Mit seiner "Penthesilea" erkundet Pascal Dusapin das Begehren. Das menschliche Begehren, das animalische, das Begehren allen Lebens. Dazu steigt er tief hinab in die archaischen Schichten unserer Existenz und beobachtet sehr genau, wie in der Ursuppe der Gefühle Anziehung und Abstoßung funktionieren. Wie wir getrieben werden nach dem anderen, ihm am liebsten unter die Haut kriechen und ihn uns am liebsten einverleiben würden.
Die Haut wird in der Inszenierung zu einem zentralen Motiv werden. Die Lust eins zu werden hat so auch immer kannibalische Züge. Der Tod spielt schnell hinein. Er ist gewissermaßen das zweite Gesicht der Liebe. Eros und Thanatos sind dem antiken Mythos vom tragischen Paar Penthesilea und Achill schon eingeschrieben, auch in Heinrich von Kleists Drama wirkt das Motiv kräftig nach. Pascal Dusapin hat diese Sinnschicht mit radikaler Konsequenz herausgearbeitet. Und noch etwas, das mit dem Dualismus von Liebe und Tod unmittelbar zusammenhängt – man könnte es als die Machtstrategie des Begehrens bezeichnen. Das Urverlangen ist nämlich nicht altruistisch, selbstlos, human, sondern auf Unterwerfung aus.
Mehr als Emanzipation und Genderfragen
Immer wieder verlangen bei Pascal Dusapin Penthesilea und Achill voneinander und von ihren Sippschaften, dass sie ihnen folgen, sich ihnen unterwerfen. Eroberung, Beherrschung, Vereinigung gehören unmittelbar zusammen. Der Diskurs, auf den diese Oper rekurriert, geht also weit über die aktuellen Diskussionen um Emanzipation und Genderfragen hinaus. Biologie und Archaik der Gefühle sind hier das Thema. Und so klingt Dusapins Oper schon in ihrem Instrumentalprolog. Wie die ersten Wassertropfen auf dem Planeten Erde blitzen die kurzen Töne einer Harfe auf, und da hinein schleicht sich ein dunkles, raunendes Rumoren wie eine zähe Masse.
Glühender schwarzer Lava gleich werden die Bässe der Streicher und Bläser den musikalischen Verlauf bestimmen. Es ist ein ständiges Rumoren, Wummern und tiefes Atmen in kleinen Intervallen, wie Dusapin es schon in seiner Oper "Perelá" verwendet hatte. Ein träges Magmafeld, aus dem immer wieder gleißende Geysir-Blitz aufsteigen. Eruptive Kraft hat diese Musik, gefährlich wirkt sie, auch wenn sie recht kühl mit ihren endlosen, fast filmmusikalischen Wiederholungen von Motivfragmenten und elektronischen Verfremdungseffekten kalkuliert. Die Stimmen sind oft vom Sprechgesang geprägt, explodieren aber nicht selten in zerklüfteten Koloraturen, wie Penthesilea hier, wenn sie zum ersten Mal Achilles erwartet.
"Er kommt? Nun denn, auf zur Schlacht! Ich nur, ich weiß den Göttersohn zu fällen. Den schöngefärbten Vogel hol' ich mir herunter vom Himmel, und liegt er mit geknickten Flügeln mir zu Füßen, dann, oh dann ... "
Die österreichische Mezzosopranistin Natascha Petrinsky in der Titelrolle singt ihren Part, als sei er ihr auf den Leib geschrieben worden. Überhaupt wirken Sänger und Orchester unter dem hoch konzentrierten Dirigat von Franck Ollu auf fast schlafwandlerische Weise vertraut mit diesem neuen und oft hochkomplexen und virtuosen Werk Pascal Dusapins. Zusammen schaffen sie Musiktheater pur. Die Penthesilea von Natascha Petrinsky und ihre Amazonen, aber auch Achilles, Odysseus und ihre Krieger schleichen amöbengleich übers schwarze Feld der fast leeren Bühne.
Alles fügt sich auf kongeniale Weise zusammen
Regisseur Pierre Audi zeigt eine ausgefeilte Personenchoreografie. Hin und wieder werden getrocknete Tierhäute an Stahlhaken heruntergelassen oder liegen gestapelt auf Paletten. Videoprojektionen zeigen Gerber beim blutigen Handwerk der Lederherstellung. Damit wären wir beim zentralen Bildmotiv Haut. Die belgische Künstlerin Berlinde De Bruyckere hat damit eine Bühneninstallation geschaffen, die das Material des Begehrens in seiner ganzen Verletzlichkeit, Sinnlichkeit und Undurchdringlichkeit zeigt. Alles in dieser Brüsseler Uraufführung fügt sich auf kongeniale Weise zusammen. Selten finden die Einzelkünste der Oper auf so dynamische Weise zu einander. Die Monnaie zeigt Geschlechterkampf pur.
Achilles: "Was? Wem gelten diese Pfeile, meinen Süßen? Doch nicht etwa dieser ungeschützten Brust? Ich bin entwaffnet, in mehr als einem Sinn und lege mich zu euren Füßen, den zierlichen."