"Schwarze Gebärmutter" ist das erste Kapitel überschrieben. Es ist freilich ein schräg nach unten hängendes Rohr, aus dem Perelà unter leichter Rauchentwicklung auf den Boden der Theatertatsachen entlassen wird. Nackt und bloß kommt der unfreiwillige Held auf Erden an. Er steigt in die für ihn bereitstehenden großen Stiefel und lässt sich von einer depravierten Alten den Weg in die Stadt zeigen. Ganz auf sich allein gestellt. Wie sehr er aus der Einsamkeit kommt, signalisiert die Inszenierung von Lydia Steier, indem sie Wildwechsel anordnete: Statisten mit Rentierköpfen ziehen in stoischer Ruhe gradlinig von rechts nach links über die Bühne. Jeder auf eine kleine Klippe gestützt.
Bewundernswert, dass Peter Tantsits der Mangel an Bekleidung so hörbar wenig anhaben kann und was der Freigestellte mit seiner Stimme bewerkstelligt. Er muss sie immer wieder ins Falsett kippen lassen. Die an Kaspar Hauser erinnernde Figur wird von den Ober-Höflingen vorm schönbrunnergelben Schloss begafft und kommentiert, dann vom Fußvolk des lächerlich kleinen Königs lärmend in Empfang genommen und in eine Hose gezwängt.
Das Personal der Operetten-Monarchie wurde in Anlehnung an die Kostüme und spitzen Nasen der commedia dell‘arte grellbunt aufbereitet und trippelnd aufgezwirbelt in Szene gesetzt - wie in den Spätzeiten des realen Sozialismus Prokofjews "Liebe zu den drei Orangen", wo jeder, der auch nur eine Sekunde stille stand, des Verrats am Arbeitsethos verdächtig war.
Dabei sind die Momente, in denen die philosophie- und religionskritischen Sentenzen mit filigranen Klanglineaturen in zart orchestrierten Klangfarben begleitet werden, womöglich die intensivsten. Jedenfalls wirkte - ganz subjektiv - das von Hermann Bäumer so differenziert geleitete Staatsorchester im mittelgroßen Mainzer Theater sehr viel nachdrücklicher als vor zwölf Jahren bei der Uraufführung in der riesigen Halle an der Place de la Bastille - und damit die Dusapinsche Annäherung an die real realistisch unlösbare Frage der menschlichen Leichtigkeit und der leichtgenommenen Menschlichkeit ungleich plausibler. Aber natürlich sind die Ohren nach einem Dutzend Jahren nicht mehr die gleichen, sondern abgestumpfter gegenüber manchem und hellhöriger gegenüber anderem.
Perelà wird in eine ihm unverständliche Welt geworfen, von dieser nicht wirklich angenommen und wieder ausgespien. Gezeigt wird das vor der Fassade des Schlosses oder auf dessen Rückseite, einer großen Freitreppe, die sich in Segmente aufspalten kann. Obwohl die nach eigenem Bekunden an sich liebesunfähige Marquise O. sich Perelàs in Liebe annimmt und am Ende auch gegen die Übermacht des Kollektivs verteidigt, kann er sich nicht eingemeinden. Die exzentrische Adelige wird von Geniève King so vorzüglich gesungen und dargestellt wie die Königin von Marie-Christine Haase. Diese Sopranistin ist zugleich die hysterische Tochter Alloros. Und in dieser Rolle versteht sie, extremes komödiantisches Talent zu beweisen: Das kleine Luder trägt maßgeblich zum raschen Ende von Perelàs Karriere bei Hofe bei - immerhin sollte er das neue Gesetzbuch konzipieren.
Zuvor wurde er von der Neugierde und dem Wohlwollen der Damen getragen, dann vom investitionsbereiten Bankier, vom Philosophen und sogar vom Erzbischof befördert wird. Indem der Bürger Alloro die Leichtigkeit des Seins erlangen und die Rauchfangerfahrung machen möchte, kommt es zur Selbstverbrennung. Perelà wird für den Tod verantwortlich gemacht und zu lebenslänglicher Verbannung in den Bergen verurteilt, aus denen er kam. Die Inszenierung von Lydia Steier griff die zum Teil sehr deutlichen und keineswegs immer schonungsvollen Anspielungen auf den Religionsgründer aus Nazareth nicht auf, zeigt nur eine kleine obszöne Szene des geistlichen Würdenträgers mit seinem Ministranten. Tja, Mainz bleibt Mainz. Zumal in der fünften Jahreszeit will man da nichts allzu Ernsthaftes zumuten.
Immer wieder fügen sich Pascal Dusapins mitunter weit aufgefächerte Vokalpartien in vorwaltend ruhigen Tempi zu Cantilenen und großen Arien. Dann aber schafft die Partitur, zumal im 6., 7. und 8. Kapitel, musikdramatische Kulminationspunkte die unterstreichen, dass Aldo Palazzeschi Geschichte alles andere als bloß leicht zu nehmen ist.