Sonya Yoncheva ist das Ereignis des Abends. Für die Ausbrüche der Lebensfreude, die Verdi der todgeweihten Violetta zugedacht hat, hält sie diamanthelle, strahlkräftige Höhen bereit. Die Farben der Einsamkeit und der Verzweiflung schöpft sie aus einer samtigen, bisweilen leicht abgedunkelten Mittellage. Noch im ersterbenden Pianissimo bleibt diese Wunderstimme klangvoll und wandelbar. Vor allem aber wirft sich die junge Sängerin stimmlich und darstellerisch mit einer Emphase in ihre Rolle, die in jedem Moment glaubhaft, unforciert, ja geradezu natürlich wirkt.
Die Geschichte von der zu heiß liebenden, dann edelmütig verzichtenden und schließlich an der bürgerlichen Kälte zugrunde gehenden Kameliendame erzählt Dieter Dorn als einen Fiebertraum, ein letztes Sich-Aufbäumen des Lebens gegen den Tod. Joanna Piestrzynska hat ihm dafür ein Zitat aus einem Vanitas-Stillleben des Malers Georges de la Tour auf die Bühne gezaubert. Neben einem Tisch mit Kerze rieselt der Sand einer unerbittlich ablaufenden Lebensuhr auf den Boden. Auf der asketisch schwarzen Drehbühne steht außerdem ein großer Spiegel, der wie in Jean Cocteaus "Orpheus"-Film das Durchgangstor zum Totenreich bildet. Nach den ersten flirrenden Streicherhöhen des Orchestervorspiels erscheint in ihm ein riesiger Totenschädel. Das grausige Bild entpuppt sich dann überraschend als eine Menschenpyramide, die von weiß gekleideten Tänzerinnen gebildet wird. Diese lemurenhaften Wesen sind Todesboten und Dienerinnen zugleich. An entscheidenden Stellen der Oper formieren sie sich zum Memento mori im Spiegel. Aber sie reichen Violetta auch ihr schwarz glitzerndes Abendkleid, wenn sie beschließt, sich neuerlich ins Leben zu stürzen, oder sie improvisieren mit ein paar Kissen ein Bett für das recht freizügig ausinszenierte Liebes-Techtel mit Alfredo. Leider bleibt Abdellah Lasri als Alfredo nicht nur in dieser Szene stimmlich allzu blass.
Alfredo ist in Dorns Inszenierung ein etwas eitler Einfaltspinsel, der weniger in Violetta, als in seine eigenen Gefühle verliebt ist. Wenn er also oft beziehungslos auf der Bühne herumsteht und selbstverliebt ins Publikum singt, statt sich auf Violetta einzulassen, so ist das wohl auch der Inszenierungsidee geschuldet. Dennoch muss man es auch Dorns kaum vorhandener Personenregie zurechnen, dass zwischen den Figuren auf der Bühne so wenig passiert. Vor allem die Chorszenen sind eine Enttäuschung: Die Pariser Halbwelt steht in Moidele Bickels bunten Kinderfaschingskostümen als bloße Staffage herum. Hier hätte sich Dorn mehr einfallen lassen müssen: einen grellen Kontrast zur Todessymbolik vielleicht, etwas Fratzenhaftes, was auch immer. Holprig, wie schlecht geprobt, wirkt auch der Schluss, wenn die sterbende Violetta durch den Spiegel hindurch verschwindet. Die restlichen Personen stellen sich dann mit dem Rücken zum Spiegel wie eine Elfmeterwand, die den schlechten Trick vertuschen soll. Besser gelingen die Szenen zwischen Violetta und Giorgio Germont, dem Vater Alfredos. Simone Piazzola entlockt der Partie mit seinem warmen Baritontimbre ein Höchstmaß an Differenziertheit.
Sonya Yonchevas Violetta liebt und leidet mit der Unbedingtheit und der Wahrhaftigkeit eines Kindes und mit der prallen Sinnlichkeit einer Frau. Das lässt sie in Dorns Inszenierung als die einzige wirklich lebendige Figur der Oper erscheinen. Und das ist das eine Pfund, mit dem der Abend wuchern kann. Das andere ist Daniel Barenboims so kluge wie einfühlsame Durchleuchtung der Partitur am Pult der Staatskapelle. Er trägt die Sänger auf Händen und treibt die Traviata-Musik zugleich in ihre Ausdrucksextreme hinein. Großartig und überwältigend.