Am Sonntag sind in Bremen Landtagswahlen. Wer das Wochenende nutzt, um spontan die Tante in Hamburg zu besuchen, muss auf sein Wahlrecht leider verzichten - wählen lässt sich nur im Stimmlokal in der Nachbarschaft. Schon bei den nächsten Bundestagswahlen 2006 soll das anders aussehen: das Internet macht's möglich. Bundesinnenminister Schily hat versprochen, dass dann jeder Bürger in jedem Wahllokal seine Stimme abgeben kann. Ob auf Geschäftsreisen, im Urlaub oder beim Familienbesuch, am Wahlsonntag geht man einfach in das nächstgelegene Wahllokal und stimmt ab.
Möglich ist das nur, wenn alle Wahlvorstände miteinander vernetzt sind. Die Wahlhelfer müssen im Computer überprüfen, ob der Bürger - oder die Bürgerin - nicht schon woanders gewählt hat. Und sie müssen ihn schließlich im Wählerverzeichnis seines Heimatortes über eine Datenleitung elektronisch "abhaken" können.
Das klingt einfacher als es ist. Die Wählerdateien der Kommunen sind bislang nicht standardisiert, die Dateien haben nicht dasselbe Format. Zudem müssen für die Wahllokale Computer beschafft und die Rechner zusammengeschaltet werden. Die Software muss geschrieben werden, die die Rechner zusammenarbeiten lässt. Und das alles muss am Wahlsonntag in drei Jahren perfekt funktionieren. In jedem Firmenbüro stürzen einmal Programme ab. Bei den Parlamentswahlen darf das nicht passieren - man kann den Bürgern in der Warteschlange ja nicht sagen: "Kommen Sie nächsten Sonntag wieder!"
Ein ehrgeiziges Ziel hat sich da die Bundesregierung gesteckt - und doch soll es nur ein Zwischenschritt sein. Hin zu echten Online-Wahlen: bei denen der Bürger seine Stimme nicht mehr bei menschlichen Wahlhelfern abgibt, sondern bei einem Computer. Zum Beispiel einem öffentlichen Wahlterminal, vergleichbar einem Bankautomaten. Diese Wahlterminals würden in öffentlichen Gebäuden aufgestellt sein, in Ämtern, Schulen, oft da, wo vorher die Wahllokale waren. Am liebsten würde die Bundesregierung aber noch einen Schritt weiter gehen. Wer will, soll auch von seinem eigenen, privaten PC aus über das Internet wählen können oder sogar mit seinem Mobiltelefon. Verpflichtend ist das nicht, Wahllokale soll es auch weiterhin geben - aber wer dies möchte, kann, salopp gesagt, Kreuzchen machen per E-Mail oder SMS.
An dieser Zukunftsvision arbeiten in Deutschland etliche Forscherteams, gesponsert von der Industrie und der Bundesregierung. Sie wollen Computersysteme zur Online-Wahl entwickeln, die absolut zuverlässig funktionieren und vor allem auch manipulationssicher sind, wie Fritz Körper erläutert, Parlamentarischer Staatsekretär im Bundesinnenministerium:
Es ist unbedingt einzuhalten die Wahlgrundsätze. Deswegen sind an die Zuverlässigkeit und Effizienz von technischen Systemen und organisatorischen Abläufen besonders hohe Anforderungen zu stellen. Denn nur wenn das Wahlgeheimnis und das Vertrauen der Bevölkerung in die Stimmabgabe und die Akzeptanz des Verfahrens gesichert ist, können Online-Wahlen verantwortet werden.
Technische Systeme für Online-Wahlen werden derzeit international in vielen Staaten entwickelt, vor allem in den USA und Europa. In Deutschland konzentrieren sich die Forscher auf ein Chipkarten-Modell. Wer in Zukunft online wählen möchte, müsste sich dafür auf dem Amt eine Chipkarte besorgen, auf der seine persönliche digitale Signatur gespeichert ist - quasi ein elektronischer Fingerabdruck. Außerdem müsste sich der Wähler ein Lesegerät für seinen PC kaufen. Am Wahltag würde der Bürger dann zu Hause online gehen und die Webseite des Bundeswahlleiters aufrufen. Dann würde er die Chipkarte durch das Lesegerät ziehen und sich damit ausweisen. Im Gegenzug würde der Bundeswahlleiter ihm dann die Webseite mit dem Wahlzettel freischalten. Der Bürger macht per Mausklick seine Kreuzchen und schickt den Zettel an den Wahlleiter zurück.
Dieses Chipkarten-Modell wurde in Deutschland bereits mehrfach getestet. Natürlich nicht bei Parlamentswahlen, es ist ja noch nicht ausgereift, aber beispielsweise bei Personal- und Betriebsratswahlen und der Wahl eines Studentenparlaments. Pannenfrei hat das bislang noch nicht funktioniert. Dennoch ist sich der Osnabrücker Sozialwissenschaftler Dieter Otten, der ein Internet-Wahlsystem entwickelt und patentiert hat, sicher, dass schon in naher Zukunft alle Wahlen computerisiert werden:
Das Internet wird immer nur ein Bestandteil sein, ein Korrespondenzwahl-Bestandteil. Und in der Hauptsache werden die Menschen auch in Zukunft von Stimmlokalen aus wählen. Nur: die sind dann auch elektronisch. Man tippt dann auf einem Grafiktablett seine Partei an und weist sich auch in der Stimmkabine mit seiner digitalen Signatur aus. Und da kann ich Ihnen sagen aus Erfahrungen der Stadt Köln, die schon solche Wahlmaschinen im Einsatz hat - wenn auch nicht online, aber die Technik schon erprobt -, dass insbesondere alte Menschen große Fans dieser Art von Abstimmung sind. Denn sie können sich nicht vertun. Und wenn sie sich mal vertan haben, dann können sie das korrigieren. Das heißt, der Wähler hat schon einen Benefit davon.
In der Schweiz geht man einen anderen Weg. Online-Wähler sollen sich dort weder eine Chipkarte noch ein Lesegerät besorgen müssen, sondern bloss ein paar Geheimnummern. So genannte PIN- und TAN-Zahlencodes, wie sie auch derjenige benutzt, der online sein Bankkonto führt, also über das Internet den Kontostand abfragt und Überweisungen tätigt. Am Wahltag soll sich der Bürger dann am Computer mit seinen Geheimzahlen ausweisen können, erklärt Daniel Brändli, der bei der Schweizer Bundeskanzlei dieses "vote electronique" getaufte Projekt betreut:
Das ist ein Verfahren, das ziemlich sicher ist. Und wir haben es uns jetzt zu eigen gemacht, weil es auch sehr einfach ist; es erfordert kein technisches Verständnis, das über allgemeine Nutzung und Handhabung dieser Computer hinaus führt. Es ist also ein E-Voting, das für alle gemacht ist.
In Deutschland konzentrieren sich die Anstrengungen der Forscher darauf, die Zuverlässigkeit der Chipkarten und Lesegeräte weiter zu verbessern - und vor allem darauf, die Übermittlung der Daten vor Manipulationen zu schützen. Das Dilemma besteht darin, dass einerseits die Webseite des Bundeswahlleiters den eingeloggten Wähler eindeutig identifizieren muss - sonst könnte der Bürger ja anschließend gleich ein zweites Mal wählen. Andererseits darf die geheime Wahl nicht verletzt werden. Das heißt: Wenn der zentrale Rechner den elektronischen Wahlzettel gemailt bekommt, darf er ihn nicht "auffalten" und lesen können. Noch nicht: später dann, wenn der Rechner die Stimmen auszählt, muss er die Wahlzettel doch verstehen können, dann aber "vergessen" haben, von wem er ihn bekommen hat.
Und bei all dem müssen die Stimmen auf ihrem Weg über die Datenleitungen hin zum Zentralrechner sicher vor Hackern sein. Nicht auszudenken, wenn es fremden Computerexperten gelingen würde, in den elektronischen Wahlvorgang einzubrechen und Stimmen zu verändern, zu löschen oder hinzuzufügen. Staatssekreträr Fritz Körper:
Dazu darf es nicht kommen! Denn in der Tat wäre dies ein riesiges Problem, ein riesiger Vertrauensbruch. Und deswegen müssen die Vorbereitungen auch sehr sorgfältig sein, um dies auszuschließen.
Doch fraglich ist, ob sich dies wirklich hundertprozentig ausschließen lässt. Unter Hackern gilt es als sportlicher Wettbewerb, der erste zu sein, der in ein als manipulationssicher geltendes Computerprogramm einbricht. Je höher die technische Hürde, desto mehr Reputation ist zu erwerben und desto mehr Hacker versuchen ihr Glück.
Und wenn ein Computersystem nicht zu manipulieren ist, so kann man es wenigstens zusammenbrechen lassen. Bei sogenannten "Denail-Of-Service"-Attacken schicken gewiefte Hacker dem Internetrechner eines großen Unternehmens so lange millionenfach kopierte Anfragen, bis der Rechner zusammenbricht. Würde der Rechner des Bundeswahlleiters zur Zielscheibe eines solchen Angriffs, müssten die Wahlen abgebrochen werden.
Doch selbst wenn die Regierung irgendwann erklären sollte, das ultimative und zweifelsfrei sichere Online-Wahlsystem entwickelt zu haben, genügt dies nicht. Die Bürger müssen das auch glauben - und diese Hürde ist weitaus höher. Zwar gibt es immer mehr Menschen, die im Internet Geschäfte abwickeln, kaufen und verkaufen. Doch ein Teil der Bevölkerung lehnt das hartnäckig für sich persönlich ab. Allerdings stört es sie auch nicht, dass andere das Internet nutzen - wenn da etwas schief geht, sind sie ja nicht selber betroffen. Bei Parlamentswahlen wäre das anders. Es ist gut vorstellbar, dass sich viele Bürger durch Online-Wahlen verschaukelt fühlten. In dem Fall müsste man auf eine solche Technologie verzichten, findet Martina Krogmann, die Internetexpertin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion:
Wenn die Bevölkerung sagt: "Was ist denn das für ein Verfahren, da weiß ich doch gar nicht, ob die Stimmabgabe korrekt ist", dann geht der Schuss natürlich nach hinten los. Wir haben eh immer niedrigere Wahlbeteiligungen, Politikverdrossenheit ist auch in aller Munde. Und wenn dann die Bevölkerung, egal wie viel Prozent dann auch immer, nicht davon überzeugt ist, dass das Verfahren in Ordnung ist, dann brauchen wir uns darüber ja nicht zu unterhalten.
In einer Demokratie sorgen Wahlen dafür, dass eine Regierung auch von ihren Gegnern als legitim anerkannt wird. Nur wenn die unterlegene Minderheit glaubt, dass sie auf faire Weise überstimmt wurde, wird sie die Entscheidungen der Mehrheit respektieren - fühlt sie sich dagegen übers Ohr gehauen, droht eine Radikalisierung.
Die Bürger müssen sich dabei nicht nur sicher sein, dass kein Außenstehender es geschafft hat, die Wahlergebnisse zu manipulieren. Sie müssen ebenfalls davon überzeugt sein, dass auch der Staat nicht tricksen konnte. Die Online-Wahlsysteme, die international entwickelt werden, sind technologisch hoch raffiniert. Aber kaum ein Forscher scheint sich Gedanken zu machen, dass sie von Laien nicht zu verstehen sind, bemängelt Martin Wind, Sozialwissenschaftler an der Universität Bremen:
Wenn man sich mal heutige Wahlen anguckt, dann sind die ja sehr einfach gehalten, von der Organisation, und man kann auch um achtzehn Uhr ins Wahllokal gehen und bei der Stimmauszählung dabei sein. Diese Transparenz, diese Durchschaubarkeit geht bei Online-Wahlen einfach verloren. Ab einem bestimmten Punkt muss man es Experten glauben, dass das manipulationssicher und datengeschützt alles in Ordnung ist. Und das ist sicherlich ein Problem, das noch überhaupt noch nicht in den Blickpunkt dieser Projekte gerückt ist. Da hab ich ehrlich gesagt keine Vorstellung, wie eine Lösung aussehen könnte.
Je weiter Wahlbürger vom politischen Mainstream entfernt stehen, desto leichter könnten in ihren Kreisen auch Verschwörungstheorien entstehen, dass die großen Parteien ihre Proteststimmen im Online-Verfahren haben verschwinden lassen. Dass die Sicherheitsbehörden den Datenstrom in den Telekomleitungen immer gründlicher durchsieben, Mails und Faxe mitlesen, Telefone und Handys anzapfen, ist da sicher keine vertrauensbildende Maßnahme.
In dem Maße, wie es beispielsweise dann auch in Folge der Ereignisse ums World Trade Center zu einer Überwachung des Datenverkehrs gekommen ist in Deutschland, auf Druck der USA, in dem Maße, wie diese Entwicklung forciert wird, verlieren natürlich Online-Wahlen an Vertrauen, wachsen die Zweifel, das ist ganz klar. Wenn auf der einen Seite die Schraube angedreht wird und immer mehr überwacht wird, es immer schwerer fällt, auf der anderen Seite zu sagen: "Ja, aber Online-Wahlen, da lassen wir die Finger von, das ist sauber.
Online-Wahlen werfen viele Fragen auf, über die in Deutschland aber nur wenige nachdenken. Diskutiert wird hierzulande darüber, wie man solche Wahlen technisch ans Laufen bekommt, kaum aber über die Chancen und Risiken für die Demokratie. In den Projekten arbeiten überwiegend Informatiker, keine Politikwissenschaftler. Die Bundesregierung gibt zwar Gelder, leistet aber keine systematische Technikfolgenabschätzung. Im Gegensatz zur Schweiz, wie Daniel Brändli von der Bundeskanzlei in Bern berichtet:
Wir beginnen nicht mit der Technik. Wir möchten also zuerst diese breite Diskussion, die also auch die ganze Bevölkerung mit einschließt, wir möchten, dass die Medien darüber berichten, wir möchten, dass am Radio, am Fernsehen darüber diskutiert wird. Und die letzte Meile, das ist dann sozusagen die Technik, also das Vehikel, auf welchem Weg diese Stimmen dann schlussendlich in die Urne gelangen. Das ist in anderen Staaten nicht der Fall, dort wird heutzutage schon an technischen Finessen herumgepröbelt, und die politische Diskussion ist dann leider Gottes sehr stark techniklastig.
... wie auch die deutsche CDU-Abgeordnete Martina Krogmann findet. Sie steht Online-Wahlen zwar sehr aufgeschlossen gegenüber, kritisiert aber, dass die Bundesregierung zu wenig die Chancen und Risiken auslotet:
Wenn wir über Wahlen sprechen, dann reden wir wirklich über das Herzstück der Demokratie. Und da kann es natürlich nicht nur um technische Machbarkeit gehen, das ist aus meiner Sicht ganz klar. Und deshalb finde ich es um so wichtiger, dass wir auch von der Politik da eine breite Debatte anstoßen, welche Vor- und Nachteile eben diese Möglichkeiten der Online-Wahlverfahren haben.
Als ein Vorteil wird oft angeführt, dass Online-Wahlen möglicherweise die Wahlbeteiligung heben. Wer krank ist oder gebrechlich oder einfach auch nur keine Lust hat, bei Regenwetter auf die Straße zu gehen, kann bequem am Heimcomputer wählen. Junge Leute, die mit dem Internet groß geworden sind, steuern beim Surfen einmal kurz den Bundeswahlleiter an. Doch dass dadurch neue Wählerschichten gewonnen werden, kann Martina Krogmann nicht so recht glauben:
Der Grund dafür, dass die Wahlbeteiligung sinkt, ist ja nicht das beschwerliche Wahlverfahren, sondern das hat andere Gründe wie Politikverdrossenheit oder dass man sich durch Themen nicht angesprochen fühlt. Deshalb glaube ich nicht, dass es zu einer signifikanten Erhöhung der Wahlbeteiligung über das Internet kommen würde.
Anders formuliert: wer sich von seiner Stimmabgabe nichts verspricht, wird auch online nicht wählen. Was aber auch heißt, dass eine Sorge der Kritiker nicht berechtigt ist - dass Online-Wahlen eine soziale Schieflage bewirken.
Über einen privaten PC mit Internet-Anschluss verfügen überwiegend jüngere Männer, die gut gebildet und gut situiert sind. Zwar gehen immer mehr auch andere Bevölkerungsgruppen online, aber der Computer wird in absehbarer Zeit wohl kaum wie der Herd oder Kühlschrank zur Grundausstattung jeden Haushalts gehören. Wäre es nicht unfair, den Bürgern mit PC einseitig das Wählen bequemer zu machen und ihnen damit die politische Teilhabe zu erleichtern? Würde das nicht die Wahlergebnisse verfälschen? Nun, wenn es stimmt, dass sich parteienverdrossene Computer-Besitzer auch online nicht zum Wählen verführen lassen, hat sich diese Frage wohl erledigt.
Ein anderer Einwand ist dagegen nicht so schnell vom Tisch zu wischen. In Deutschland gilt, dass die Stimmabgabe geheim zu erfolgen hat. Ganz im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO: niemand darf beobachten, wo ein Bürger sein Kreuzchen macht. Die Wähler sollen sich sicher fühlen können, dass ihnen aus ihrer Entscheidung kein Nachteil erwächst.
Mit der Einführung der Briefwahl wurde in Deutschland die geheime Wahl eingeschränkt. Bei denen, die zu Hause wählen, kann der Staat nicht mehr kontrollieren, ob sie auch wirklich geheim abstimmen konnten. Dennoch hat der Gesetzgeber die Briefwahl eingerichtet: um denjenigen, die am Wahltag verhindert wären, dennoch die Stimmabgabe zu ermöglichen. Zwei Rechtsgüter wurden dabei abgewogen: die allgemeine Wahl und die geheime Wahl. Aber das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Urteilen festgestellt, dass nur im Ausnahmefall und aus wichtigem Grund per Post abgestimmt werden darf. In der Praxis sind diese Vorgaben längst aufgeweicht worden. In den Großstädten stimmen mittlerweile ein Drittel der Wähler per Brief ab, weil sie es bequemer finden. Der Parlamentarische Staatsekretär im Bundesinnenministerium, Fritz Körper, beteuert, dass die Einführung von Online-Wahlen ohne Einfluss auf die geheime Wahl wäre:
Die Einhaltung des Wahlgeheimnisses ist zwingend Voraussetzung, ist zwingend obligatorisch und unverzichtbar. Und das sind Fragen, die niet- und nagelfest zu beantworten sind, wenn man in die Erprobung solcher Systeme hineingehen will.
Allerdings ist nicht die Rede davon, dass - analog der Briefwahl - das Online-Wählen nur eine begründungspflichtige Ausnahme sein soll. Ganz im Gegenteil: Wer der Internet-Wahl das Wort redet, will diese Technologie so attraktiv gestalten, dass sie von möglichst vielen Bürgern genutzt wird. In der Schweiz wird offen eingeräumt, dass das auf Kosten der geheimen Wahl ginge. In Deutschland hätten Verfassungsklagen gegen Online-Wahlen eine gute Erfolgschance. Unter denen, die die Technologie trotzdem propagieren und vorantreiben, ist das ein Tabuthema.
Statt dessen ist oft zu hören, dass Online-Wahlen kostengünstiger und deshalb für den Staat attraktiv seien. Zwar seien hohe Anfangsinvestitionen nötig, für die Entwicklung der Technik und den Kauf der Hardware für die Wahllokale. Langfristig würde sich das aber rechnen. Wenn viele Bürger online wählen, könnte man die Zahl der Wahlbezirke reduzieren. In einer Schule, in der heute am Wahltag mehrere Wahlbezirke in verschiedenen Klassenzimmern untergebracht seien, müsste man dann vielleicht nur noch einen Raum herrichten. So würde man Geld sparen, ohne dass man den Bürgern weite Wege zumuten müsste.
Weniger Wahlbezirke hieße auch, dass der Staat weniger Wahlhelfer für dieses ungeliebte Ehrenamt verpflichten müsste. Allerdings bräuchte man statt dessen gut bezahlte Profis: Computertechniker, die die Systeme einrichten und am Wahltag als mobile Reparaturteams zur Verfügung stehen.
Wie teuer Online-Wahlen kämen und wann, wenn überhaupt, sie sich rentieren, ist bislang noch nicht kalkuliert worden. Dabei müsste man auch berücksichtigen, dass sie die Urnenwahl nur ergänzen, nicht ersetzen sollen. Was heißt: Zwei parallele Wahlsysteme müssen eingerichtet und finanziert werden.
Online-Wahlen würden aber nicht nur den Staat Geld kosten und damit die Steuerzahler - auch den Bürger direkt. Wer per Chipkarte wählen möchte, wie es in Deutschland geplant ist, muss dafür ein Lesegerät für den PC kaufen, auf eigene Kosten. Zwar ist die Rede davon, dass man mit dieser Chipkarte auch anderes erledigen können soll, zum Beispiel Behördengänge via Internet. Aber ob diese Aussicht viele Bürger zum Kauf der Hardware motiviert, stellt der Bremer Sozialwissenschaftler Martin Wind in Frage:
Wir haben ein Wahlsystem, das funktioniert ganz tadellos, das ist in seinen Strukturen und Abläufen seit Jahrzehnten erprobt. Und vor allem wir haben die Möglichkeit der Briefwahl, die viele andere europäische Länder überhaupt nicht kennen. Und das macht die Wahl auch noch hinreichend komfortabel. Insofern stellt sich allen Ernstes die Frage: Wo soll eigentlich der Mehrwert einer Online-Wahl liegen? Es kann aber sein, das will ich nicht in Abrede stellen, dass irgendwann die Kultur sagt: "Also wir machen so viele Dinge übers Netz - warum können wir eigentlich nicht wählen?" Gegenwärtig sehe ich das noch nicht so.
Internet-Anwendungen haben das Image, modern, jugendnah, innovativ zu sein. Ein Image, das auf denjenigen in der Politik abfärbt, der ihnen das Wort redet. Hinter den Projekten stehen aber auch Wirtschaftsinteressen. Längst ist ein internationales Wettrennen entbrannt, welcher Staat es schafft, als erster sein Parlament online wählen zu lassen. Und damit beweist, dass seine von heimischen Forschern und Unternehmen entwickelte Technologie marktreif ist - und geeignet, als neuer Standard den Weltmarkt zu erobern. Eine Technikfolgenabschätzung wäre bei diesem Gipfelsturm nur ein Stolperstein.
Möglich ist das nur, wenn alle Wahlvorstände miteinander vernetzt sind. Die Wahlhelfer müssen im Computer überprüfen, ob der Bürger - oder die Bürgerin - nicht schon woanders gewählt hat. Und sie müssen ihn schließlich im Wählerverzeichnis seines Heimatortes über eine Datenleitung elektronisch "abhaken" können.
Das klingt einfacher als es ist. Die Wählerdateien der Kommunen sind bislang nicht standardisiert, die Dateien haben nicht dasselbe Format. Zudem müssen für die Wahllokale Computer beschafft und die Rechner zusammengeschaltet werden. Die Software muss geschrieben werden, die die Rechner zusammenarbeiten lässt. Und das alles muss am Wahlsonntag in drei Jahren perfekt funktionieren. In jedem Firmenbüro stürzen einmal Programme ab. Bei den Parlamentswahlen darf das nicht passieren - man kann den Bürgern in der Warteschlange ja nicht sagen: "Kommen Sie nächsten Sonntag wieder!"
Ein ehrgeiziges Ziel hat sich da die Bundesregierung gesteckt - und doch soll es nur ein Zwischenschritt sein. Hin zu echten Online-Wahlen: bei denen der Bürger seine Stimme nicht mehr bei menschlichen Wahlhelfern abgibt, sondern bei einem Computer. Zum Beispiel einem öffentlichen Wahlterminal, vergleichbar einem Bankautomaten. Diese Wahlterminals würden in öffentlichen Gebäuden aufgestellt sein, in Ämtern, Schulen, oft da, wo vorher die Wahllokale waren. Am liebsten würde die Bundesregierung aber noch einen Schritt weiter gehen. Wer will, soll auch von seinem eigenen, privaten PC aus über das Internet wählen können oder sogar mit seinem Mobiltelefon. Verpflichtend ist das nicht, Wahllokale soll es auch weiterhin geben - aber wer dies möchte, kann, salopp gesagt, Kreuzchen machen per E-Mail oder SMS.
An dieser Zukunftsvision arbeiten in Deutschland etliche Forscherteams, gesponsert von der Industrie und der Bundesregierung. Sie wollen Computersysteme zur Online-Wahl entwickeln, die absolut zuverlässig funktionieren und vor allem auch manipulationssicher sind, wie Fritz Körper erläutert, Parlamentarischer Staatsekretär im Bundesinnenministerium:
Es ist unbedingt einzuhalten die Wahlgrundsätze. Deswegen sind an die Zuverlässigkeit und Effizienz von technischen Systemen und organisatorischen Abläufen besonders hohe Anforderungen zu stellen. Denn nur wenn das Wahlgeheimnis und das Vertrauen der Bevölkerung in die Stimmabgabe und die Akzeptanz des Verfahrens gesichert ist, können Online-Wahlen verantwortet werden.
Technische Systeme für Online-Wahlen werden derzeit international in vielen Staaten entwickelt, vor allem in den USA und Europa. In Deutschland konzentrieren sich die Forscher auf ein Chipkarten-Modell. Wer in Zukunft online wählen möchte, müsste sich dafür auf dem Amt eine Chipkarte besorgen, auf der seine persönliche digitale Signatur gespeichert ist - quasi ein elektronischer Fingerabdruck. Außerdem müsste sich der Wähler ein Lesegerät für seinen PC kaufen. Am Wahltag würde der Bürger dann zu Hause online gehen und die Webseite des Bundeswahlleiters aufrufen. Dann würde er die Chipkarte durch das Lesegerät ziehen und sich damit ausweisen. Im Gegenzug würde der Bundeswahlleiter ihm dann die Webseite mit dem Wahlzettel freischalten. Der Bürger macht per Mausklick seine Kreuzchen und schickt den Zettel an den Wahlleiter zurück.
Dieses Chipkarten-Modell wurde in Deutschland bereits mehrfach getestet. Natürlich nicht bei Parlamentswahlen, es ist ja noch nicht ausgereift, aber beispielsweise bei Personal- und Betriebsratswahlen und der Wahl eines Studentenparlaments. Pannenfrei hat das bislang noch nicht funktioniert. Dennoch ist sich der Osnabrücker Sozialwissenschaftler Dieter Otten, der ein Internet-Wahlsystem entwickelt und patentiert hat, sicher, dass schon in naher Zukunft alle Wahlen computerisiert werden:
Das Internet wird immer nur ein Bestandteil sein, ein Korrespondenzwahl-Bestandteil. Und in der Hauptsache werden die Menschen auch in Zukunft von Stimmlokalen aus wählen. Nur: die sind dann auch elektronisch. Man tippt dann auf einem Grafiktablett seine Partei an und weist sich auch in der Stimmkabine mit seiner digitalen Signatur aus. Und da kann ich Ihnen sagen aus Erfahrungen der Stadt Köln, die schon solche Wahlmaschinen im Einsatz hat - wenn auch nicht online, aber die Technik schon erprobt -, dass insbesondere alte Menschen große Fans dieser Art von Abstimmung sind. Denn sie können sich nicht vertun. Und wenn sie sich mal vertan haben, dann können sie das korrigieren. Das heißt, der Wähler hat schon einen Benefit davon.
In der Schweiz geht man einen anderen Weg. Online-Wähler sollen sich dort weder eine Chipkarte noch ein Lesegerät besorgen müssen, sondern bloss ein paar Geheimnummern. So genannte PIN- und TAN-Zahlencodes, wie sie auch derjenige benutzt, der online sein Bankkonto führt, also über das Internet den Kontostand abfragt und Überweisungen tätigt. Am Wahltag soll sich der Bürger dann am Computer mit seinen Geheimzahlen ausweisen können, erklärt Daniel Brändli, der bei der Schweizer Bundeskanzlei dieses "vote electronique" getaufte Projekt betreut:
Das ist ein Verfahren, das ziemlich sicher ist. Und wir haben es uns jetzt zu eigen gemacht, weil es auch sehr einfach ist; es erfordert kein technisches Verständnis, das über allgemeine Nutzung und Handhabung dieser Computer hinaus führt. Es ist also ein E-Voting, das für alle gemacht ist.
In Deutschland konzentrieren sich die Anstrengungen der Forscher darauf, die Zuverlässigkeit der Chipkarten und Lesegeräte weiter zu verbessern - und vor allem darauf, die Übermittlung der Daten vor Manipulationen zu schützen. Das Dilemma besteht darin, dass einerseits die Webseite des Bundeswahlleiters den eingeloggten Wähler eindeutig identifizieren muss - sonst könnte der Bürger ja anschließend gleich ein zweites Mal wählen. Andererseits darf die geheime Wahl nicht verletzt werden. Das heißt: Wenn der zentrale Rechner den elektronischen Wahlzettel gemailt bekommt, darf er ihn nicht "auffalten" und lesen können. Noch nicht: später dann, wenn der Rechner die Stimmen auszählt, muss er die Wahlzettel doch verstehen können, dann aber "vergessen" haben, von wem er ihn bekommen hat.
Und bei all dem müssen die Stimmen auf ihrem Weg über die Datenleitungen hin zum Zentralrechner sicher vor Hackern sein. Nicht auszudenken, wenn es fremden Computerexperten gelingen würde, in den elektronischen Wahlvorgang einzubrechen und Stimmen zu verändern, zu löschen oder hinzuzufügen. Staatssekreträr Fritz Körper:
Dazu darf es nicht kommen! Denn in der Tat wäre dies ein riesiges Problem, ein riesiger Vertrauensbruch. Und deswegen müssen die Vorbereitungen auch sehr sorgfältig sein, um dies auszuschließen.
Doch fraglich ist, ob sich dies wirklich hundertprozentig ausschließen lässt. Unter Hackern gilt es als sportlicher Wettbewerb, der erste zu sein, der in ein als manipulationssicher geltendes Computerprogramm einbricht. Je höher die technische Hürde, desto mehr Reputation ist zu erwerben und desto mehr Hacker versuchen ihr Glück.
Und wenn ein Computersystem nicht zu manipulieren ist, so kann man es wenigstens zusammenbrechen lassen. Bei sogenannten "Denail-Of-Service"-Attacken schicken gewiefte Hacker dem Internetrechner eines großen Unternehmens so lange millionenfach kopierte Anfragen, bis der Rechner zusammenbricht. Würde der Rechner des Bundeswahlleiters zur Zielscheibe eines solchen Angriffs, müssten die Wahlen abgebrochen werden.
Doch selbst wenn die Regierung irgendwann erklären sollte, das ultimative und zweifelsfrei sichere Online-Wahlsystem entwickelt zu haben, genügt dies nicht. Die Bürger müssen das auch glauben - und diese Hürde ist weitaus höher. Zwar gibt es immer mehr Menschen, die im Internet Geschäfte abwickeln, kaufen und verkaufen. Doch ein Teil der Bevölkerung lehnt das hartnäckig für sich persönlich ab. Allerdings stört es sie auch nicht, dass andere das Internet nutzen - wenn da etwas schief geht, sind sie ja nicht selber betroffen. Bei Parlamentswahlen wäre das anders. Es ist gut vorstellbar, dass sich viele Bürger durch Online-Wahlen verschaukelt fühlten. In dem Fall müsste man auf eine solche Technologie verzichten, findet Martina Krogmann, die Internetexpertin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion:
Wenn die Bevölkerung sagt: "Was ist denn das für ein Verfahren, da weiß ich doch gar nicht, ob die Stimmabgabe korrekt ist", dann geht der Schuss natürlich nach hinten los. Wir haben eh immer niedrigere Wahlbeteiligungen, Politikverdrossenheit ist auch in aller Munde. Und wenn dann die Bevölkerung, egal wie viel Prozent dann auch immer, nicht davon überzeugt ist, dass das Verfahren in Ordnung ist, dann brauchen wir uns darüber ja nicht zu unterhalten.
In einer Demokratie sorgen Wahlen dafür, dass eine Regierung auch von ihren Gegnern als legitim anerkannt wird. Nur wenn die unterlegene Minderheit glaubt, dass sie auf faire Weise überstimmt wurde, wird sie die Entscheidungen der Mehrheit respektieren - fühlt sie sich dagegen übers Ohr gehauen, droht eine Radikalisierung.
Die Bürger müssen sich dabei nicht nur sicher sein, dass kein Außenstehender es geschafft hat, die Wahlergebnisse zu manipulieren. Sie müssen ebenfalls davon überzeugt sein, dass auch der Staat nicht tricksen konnte. Die Online-Wahlsysteme, die international entwickelt werden, sind technologisch hoch raffiniert. Aber kaum ein Forscher scheint sich Gedanken zu machen, dass sie von Laien nicht zu verstehen sind, bemängelt Martin Wind, Sozialwissenschaftler an der Universität Bremen:
Wenn man sich mal heutige Wahlen anguckt, dann sind die ja sehr einfach gehalten, von der Organisation, und man kann auch um achtzehn Uhr ins Wahllokal gehen und bei der Stimmauszählung dabei sein. Diese Transparenz, diese Durchschaubarkeit geht bei Online-Wahlen einfach verloren. Ab einem bestimmten Punkt muss man es Experten glauben, dass das manipulationssicher und datengeschützt alles in Ordnung ist. Und das ist sicherlich ein Problem, das noch überhaupt noch nicht in den Blickpunkt dieser Projekte gerückt ist. Da hab ich ehrlich gesagt keine Vorstellung, wie eine Lösung aussehen könnte.
Je weiter Wahlbürger vom politischen Mainstream entfernt stehen, desto leichter könnten in ihren Kreisen auch Verschwörungstheorien entstehen, dass die großen Parteien ihre Proteststimmen im Online-Verfahren haben verschwinden lassen. Dass die Sicherheitsbehörden den Datenstrom in den Telekomleitungen immer gründlicher durchsieben, Mails und Faxe mitlesen, Telefone und Handys anzapfen, ist da sicher keine vertrauensbildende Maßnahme.
In dem Maße, wie es beispielsweise dann auch in Folge der Ereignisse ums World Trade Center zu einer Überwachung des Datenverkehrs gekommen ist in Deutschland, auf Druck der USA, in dem Maße, wie diese Entwicklung forciert wird, verlieren natürlich Online-Wahlen an Vertrauen, wachsen die Zweifel, das ist ganz klar. Wenn auf der einen Seite die Schraube angedreht wird und immer mehr überwacht wird, es immer schwerer fällt, auf der anderen Seite zu sagen: "Ja, aber Online-Wahlen, da lassen wir die Finger von, das ist sauber.
Online-Wahlen werfen viele Fragen auf, über die in Deutschland aber nur wenige nachdenken. Diskutiert wird hierzulande darüber, wie man solche Wahlen technisch ans Laufen bekommt, kaum aber über die Chancen und Risiken für die Demokratie. In den Projekten arbeiten überwiegend Informatiker, keine Politikwissenschaftler. Die Bundesregierung gibt zwar Gelder, leistet aber keine systematische Technikfolgenabschätzung. Im Gegensatz zur Schweiz, wie Daniel Brändli von der Bundeskanzlei in Bern berichtet:
Wir beginnen nicht mit der Technik. Wir möchten also zuerst diese breite Diskussion, die also auch die ganze Bevölkerung mit einschließt, wir möchten, dass die Medien darüber berichten, wir möchten, dass am Radio, am Fernsehen darüber diskutiert wird. Und die letzte Meile, das ist dann sozusagen die Technik, also das Vehikel, auf welchem Weg diese Stimmen dann schlussendlich in die Urne gelangen. Das ist in anderen Staaten nicht der Fall, dort wird heutzutage schon an technischen Finessen herumgepröbelt, und die politische Diskussion ist dann leider Gottes sehr stark techniklastig.
... wie auch die deutsche CDU-Abgeordnete Martina Krogmann findet. Sie steht Online-Wahlen zwar sehr aufgeschlossen gegenüber, kritisiert aber, dass die Bundesregierung zu wenig die Chancen und Risiken auslotet:
Wenn wir über Wahlen sprechen, dann reden wir wirklich über das Herzstück der Demokratie. Und da kann es natürlich nicht nur um technische Machbarkeit gehen, das ist aus meiner Sicht ganz klar. Und deshalb finde ich es um so wichtiger, dass wir auch von der Politik da eine breite Debatte anstoßen, welche Vor- und Nachteile eben diese Möglichkeiten der Online-Wahlverfahren haben.
Als ein Vorteil wird oft angeführt, dass Online-Wahlen möglicherweise die Wahlbeteiligung heben. Wer krank ist oder gebrechlich oder einfach auch nur keine Lust hat, bei Regenwetter auf die Straße zu gehen, kann bequem am Heimcomputer wählen. Junge Leute, die mit dem Internet groß geworden sind, steuern beim Surfen einmal kurz den Bundeswahlleiter an. Doch dass dadurch neue Wählerschichten gewonnen werden, kann Martina Krogmann nicht so recht glauben:
Der Grund dafür, dass die Wahlbeteiligung sinkt, ist ja nicht das beschwerliche Wahlverfahren, sondern das hat andere Gründe wie Politikverdrossenheit oder dass man sich durch Themen nicht angesprochen fühlt. Deshalb glaube ich nicht, dass es zu einer signifikanten Erhöhung der Wahlbeteiligung über das Internet kommen würde.
Anders formuliert: wer sich von seiner Stimmabgabe nichts verspricht, wird auch online nicht wählen. Was aber auch heißt, dass eine Sorge der Kritiker nicht berechtigt ist - dass Online-Wahlen eine soziale Schieflage bewirken.
Über einen privaten PC mit Internet-Anschluss verfügen überwiegend jüngere Männer, die gut gebildet und gut situiert sind. Zwar gehen immer mehr auch andere Bevölkerungsgruppen online, aber der Computer wird in absehbarer Zeit wohl kaum wie der Herd oder Kühlschrank zur Grundausstattung jeden Haushalts gehören. Wäre es nicht unfair, den Bürgern mit PC einseitig das Wählen bequemer zu machen und ihnen damit die politische Teilhabe zu erleichtern? Würde das nicht die Wahlergebnisse verfälschen? Nun, wenn es stimmt, dass sich parteienverdrossene Computer-Besitzer auch online nicht zum Wählen verführen lassen, hat sich diese Frage wohl erledigt.
Ein anderer Einwand ist dagegen nicht so schnell vom Tisch zu wischen. In Deutschland gilt, dass die Stimmabgabe geheim zu erfolgen hat. Ganz im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO: niemand darf beobachten, wo ein Bürger sein Kreuzchen macht. Die Wähler sollen sich sicher fühlen können, dass ihnen aus ihrer Entscheidung kein Nachteil erwächst.
Mit der Einführung der Briefwahl wurde in Deutschland die geheime Wahl eingeschränkt. Bei denen, die zu Hause wählen, kann der Staat nicht mehr kontrollieren, ob sie auch wirklich geheim abstimmen konnten. Dennoch hat der Gesetzgeber die Briefwahl eingerichtet: um denjenigen, die am Wahltag verhindert wären, dennoch die Stimmabgabe zu ermöglichen. Zwei Rechtsgüter wurden dabei abgewogen: die allgemeine Wahl und die geheime Wahl. Aber das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Urteilen festgestellt, dass nur im Ausnahmefall und aus wichtigem Grund per Post abgestimmt werden darf. In der Praxis sind diese Vorgaben längst aufgeweicht worden. In den Großstädten stimmen mittlerweile ein Drittel der Wähler per Brief ab, weil sie es bequemer finden. Der Parlamentarische Staatsekretär im Bundesinnenministerium, Fritz Körper, beteuert, dass die Einführung von Online-Wahlen ohne Einfluss auf die geheime Wahl wäre:
Die Einhaltung des Wahlgeheimnisses ist zwingend Voraussetzung, ist zwingend obligatorisch und unverzichtbar. Und das sind Fragen, die niet- und nagelfest zu beantworten sind, wenn man in die Erprobung solcher Systeme hineingehen will.
Allerdings ist nicht die Rede davon, dass - analog der Briefwahl - das Online-Wählen nur eine begründungspflichtige Ausnahme sein soll. Ganz im Gegenteil: Wer der Internet-Wahl das Wort redet, will diese Technologie so attraktiv gestalten, dass sie von möglichst vielen Bürgern genutzt wird. In der Schweiz wird offen eingeräumt, dass das auf Kosten der geheimen Wahl ginge. In Deutschland hätten Verfassungsklagen gegen Online-Wahlen eine gute Erfolgschance. Unter denen, die die Technologie trotzdem propagieren und vorantreiben, ist das ein Tabuthema.
Statt dessen ist oft zu hören, dass Online-Wahlen kostengünstiger und deshalb für den Staat attraktiv seien. Zwar seien hohe Anfangsinvestitionen nötig, für die Entwicklung der Technik und den Kauf der Hardware für die Wahllokale. Langfristig würde sich das aber rechnen. Wenn viele Bürger online wählen, könnte man die Zahl der Wahlbezirke reduzieren. In einer Schule, in der heute am Wahltag mehrere Wahlbezirke in verschiedenen Klassenzimmern untergebracht seien, müsste man dann vielleicht nur noch einen Raum herrichten. So würde man Geld sparen, ohne dass man den Bürgern weite Wege zumuten müsste.
Weniger Wahlbezirke hieße auch, dass der Staat weniger Wahlhelfer für dieses ungeliebte Ehrenamt verpflichten müsste. Allerdings bräuchte man statt dessen gut bezahlte Profis: Computertechniker, die die Systeme einrichten und am Wahltag als mobile Reparaturteams zur Verfügung stehen.
Wie teuer Online-Wahlen kämen und wann, wenn überhaupt, sie sich rentieren, ist bislang noch nicht kalkuliert worden. Dabei müsste man auch berücksichtigen, dass sie die Urnenwahl nur ergänzen, nicht ersetzen sollen. Was heißt: Zwei parallele Wahlsysteme müssen eingerichtet und finanziert werden.
Online-Wahlen würden aber nicht nur den Staat Geld kosten und damit die Steuerzahler - auch den Bürger direkt. Wer per Chipkarte wählen möchte, wie es in Deutschland geplant ist, muss dafür ein Lesegerät für den PC kaufen, auf eigene Kosten. Zwar ist die Rede davon, dass man mit dieser Chipkarte auch anderes erledigen können soll, zum Beispiel Behördengänge via Internet. Aber ob diese Aussicht viele Bürger zum Kauf der Hardware motiviert, stellt der Bremer Sozialwissenschaftler Martin Wind in Frage:
Wir haben ein Wahlsystem, das funktioniert ganz tadellos, das ist in seinen Strukturen und Abläufen seit Jahrzehnten erprobt. Und vor allem wir haben die Möglichkeit der Briefwahl, die viele andere europäische Länder überhaupt nicht kennen. Und das macht die Wahl auch noch hinreichend komfortabel. Insofern stellt sich allen Ernstes die Frage: Wo soll eigentlich der Mehrwert einer Online-Wahl liegen? Es kann aber sein, das will ich nicht in Abrede stellen, dass irgendwann die Kultur sagt: "Also wir machen so viele Dinge übers Netz - warum können wir eigentlich nicht wählen?" Gegenwärtig sehe ich das noch nicht so.
Internet-Anwendungen haben das Image, modern, jugendnah, innovativ zu sein. Ein Image, das auf denjenigen in der Politik abfärbt, der ihnen das Wort redet. Hinter den Projekten stehen aber auch Wirtschaftsinteressen. Längst ist ein internationales Wettrennen entbrannt, welcher Staat es schafft, als erster sein Parlament online wählen zu lassen. Und damit beweist, dass seine von heimischen Forschern und Unternehmen entwickelte Technologie marktreif ist - und geeignet, als neuer Standard den Weltmarkt zu erobern. Eine Technikfolgenabschätzung wäre bei diesem Gipfelsturm nur ein Stolperstein.