Die europäische Flüchtlingspolitik sei weiter vor allem auf Abwehr ausgerichtet und "nicht über den Tag hinaus weitergedacht", so Nouripour. Bisher gebe es nur einen legalen Weg in die EU und der führe über die Türkei. Allerdings sieht der Grünen-Politiker hier mehrere Probleme: Zum einen gelte der Deal nur für Flüchtlinge aus Syrien, die in die EU wollten, und es gebe erhebliche völkerrechtliche Bedenken. Überlegungen, den EU-Türkei-Deal jetzt auch auf andere Länder zu übertragen, hält Nouripour auch deswegen für falsch.
Bewerbungskanäle gefordert
Natürlich sei Grenzmanagement notwendig. Aber: "Wir brauchen natürlich auch Kanäle, wo die Leute sich darum bewerben können, dass sie nach Europa kommen, um zu arbeiten." Derzeit würden Menschen auf dem Meer teilweise regelrecht "verrecken".
Aus Nouripours Sicht ist es richtig, dass die EU versucht, andere Länder zu stabilisieren - vor allem auch Libyen, das der Terrorgruppe IS immer stärker als Rückzugsort diene.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Ihr Weg sollte von Ägypten aus nach Europa führen. Gestern gab es Meldungen, hunderte Flüchtlinge seien bei einem Bootsunglück im Mittelmeer umgekommen. Gesicherte Informationen gibt es noch nicht. Die Tragödie, sollte sie sich so bestätigen, sie würde genau auf den Jahrestag des Flüchtlingsdramas im Mittelmeer fallen, bei dem am 18. April 2015 etliche Menschen ertranken. Die Angaben schwankten damals zwischen 700 und mehr als 900 Opfern. Sie waren in einem Schmugglerboot eingeschlossen, das unterging.
In Libyen sollen derzeit tausende Flüchtlinge aus Afrika auf die Gelegenheit zur Flucht über das Mittelmeer warten. Seitdem die Zahl der Flüchtlinge, die von der Türkei nach Griechenland kommen, wegen des Abkommens mit Ankara zurückgeht, steigt die Zahl der Menschen, die auf einer anderen Route nach Italien flüchten, wieder massiv an.
Die EU-Außen- und Verteidigungsminister trafen sich gestern. Sie haben darüber beraten, den Marineeinsatz im Mittelmeer auszuweiten. Damit soll die neue Einheitsregierung in Libyen unterstützt werden und verhindert werden, dass wieder mehr Flüchtlinge aus Nordafrika Richtung Europa kommen.
Am Telefon ist jetzt Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Guten Morgen!
Omid Nouripour: Schönen guten Morgen.
Kaess: Herr Nouripour, dieses Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, bei dem hunderte Menschen ertrunken sein sollen, stehen wir wieder da, wo wir vor einem Jahr standen?
Nouripour: Na ja. Es ist viel gemacht worden seitdem. Es gab viele Pläne, viele Überlegungen, aber es gab auch immer die Zusicherung, dass man auch legale Wege wird schaffen müssen, und ich habe noch keine gesehen. Es ist nur so, dass die Türkei dort tatsächlich Leute rüberschickt und wir dann Leute rüberschieben. Es gibt diesen Menschenhandel-Deal mit der Türkei. Das ist der einzige sogenannte legale Weg, der neu geschaffen worden ist. Alles andere nicht und deshalb ist das tatsächlich alles nur auf Abwehr gesetzt und nicht über den Tag hinaus weitergedacht, und das ist ein Problem.
Kaess: Aber es gibt einen legalen Weg, den haben Sie gerade angesprochen. Was wollen Sie denn noch mehr?
Nouripour: Dieser eine legale Weg besteht ja darin, dass die Türkei die Leute rüberschickt, nachdem wir hier abgeschoben haben, und dieser Fall gilt ausschließlich für Syrer und einen sehr, sehr kleinen Teil. Das hat mit Völkerrecht nichts zu tun, das hat auch mit praktischen Überlegungen nichts zu tun, erst recht nicht mit der Überlegung, dass man irgendwie was dafür tun muss, dass die Leute nicht auf hoher See tatsächlich verrecken, wie es teilweise passiert. Deshalb weiß ich jetzt nicht, was dieser EU-Deal tatsächlich mit dem, was man braucht an legalen Wegen, zu tun hat.
"Es ist ein Katz- und-Maus-Spiel"
Kaess: Zeigt dieses Abkommen mit der Türkei jetzt auch, dass jetzt wieder umso mehr Flüchtlinge auf die alternative Route setzen, nach Italien überzusetzen?
Nouripour: Das war ja die ganze Zeit absehbar, dass das passieren würde. Das ist ja seit Jahrzehnten so. Ich war selber 2007 auf den Kanaren. Damals war die Hauptroute über den Atlantik. Das war wahrscheinlich der tödlichste Weg. Da gab es unglaubliche Dunkelziffern, wer alles ertrunken ist im Ozean und nicht mal im Mittelmeer. Da hat man dann einiges dafür getan, damit die Küsten von Senegal anders bewacht werden. Daraufhin sind die Leute dann über Marokko gekommen und so weiter und so fort. Das ist die ganze Zeit ein Katz-und-Maus-Spiel. Und ja, wir müssen natürlich auch Grenzmanagement betreiben. Ja, wir müssen natürlich darüber reden, wie man auch einander hilft. Ja, die Südstaaten der Europäischen Union sind alleine mit dem Grenzschutz überfordert. Aber das wird alleine nicht reichen. Wir brauchen natürlich auch Kanäle, wo die Leute sich zum Beispiel bewerben können, dass sie nach Europa kommen, um hier zu arbeiten, und dass sie auch teilweise als Arbeitskräfte gebraucht werden, ist eine Binsenweisheit.
Kaess: Aber, Herr Nouripour, im Grunde sagen Sie, egal was die EU macht, die Flüchtlinge werden immer neue Routen finden, das Problem ist also unlösbar?
Nouripour: Das Problem ist nicht unlösbar. Es geht nur um Kurzfristigkeiten. Mittel- und langfristig wird es nur funktionieren, wenn wir helfen, dass diese Länder befriedet werden, wenn diese Länder tatsächlich auch ökonomische Perspektiven schaffen können. Das Problem in Libyen, dass der Staat unglaublich zerfallen ist, weit mehr zerfallen zurzeit als derzeit Somalia, hat natürlich auch was damit zu tun, dass es sehr, sehr große Waffenlieferungen und Waffenexporte gegeben hat an Gaddafi auch aus Deutschland. Das hat nicht unbedingt dazu beigetragen, dass das Land jetzt einfacher zu befrieden ist, und da müssen wir uns selbst auch an die eigene Nase fassen.
Kaess: Jetzt haben Sie selber auch gesagt, wir brauchen dennoch Grenzsicherung. Die EU will den Marineeinsatz vor der libyschen Küste ausweiten. Ist das eine gute Idee?
Nouripour: Das hängt davon ab, wie sie das machen. Erstens ist es ganz kompliziert, der neuen frischen Übergangsregierung, die kaum Macht hat in Libyen, zu helfen.
"Libyen ist Hauptfluchtpunkt"
Kaess: Aber eine Alternative haben wir nicht?
Nouripour: Moment, Moment! Wir wollen doch zusammen, Sie und ich wollen doch, dass Libyen stabilisiert ist und dass es eine gute Regierung gibt. Die Regierung, die jetzt frisch im Amt ist, hat Riesendruck im Land selbst, einer solchen Mission zuzustimmen. Wenn diese Regierung das tatsächlich gut erklären kann, es ihr nicht schade und sie nicht noch weiter geschwächt ist, dann kann die Mission Sinn machen. Genauso kann auch Sinn machen, dass es eine Waffenblockade gibt für Libyen. Aber die Frage ist, erzählen sie uns Waffenblockade, meinen aber damit eigentlich Flüchtlingsabwehr. Das hängt mal wieder in Details und das werden wir uns dann noch mal anschauen. Es ist richtig, dass wir alles dafür tun müssen, alles, was wir haben, daran setzen müssen, dass Libyen anders aussieht, dass Libyen stabilisiert wird, dass Staatlichkeit dort entsteht. Das ist überhaupt keine Frage. Libyen ist mittlerweile auch Hauptfluchtpunkt, nachdem ISIS jetzt Land verliert zum Beispiel im Irak, für die Kämpfer dieser barbarischen Organisation. Aber jetzt einfach so zu tun, als wäre das kein Problem, so einen Deal wie mit der Türkei auch mit Libyen zu machen, und dann würden sie das einfach umsetzen, ist in so einem zerfallenen Staat tatsächlich unserer Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Deshalb kann ich nur sagen, Demut vor der Problematik. Die ist sehr groß und man sollte nicht so tun, als könnte man zwei Hebel umschalten und dann läuft es schon.
Kaess: Was glauben Sie denn, Herr Nouripour, was bei diesem Marineeinsatz im Vordergrund steht, tatsächlich der Kampf gegen Schlepper und die Rettung von Flüchtlingen, oder eine Grenzsicherung im Sinne von einer weiteren Abschottung?
Nouripour: Ich hoffe, dass das, was jetzt kommt, tatsächlich als oberstes Ziel hat, dass ISIS nicht weitere Waffen bekommt und dass Milizen nicht immer weiter beliefert werden können mit Waffen und die Situation in Libyen massiv weiterhin eskaliert. Man muss sich das mal vorstellen. Es ist ein bisschen so etwa wie in Syrien. Im Falle von Syrien haben wir immer gesagt, Leute, wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Nachbarstaaten stützen, dass sie nicht auch kollabieren. Im Falle des Iraks ist es fast zu spät, im Falle Libanons nicht. In Libyen reden wir jetzt in erster Linie auch darüber, dass wir schauen müssen, dass Tunesien nicht kollabiert und dass die Situation in Libyen jetzt nicht auch noch das Land infiziert. Das ist nicht nur wegen der Frage der Flüchtlinge so; das ist natürlich auch ein Wert an und für sich, dass das erste und bisher einzige erfolgreiche Land des Arabischen Frühlings nicht auch noch wegrutscht.
Kaess: Jetzt hat Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi vorgeschlagen einen Flüchtlingsdeal mit Afrika. Ich sage mal, verkürzt zusammengefasst bedeutet das Geld gegen Grenzsicherung und Rücknahme von Flüchtlingen. Ist so ein Deal vorstellbar beziehungsweise muss man auch Verständnis für diese Position, für diesen Vorschlag aus Italien haben, wo ja jetzt immer mehr Flüchtlinge stranden?
Nouripour: Es ist ein Strohfeuer, das in einzelnen Fällen Sin machen könnte, wenn es nur darum geht, dass die Leute nicht kommen sollen. Ich weiß aber, ehrlich gesagt, nicht so genau, welche Länder er meint. Mit Marokko gibt es ein Rückführungsabkommen beispielsweise. Welche Länder meint er denn?
"Libyen ist keine Pufferzone, sondern Feuerzone"
Kaess: Er meint offenbar mehrere Länder in Afrika.
Nouripour: Wie gesagt, ich bin sehr gespannt, welche er meint, weil das ist von Land zu Land verschieden. Aber man muss sich auch eines vergegenwärtigen: Der Deal mit der Türkei hat einen Zweck aus der Sicht derjenigen, die ihn gemacht haben. Sie wollen, dass die Türkei so was ist wie ein Puffer zwischen der Feuerzone in Syrien und Europa. Im Falle von Libyen können Sie keinen Puffer bauen. Libyen selbst ist die Feuerzone und zwischen Libyen und Europa ist nur das Wasser. Also man sollte jetzt nicht Versprechen geben mit Effekten, die es nicht gibt.
Kaess: Es sind ja keine Versprechen, es ist ja erst mal ein Vorschlag. Und da noch mal nachgefragt: Haben Sie nicht auch ein bisschen Verständnis für diesen Vorschlag, der aus Italien kommt? Denn wie gesagt: Dort stranden jetzt immer mehr Flüchtlinge. Wenn Österreich seine Drohung wahr macht, dass es den Brennerpass schließt, wird die Situation ähnlich wie in Griechenland sein.
Nouripour: Noch einmal: Ich verstehe das. Nur ist die Frage, was genau passiert mit wem genau? Was passiert, das muss man sich dann genau anschauen, wenn es auf dem Tisch ist. Aber noch mal: Der Deal mit der Türkei ist an bestimmten Stellen fragil. Ganz viele Fragen sind nicht beantwortet, beispielsweise die Frage, was ist mit den Nicht-Syrern, und die Vereinten Nationen erklären diesen Deal für völkerrechtswidrig. Das jetzt sofort zur Blaupause zu machen für weitere Vorgehen, weil ein paar Wochen weniger Leute kommen, ist, glaube ich, ein bisschen naiv.
Kaess: Die Meinung von Omid Nouripour. Er ist außenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Danke für das Gespräch heute Morgen.
Nouripour: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.