verloren habe, wie ich gerade versucht habe, zu beschreiben, dann muss man natürlich schauen, dass so schnell wie möglich die Infrastruktur funktioniert, die Daseinsversorgung funktioniert, die Stromversorgung funktioniert, aber auch die medizinischen Zugänge, und das letzte Krankenhaus in einer großen Stadt zu zerstören, ist ganz sicher kein Beitrag dazu.
Dobovisek: Wie erklärt sich die Regierung in Kabul selbst diese Hilflosigkeit? Sie haben ja mit entsprechenden Vertretern gesprochen.
Nouripour: Ich konnte ja mit Abdullah Abdullah sprechen, der ja so was ist wie der Premierminister des Landes. Der hat sehr offen - und das hat mir eigentlich wieder Hoffnung gemacht -, sehr offen zugegeben, dass sie in den letzten zwölf Monaten viel zu viel falsch gemacht haben. Afghanistan hatte eine Wahl letztes Jahr. Ich war kurz danach in diesem Land. Da gab es eine euphorische Stimmung, wie ich sie noch nie erlebt habe. Es gab leuchtende Augen, es gab lange Schlangen von Leuten, die wählen wollten. Danach gab es zwei Kandidaten, die jeweils den Sieg für sich reklamiert haben und die sich so lange behakt haben, bis es nicht mehr ging und bis diese Euphorie verflogen war. Jetzt sind die beiden die Doppelspitze der Regierung in diesem Land und haben aber das gesamte Jahr verschwendet, und deshalb gilt es, dass jetzt spätestens nach dem Fall von Kundus hier aufgewacht wird und man versteht, wenn man sich nicht zusammenrauft, sondern die Staatlichkeit nicht wiederherstellt, und wenn man nicht hilft, dass die afghanischen Sicherheitskräfte langsam wieder was können -und das kann nicht nur die afghanische Regierung; da müssen wir auch uns fragen, was wir tun können, dass dann Kundus ganz sicher nicht die letzte große Stadt war, die gefallen ist.
Die Fluchtwelle kommt noch
Dobovisek: "Bild" hat uns gerade vorgerechnet, 18 Prozent aller Flüchtlinge, die in den letzten Monaten nach Deutschland gekommen sind - das sind also ungefähr 100.000 -, sind Afghanen, sind afghanische Flüchtlinge. Ist das die Reaktion der Menschen auf den Straßen, Flucht?
Nouripour: Nein, noch nicht. Das kommt noch. Die Zahl, die Sie gerade genannt haben, ist eine kleine Zahl. Das ist aus der Zeit von vor drei Monaten noch, als die Anträge auf Pässe täglich 600 Stück waren landesweit. Jetzt zurzeit gestern 10.000 Anträge am Tag, damit man Pässe bekommt und hier weggehen kann. Die Stimmung ist schlecht und wenn wir wollen, dass die Leute das nicht tun müssen, wenn wir wollen, dass sie dort bleiben können, wo sie auch zuhause sind, wo ihre Heimat ist, was natürlich für alle das Beste wäre, dann müssen wir natürlich fragen, welchen Beitrag wir leisten können, damit die Staatlichkeit funktioniert und damit die Sicherheitskräfte tatsächlich das Land auch tragen können.
Dobovisek: Sie fahren nach zehn Jahren regelmäßig nach Afghanistan, Herr Nouripour. Wenn ich Sie fragte, wie sähe denn eine deutsche Antwort auf diese Krise aus?
Nouripour: Na ja, es gab ja viele lustige Vorschläge in den letzten Wochen bis hin zu, wir führen ISAF wieder ein, also die Kampfmission der letzten Jahre, was völlig unrealistisch ist. Ich finde, das einzig wichtige ist, die Afghanen selbst zu fragen, weshalb ich hier hergekommen bin. Ich bin auch noch nicht abgeschlossen mit meiner Meinungsbildung, auch mit den Gesprächen. Aber es ist relativ deutlich, dass die Taliban darauf bauen, dass wir unsere Geduld beweisen und nicht unsere Militärs und unsere Fähigkeiten, dass wir erstens wissen müssen, dass das Ganze einen langen Atem braucht, zweitens wir aus den Fehlern, die wir gemacht haben in den letzten 13, 14 Jahren, hier lernen müssen, und es sind sehr viele gewesen, es gibt sehr vieles, was wir falsch gemacht haben. Und das Letzte ist, wenn man mit einem relativ kleinen Beitrag dazu tatsächlich kommen kann, dass die afghanischen Sicherheitskräfte wieder selbstbewusster sind, dass sie tatsächlich die Sicherheit selbst im Land tragen können, dann glaube ich, dass es sehr kurzfristig, sehr kurzsichtig wäre zu sagen, wir wollen hier eigentlich nur noch raus, wir wollen damit nichts zu tun haben. Die Zahlen in diesem Land haben uns, die rasant steigenden Zahlen, die man jetzt schon absehen kann, dass Leute zu uns kommen werden, zeigen ja, dass das sehr viel mit uns zu tun hat, und deswegen wir hier weiterarbeiten müssen.
Zu spät mit der Ausbildung der Afghanen angefangen
Dobovisek: Nun werden die afghanischen Sicherheitskräfte ja nicht erst seit gestern ausgebildet, unter anderem von deutschen Experten, von Bundeswehrsoldaten, aber auch von Polizisten. War das Ende des militärischen Einsatzes Ende 2014 einfach zu früh?
Nouripour: Das ist jetzt müßig, darüber zu resümieren, vor allem, weil es ja auch nicht in Deutschland beschlossen wurde. Obama hat ja die Zahlen alle vorgegeben, die Daten vorgegeben, und wir sind logistisch allein schon so abhängig von den Amerikanern und ihrer riesigen Militärapparatur, dass es nichts bringt, da zu sagen, wir machen was anderes. Das ist gar nicht das Thema. Aber richtig ist, dass sehr viel investiert wurde von deutschen Soldatinnen und Soldaten, von Polizistinnen und Polizisten, letztere sogar freiwillig in Afghanistan, und richtig ist, dass viele von denen eine supertolle Arbeit gemacht haben, aber richtig ist auch, dass in den ersten acht Jahren, also bis 2009, es viel zu wenig war und viel zu langsam war, was nicht einzelne Leute verschulden und verantworten, sondern es gab einfach nicht ausreichend. Dann haben wir richtig angefangen auszubilden, wie es notwendig gewesen wäre, um gleichzeitig zu sagen, im Übrigen gehen wir bald, und das hat natürlich was mit der Motivation der Afghanen gemacht, und natürlich ist es so, dass das, was man in den ersten acht Jahren zu wenig gemacht hat - und das ist keine Frage, die nur Deutschland geklärt hat; das ist eine Frage der internationalen Gemeinschaft -, wenn man in den ersten acht Jahren zu wenig gemacht hat, dass man das in den wenigen Jahren danach nicht einfach so auffangen kann.
Kardinalfehler: NATO-Beschlüsse ohne Afghanen verabschiedet
Dobovisek: Jetzt möchte ich da noch mal einhaken. Das Kabinett, so hören wir, will sich offenbar auch mit der Ausweitung von internationalen Polizeimissionen befassen. Wäre das eine Option für Afghanistan?
Nouripour: Auch das könnte eine sein. Aber noch mal: Ich glaube, das Entscheidende ist, dass wir einen weiteren Fehler der Vergangenheit, der kardinal war, nicht wiederholen, nämlich grundsätzlich im NATO-Rat beschließen, was für Afghanistan notwendig und wichtig ist, ohne mit den Afghanen vorher geredet zu haben und die mal nach ihren Bedürfnissen gefragt zu haben. Deshalb: Alle Vorschläge, die es zurzeit gibt, können Sinn machen. Manche sind sehr unrealistisch. Aber wichtig ist, dass das nicht nur einvernehmlich ist mit den afghanischen Autoritäten, sondern dass vor allem auch die das aussprechen, was ihr Bedürfnis ist, und dass wir denen dann dementsprechend helfen mit den Dingen, wie sie es brauchen.
Dobovisek: Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour befindet sich gerade zu politischen Gesprächen in Kabul und wir waren heute Morgen zum Interview mit ihm verabredet. Ich danke Ihnen, Herr Nouripour.
Nouripour: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.