Mit festem Schritt betritt sie die Bühne, schleudert die Schuhe von den Füßen wie ein ungezogenes Kind. Steht im knielangen blauen Kleid, die Füße parallel, und verschiebt nur leicht das Gewicht. So begann vor langer Zeit ihr Solo für das Stück "Fase". Doch nun, zehn Jahre später, bringt sie alles zusammen, was ihren Tanz je ausgemacht hat: die klassischen Linien, die modernen Kontraktionen, den schauspielerisch gereiften Ausdruckstanz, und ihre wilden, messerscharf gesetzten Energiebögen, die sie trotzig abbricht und mit der ihr eigenen Zartheit verzögert auslaufen lässt. Artig stellt sie sich auf zur ersten Ballettposition, fällt plötzlich so tief in die Knie, dass diese fast den Boden berühren. Schnellt zurück und räkelt sich in die Höhe, setzt einen Fuß - nein, doch nicht, verharrt, entscheidet anders, erkundet neue Imbalancen. Eine aufregende Stunde lang tastet sie sich so durch die 14 Lieder der legendären Joan Baez-Platte - Lieder über den Krieg und die Liebe.
"Don’t think twice" heißt jener Text von Bob Dylan über einen Mann, dessen junge Geliebte mehr von ihm will, und der deshalb weiterziehen muss. Diesen halb ironischen, halb vor Selbstmitleid triefenden Text karikiert Keersmaeker durch subversive Break-Dance-Andeutungen: Das schnelle Zücken einer Waffe, nebst coolem breitbeinigem Herumstehen, wie es damals für Kerle so Mode war. Komisch ist sie, die Keersmaeker, sprudelt vor erzählerischem Witz; jung ist sie, wenn sie wie ein kleines Mädchen hüpft oder ihr Lächeln ausbreitet wie ein Teenager; alt ist sie, wenn sie dem Publikum nach dem Eifersuchtsdrama "Nu bello cardillo" in vollkommener Stille ihr erstarrtes Profil zeigt. Und dann besteht sie auch noch die Nagelprobe dieses Abends:
We shall overcome, wir werden es schaffen, heißt der Song, der 1963 zum Leitmotiv wurde für die größte Demonstration in der amerikanischen Geschichte, den Marsch auf Washington. Über 200.000 Menschen gingen damals für die Bürgerrechtsbewegung auf die Straße, aus Protest gegen Rassentrennung und Krieg. Wie will eine Choreografin das in Tanz umsetzen?
Die Keersmaeker schafft auch das. Frontal steht sie reglos vor ihrem Publikum, hebt nur ihren linken Arm, und spreizt alle Finger der linken Hand bis zum äußersten. Präzise steht diese Hand in der Luft, gegen alle Wankelmütigkeit, unausweichlich. Und während die Stimme von Joan Baez leiser wird und bald aussetzt, singt die Keersmaeker allein weiter: Die Platte von damals ist vorbei; heute, vierzig Jahre später, steht der kleine Mensch allein, und singt mit leiser, aber gestochen scharf intonierter Stimme gegen ein Auditorium von Hunderten von Menschen, denen es den Atem verschlägt. Trauriger und ergreifender kann man die heutige historische Situation kaum darstellen.
Zum Schluss setzt Keersmaeker die Platte noch einmal aus, wenn Bob Dylan in seinem Text den puritanischen Gerechtigkeitswahn der Amerikaner beklagt, die Kriege gegen die Indianer und die Spanier - und den nächsten bevorstehenden, den chemischen Krieg. Am Ende steht die Keersmaeker mit ausgebreiteten Armen zwischen dem Publikum und einem projizierten US-Kriegsfilm, als wolle sie den Raum dazwischen wegdrücken und erweitern. Eine Geste, die erschauern lässt angesichts der US-Vorbereitungen für einen möglichen Irak-Krieg. Selten hat es im Tanz dramaturgisch und technisch eine so brillante Umsetzung politischer Inhalte gegeben. Keersmaeker ist mit diesem Solo unbestreitbar die Darstellerin des ausgehenden Jahres 2002.
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398.html
"Don’t think twice" heißt jener Text von Bob Dylan über einen Mann, dessen junge Geliebte mehr von ihm will, und der deshalb weiterziehen muss. Diesen halb ironischen, halb vor Selbstmitleid triefenden Text karikiert Keersmaeker durch subversive Break-Dance-Andeutungen: Das schnelle Zücken einer Waffe, nebst coolem breitbeinigem Herumstehen, wie es damals für Kerle so Mode war. Komisch ist sie, die Keersmaeker, sprudelt vor erzählerischem Witz; jung ist sie, wenn sie wie ein kleines Mädchen hüpft oder ihr Lächeln ausbreitet wie ein Teenager; alt ist sie, wenn sie dem Publikum nach dem Eifersuchtsdrama "Nu bello cardillo" in vollkommener Stille ihr erstarrtes Profil zeigt. Und dann besteht sie auch noch die Nagelprobe dieses Abends:
We shall overcome, wir werden es schaffen, heißt der Song, der 1963 zum Leitmotiv wurde für die größte Demonstration in der amerikanischen Geschichte, den Marsch auf Washington. Über 200.000 Menschen gingen damals für die Bürgerrechtsbewegung auf die Straße, aus Protest gegen Rassentrennung und Krieg. Wie will eine Choreografin das in Tanz umsetzen?
Die Keersmaeker schafft auch das. Frontal steht sie reglos vor ihrem Publikum, hebt nur ihren linken Arm, und spreizt alle Finger der linken Hand bis zum äußersten. Präzise steht diese Hand in der Luft, gegen alle Wankelmütigkeit, unausweichlich. Und während die Stimme von Joan Baez leiser wird und bald aussetzt, singt die Keersmaeker allein weiter: Die Platte von damals ist vorbei; heute, vierzig Jahre später, steht der kleine Mensch allein, und singt mit leiser, aber gestochen scharf intonierter Stimme gegen ein Auditorium von Hunderten von Menschen, denen es den Atem verschlägt. Trauriger und ergreifender kann man die heutige historische Situation kaum darstellen.
Zum Schluss setzt Keersmaeker die Platte noch einmal aus, wenn Bob Dylan in seinem Text den puritanischen Gerechtigkeitswahn der Amerikaner beklagt, die Kriege gegen die Indianer und die Spanier - und den nächsten bevorstehenden, den chemischen Krieg. Am Ende steht die Keersmaeker mit ausgebreiteten Armen zwischen dem Publikum und einem projizierten US-Kriegsfilm, als wolle sie den Raum dazwischen wegdrücken und erweitern. Eine Geste, die erschauern lässt angesichts der US-Vorbereitungen für einen möglichen Irak-Krieg. Selten hat es im Tanz dramaturgisch und technisch eine so brillante Umsetzung politischer Inhalte gegeben. Keersmaeker ist mit diesem Solo unbestreitbar die Darstellerin des ausgehenden Jahres 2002.
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