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Opfer der Colonia Dignidad
Versklavt, verarmt, vergessen?

In der "Colonia Dignidad", einer Sekte von Auslandsdeutschen in Chile, wurde gefoltert, missbraucht, gemordet. Die politische und juristische Aufarbeitung ist bislang schleppend verlaufen. Doch es scheint Bewegung in die parlamentarische Debatte zu kommen: Vertreter der Regierungskoalition bekennen sich zu einer "Mitverantwortung für die Geschehnisse".

Von Ute Löhning |
    epa05417828 A picture available on 09 July 2016 shows a marked stone in the Villa Baviera, formerly known as Colonia Dignidad, in Chile, 15 June 2016. The Colonia Dignidad was founded by German Paul Schaefer, 400 kilometers south of Santiago, in 1961. The agricultural commune was formed by German people fleeing from their devastated country after the second World War. During the Chilean dictatorship, the location was used for interrogation and torture of opposition members to the Augusto Pinochet regime. Schaefer fled Colonia Dignidad on 20 May 1997 after being sought by Chilean authorities on child abuse charges, for which he was found guilty in his absence, was later extradited from Argentina in 2005, and died in prison in 2010. In 2007 Colonia Dignidad became a touristic location and was renamed Villa Baviera. EPA/MARIO RUIZ |
    Villa Baviera heißt heute die Siedlung, die ehemals als Colonia Dignidad bekannt war. Am 15.6.2016 in Chile. (EFE/EPA/MARIO RUIZ )
    Auf den ersten Blick wirkt die Villa Baviera, das "Bayrische Dorf" im Süden Chiles, heute wie ein idyllischer Touristenort. Wasser plätschert in einem Brunnen, Hunde bellen, Kinder spielen Fußball und fahren Tretboot auf einem Teich. Im Zentrum des weitläufigen Geländes, umgeben von grünen Wiesen und Getreidefeldern, steht ein großes weißes Bierzelt. "Herzlich Willkommen" steht über dem Eingang. Daneben ein Hotel-Restaurant im bayrischen Stil, mit Hirschgeweihen und rosafarbenen Geranien vor den Fenstern.
    Die Feriensiedlung am Fuße der Anden hat eine düstere Geschichte. 1961 gründete der deutsche Laienprediger Paul Schäfer hier die totalitäre Sektengemeinschaft Colonia Dignidad, zu Deutsch: Kolonie der Würde, die sich selbst als urchristlich bezeichnete. Rund 300 Menschen lebten in der streng abgeriegelten Siedlung – versklavt, gefoltert, viele von ihnen sexuell missbraucht, von Paul Schäfer und seiner Führungsclique.
    Arbeiten: 16 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche
    Georg Laube ist eines der Opfer. Als Kind gehörte er zu einer Gruppe von Jungen, die tagsüber arbeiten mussten und nachts im Krankenhaus der Siedlung eingesperrt und gequält wurden.
    Eingang zur ehemaligen Colonia Dignidad in Chile 2004.
    Eingang zur ehemaligen Colonia Dignidad in Chile 2004. (AFP /Luis Hidalgo)
    "Alle Kinder mussten da so schlafen, durften nur auf dem Rücken liegen, die Hände daneben, nackt. Das Gesicht wurde von diesen Wachleuten zugedeckt, und es wurde uns nasse Watte in die Ohren gesteckt. Und dann nachts wurdest du dann mit Strom aus dem Schlaf gerissen. Das waren immer so Elektrogeräte, die haben die immer in die Genitalien reingehalten."
    Auch Doris Gert, die in der Colonia Dignidad geboren wurde, erinnert sich an Misshandlungen im Krankenhaus.
    "Man hat mir Spritzen, Tabletten gegeben. Und dann warst du nur - ich weiß gar nicht wie ich das erklären soll – benebelt. Ich wusste, ich bin gar nicht mehr ich."
    Diejenigen Bewohner der Kolonie, die nicht zur Führungsclique um den Sektenchef Paul Schäfer gehörten, mussten hart arbeiten. Oft 16 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, häufig schon im Kindesalter. Und das alles ohne Lohn. Ohne Ausbildung, oft ohne Schulabschluss, ohne Rentenansprüche. Deshalb leben viele Opfer der Colonia Dignidad heute in Armut.
    Während der Militärdiktatur ein Folterzentrum
    Beim Rundgang durch die Villa Baviera bleibt Georg Laube an einem zweistöckigen Gebäude stehen:
    "Das war alles Kartoffelkeller, hieß das hier, heißt heute noch. Ja, hier wurden die Gefangenen drin gehalten. Und ich habe dahinten, an dem letzten Fenster, können wir ja mal hingehen, da nachts immer geschlafen. Ich wurde eingesperrt. Um 8 Uhr abends ungefähr, jede Nacht um 8 Uhr abends fing immer dieses wahnsinnige Geschrei da unten an: Offensichtlich, für mich war das ganz klar, dass die Leute da mit Strom, man hörte auch Schläge. Immer diese Schreie. Es ging Nacht für Nacht immer, ja."
    Victor Sarmiento hält ein Plakat seines Bruders Hernán Sarmiento, dessen Spur sich 1974 in der damaligen Colonia Dignidad verlor.
    Victor Sarmiento hält ein Plakat seines Bruders Hernán Sarmiento, dessen Spur sich 1974 in der damaligen Colonia Dignidad verlor. (Deutschlandradio / Julio Segador)
    Laube hörte damals, wie chilenische Oppositionelle gefoltert wurden. Auf dem Gelände der Colonia Dignidad wurden nämlich nicht nur die deutschen Sektenmitglieder drangsaliert. Paul Schäfer, der Sektenchef, war auch ein Handlanger des chilenischen Diktators Augusto Pinochet. Während der Militärdiktatur kooperierte Schäfer mit dem chilenischen Geheimdienst DINA, der in der Siedlung ein Folterzentrum betrieb. Etwa einhundert Oppositionelle sollen seit Anfang der 70er-Jahre auf dem Gelände ermordet worden sein. Ihre Leichen wurden nie gefunden; sie gelten als Verschwundene. So auch der Sohn von Ana Molina.
    Touristischer Betrieb in der Villa Baviera
    "Für uns ist es sehr schmerzhaft, nicht zu wissen, ob sie in Massengräbern verscharrt wurden, ob sie ins Meer geworfen wurden oder wo sie sind: Wir wollen, dass die Regierungen das aufklären und uns einen Ort geben, an dem wir mit Blumen und Kerzen um sie trauern können."
    Die Angehörigen der Verschwundenen wollen, dass der touristische Betrieb der Villa Baviera gestoppt und stattdessen ein Gedenk- und Informationsort eingerichtet wird. Ehemalige und auch heutige Bewohner der deutschen Siedlung fordern Entschädigung oder zumindest finanzielle Unterstützung vom chilenischen und vom deutschen Staat - wegen unterlassener Hilfeleistung. Doch bislang vergeblich.
    Seit 1988 nannte sich die deutsche Kolonie "Villa Baviera". Für die Bewohner allerdings änderte sich dadurch nichts. Erst knapp zehn Jahre später begannen Ermittlungen gegen Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs und Folter; es gab Durchsuchungen der Kolonie. Der Sektenführer floh nach Argentinien, wo er 2005 gefasst wurde. In Chile wurde er verurteilt und saß dort bis zu seinem Tod 2010 im Gefängnis.
    "Der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt"
    Die juristische und auch die politische Aufklärung der Geschichte der Colonia Dignidad beziehungsweise der Villa Baviera kommen in Deutschland und in Chile nur schleppend voran; das düstere Kapitel beschäftigt beide Staaten bis heute. Einen wichtigen Anstoß zur Aufarbeitung hatte vor einem Jahr der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier gegeben:
    Der frühere Chef der sektenähnlichen Siedlung Colonia Dignidad in Chile, Paul Schäfer (Archivfoto vom 11.03.2005)
    Der frühere Chef der sektenähnlichen Siedlung Colonia Dignidad in Chile, Paul Schäfer (Archivfoto vom 11.03.2005), (dpa / picture alliance / EFE)
    "Nein, der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Über viele Jahre hinweg von den 60er- bis in die 80er-Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut, jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan", so Steinmeier damals vor großem Publikum im Weltsaal des Auswärtigen Amtes. Und mehr noch: Steinmeier kündigte an, Teile des Archivs zu öffnen – um Rolle und Verantwortung seines Ministeriums aufzuklären.
    "Die gesetzliche Schutzfrist für die Öffnung der Akten des Politischen Archivs im Auswärtigen Amt beträgt normalerweise 30 Jahre. Und ich habe entschieden, diese Schutzfrist um zehn Jahre zu verkürzen."
    Zustände waren seit 1966 bekannt
    Dieter Maier, der mehrere Bücher über die Colonia Dignidad geschrieben hat, begrüßt den erleichterten Archivzugang. Allerdings brauche es einen Forschungsauftrag und Geld, um die Verantwortung deutscher und chilenischer Institutionen tatsächlich lückenlos aufzuklären.
    "Wichtig ist, dass die Akten von Fachleuten gründlich durchgearbeitet werden, dass Akten anderer Ministerien und Dienststellen wie dem Bundesnachrichtendienst durchgearbeitet und überhaupt freigegeben werden und dass in Chile vor allem große Datenmengen endlich offengelegt und bearbeitet werden."
    Der deutschen und der chilenischen Regierung waren die Lebensverhältnisse in der Colonia Dignidad lange bekannt. Spätestens seit 1966, als ein Bewohner, der aus der Kolonie fliehen konnte, die Zustände in der Siedlung ausführlich beschrieben hatte. Über das Folterlager des chilenischen Geheimdienstes hatten die Vereinten Nationen und auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ab 1976 Berichte veröffentlicht.
    Deutsche Botschaft in der Kritik
    Dennoch sorgten die Regierungen beider Staaten jahrzehntelang nicht für den Schutz der in der Sektensiedlung misshandelten Menschen. Über die Fehler deutscher Diplomaten spricht auch Stephan Harbarth, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er hat die Villa Baviera mit einer Bundestagsdelegation besucht:
    "Wir wissen, dass auch die deutschen Staatsangehörigen, die dort gefangen gehalten wurden, in einigen Fällen es geschafft haben, aus dem Gelände zu fliehen, Hunderte von Kilometer sich durchzuschlagen bis nach Santiago de Chile, in der deutschen Botschaft dort um Hilfe gebeten haben in ihrer schwierigen Situation. Und die deutsche Botschaft ihnen nicht geholfen hat, sondern sie ihren Peinigern erneut ausgeliefert hat."
    Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet während einer Rede des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck in Chile.
    Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet während einer Rede des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck in Chile. (dpa / picture alliance / Elvis Gonzalez)
    Die deutsche Botschaft in Santiago de Chile steht mitunter auch heute noch in der Kritik. Erst im vergangenen Jahr kam es zu einem Eklat, als der damalige Bundespräsident Joachim Gauck zum Staatsbesuch nach Chile kam. Die Deutsche Botschaft richtete einen feierlichen Empfang aus – und lud dazu auch Reinhard Zeitner ein, der einst zur Führungsgruppe der Colonia Dignidad gehörte und in Chile bereits wegen Kindesentführung rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war.
    Die Täter haben Besitz
    Es folgten parlamentarische Anfragen; das Auswärtige Amt versuchte, sich zu rechtfertigen und sprach wörtlich von einem "Abwägungsprozess der Botschaft". Grenzen zwischen Tätern und Opfern seien in einem geschlossenen verbrecherischen System wie der Colonia Dignidad nicht mit letzter Trennschärfe zu ziehen.
    Das sieht der chilenische Rechtsanwalt Hernán Fernandez anders. Er vertritt Colonia-Opfer. Seiner Meinung nach sind die Täter grundsätzlich zu identifizieren.
    "Die Täter haben nicht oder nur sehr wenig gearbeitet. Sie stellten die Sicherheitstrupps. Sie hatten Freiheiten, konnten das Gelände verlassen, Auto fahren. Manche konnten heiraten. Sie haben Besitz. Und das ist vielleicht auch heute das Erkennungszeichen der neuen Machthaber: Sie hatten Besitz oder verwalten heute Besitz."
    Buchhalterin arbeitet noch immer in ihrem Büro
    Erst seit 2004 können die Bewohner der Villa Baviera selbst entscheiden, ob sie gehen oder bleiben wollen. Und sie bekommen Lohn für ihre Arbeit. An die 200 Frauen und Männer haben die Kolonie seitdem verlassen. Manche leben in Chile. Andere sind nach Deutschland gegangen. Etwa 100 Menschen leben heute noch in der Villa Baviera. Einen wirklichen Bruch aber, einen echten Neuanfang hat es in der deutschen Siedlung nicht gegeben:
    "Die gleiche Buchhalterin, die da damals das Geld raus gezogen hat, schwarz für Schäfer, jahre- oder jahrzehntelang, sitzt heute genau noch da oben im Büro und macht genau die gleiche Arbeit weiter. Und da muss man sich mal fragen, was macht die heute eigentlich?" sagt Winfried Hempel. Er wurde in der Colonia Dignidad geboren und ist dort aufgewachsen. Durch glückliche Umstände konnte er die Sekte Ende der 1990er-Jahre verlassen. Heute arbeitet er in Chile als Rechtsanwalt und vertritt viele ehemalige und jetzige Bewohner der Siedlung, die sogenannten "Colonos".
    Einige Akteure der früheren Führung um Paul Schäfer hätten sich über Posten in der heutigen Unternehmensstruktur der Villa Baviera Macht und Einfluss gesichert. Die Finanztransaktionen der Sekte seien nie genau untersucht worden, so Hempel.
    In Deutschland bislang keine Anklage
    Auch wenn die juristische Aufarbeitung insgesamt schleppend verläuft – immerhin wurden in Chile zuletzt einige Urteile gegen führende Mitglieder der christlichen Sekte rechtskräftig. So bestätigte der Oberste Gerichtshof die Einstufung der Colonia Dignidad und des Geheimdienstes DINA als kriminelle Vereinigung.
    "Es ging um Dinge wie Waffenproduktion, Waffenhandel, Entführung von politischen Gefangenen, Kindermissbrauch, Folter", sagt Buchautor Dieter Maier. In Deutschland ist es trotz mehrerer Ermittlungsverfahren seit den 1980er-Jahren in keinem Fall zur Anklage gegen führende Köpfe der Colonia Dignidad gekommen.
    Derzeit konzentrieren sich alle Ermittlungen auf Hartmut Hopp, den Sektenarzt und einstigen Vertrauten von Paul Schäfer. Dieter Maier erhebt schwere Vorwürfe gegen ihn:
    "Hartmut Hopp war nach seinem Medizinstudium von 1978 bis in die 2000er Jahre Leiter dieses Krankenhauses. Er persönlich hat viele Patienten mit großen Mengen an Psychopharmaka misshandelt. Diese Menschen haben lange Zeit gelitten darunter, leiden bis heute unter den Folgeschäden."
    Ehemaliger Arzt Hopp in Chile verurteilt
    In Chile wurde Hopp rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilt, wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch. Doch entzog Hopp sich dieser Strafe, indem er sich 2011 nach Deutschland absetzte; seither lebt er in Krefeld in Nordrhein-Westfalen. Die Bundesrepublik liefert grundsätzlich keine deutschen Staatsbürger an Nicht-EU-Länder aus. Allerdings beantragte Chile im Jahr 2014, Hopp solle seine chilenische Strafe in Deutschland verbüßen.
    Der deutsche Sektenarzt Hartmut Hopp auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2000.
    Der deutsche Sektenarzt Hartmut Hopp auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2000. (picture alliance/ dpa/ Bernd von Jutrczenka)
    "Das muss das Landgericht Krefeld jetzt prüfen und erklären, ob die Vollstreckung dieser chilenischen Strafe in Deutschland zulässig ist. Bedauerlich ist, dass dieser Vorgang so viel Zeit in Anspruch nimmt", sagt die deutsche Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf, die Opfer der Colonia Dignidad vertritt. Sie hat 2011 in Deutschland Strafanzeige gegen Hopp gestellt. Doch dieses deutsche Verfahren steckt wegen der schwerfälligen Zusammenarbeit zwischen chilenischer und deutscher Justiz seit Jahren fest.
    Weder Hopp noch sein Anwalt waren zu einem Interview mit dem Deutschlandfunk bereit. Im Januar dieses Jahres hatte der Arzt in einem Interview mit der Westdeutschen Zeitung erklärt, dass er sich, Zitat: "mitschuldig gemacht habe, nicht jedoch in tatsächlicher und somit juristischer Hinsicht". Von sexuellem Missbrauch an Kindern, Mord und Folter an politischen Gefangenen habe er bis in die 2000er-Jahre nichts gewusst. Die Führung der Kolonie sei ein, Zitat: "absoluter Ein-Mann-Betrieb" gewesen. Alles sei bei Sektenführer Paul Schäfer zusammen gelaufen. Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf hält dagegen:
    "Hartmut Hopp gehörte zur Führungsriege der Colonia Dignidad, war eine Art teilweise rechte Hand von Paul Schäfer, und gehörte meiner Meinung nach zum inneren Machtkreis der Colonia Dignidad."
    Auch Frauen sexuell missbraucht
    Es gibt zahlreiche Aspekte der Colonia Dignidad, die noch immer nicht ausreichend aufgeklärt sind. So werden erst jetzt, viele Jahre, nachdem Berichte über den Missbrauch an Jungen veröffentlicht wurden, auch Erklärungen von Frauen bekannt, die in vertrautem Rahmen eigene Erfahrungen von sexueller Gewalt thematisieren. Rechtsanwalt Winfried Hempel:
    "Ich hab von jedem meiner Mandanten die Biografie. Ich habe ungefähr die Geschichte von 15 Frauen, die als kleine Mädchen von Schäfer massiv missbraucht wurden, wo nie einer von spricht, weil man spricht immer nur von den Jungs."
    Professionell geführte Zeitzeugeninterviews könnten ein genaueres Bild der Colonia Dignidad ergeben. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast will dazu den Aufbau eines sogenannten Oral-History-Archivs von deutscher Seite aus unterstützen.
    "Sie brauchen ja auf dem Gelände, wo Menschen, Chilenen gefoltert worden sind, und Massengräber waren und sind Sie brauchen da ein Denkmal. Und die herausragende Frage, dass Deutschland sich bereit erklärt, an diesem Denkmal mitzuarbeiten und das man als erstes einen Prozessweg dafür findet."
    In Fragen der Erinnerungspolitik ist der Konsens am größten.
    Leben in einer Form moderner Sklaverei
    Mit finanzieller Unterstützung der chilenischen und der deutschen Regierung organisiert die Berliner Gedenkstätte "Haus der Wannseekonferenz" bereits seit zwei Jahren einen Diskussions- und Austauschprozess mit Opfern und Experten. Ziel ist die Einrichtung einer Gedenk- und Bildungsstätte in der Villa Baviera.
    Diese Aufnahme aus den 80er-Jahren zeigt den Eingang zum Gelände der Sekte Colonia Dignidad in Chile
    Diese Aufnahme aus den 80er-Jahren zeigt den Eingang zum Gelände der Sekte Colonia Dignidad in Chile (dpa / picture alliance)
    "Wir sind da noch ganz schön am Anfang. Es wird auch Zeit brauchen, aber wir haben auf jeden Fall die Geduld, diese Arbeit zu machen und daran mitzuwirken, dass in der Villa Baviera eine würdige und angemessene Erinnerungskultur gibt", sagt der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer. Doch für die Opfer der Colonia stehen derzeit finanzielle Sorgen im Vordergrund. Stephan Harbarth von der CDU:
    "Es gibt Opfergruppen, die zwar ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Die aber keine Rentenansprüche erworben haben, weil sie im Grunde in einer Form moderner Sklaverei leben mussten."
    So erging es auch Rainer Schmidtke. Er war als Kind in die Colonia Dignidad gebracht worden.
    "Mit zwölf wurde ich fest in Arbeit eingestellt. Wir haben Land urbar gemacht. Man hat mich auch sehr missbraucht, in diesem Fall auch zu Zwangsarbeit gezwungen. Und auch sonntags und Alltags, die ganze Lebenszeit, die 43 Jahre hindurch."
    Psychosoziale Betreuung gefordert
    2005 konnte er die Villa Baviera verlassen und kehrte in seinen Geburtsort Gronau in Westfalen zurück. Bei einem Treffen mit Bundestagsabgeordneten konnten er und andere in Deutschland lebende Colonia-Opfer ihre Situation kürzlich darstellen. Zugehört hat auch Michael Brand von der CDU.
    "Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, dass eine 70-jährige Frau, die in der Colonia als Opfer war, heute eine Rente von 112 Euro bekommt. Das geht nicht. Während ein Täter mit allen Raffinessen ausgestattet, nämlich der frühere Arzt Hopp, in Deutschland lebt, vermutlich hohe Finanzquellen im Hintergrund hat, an die ist schwer ranzukommen, ist alles hoch komplex. Aber wir dürfen es nicht zulassen, dass die Täter hier in Deutschland unbehelligt leben, und die Opfer in die Röhre schauen."
    Brand ist menschenrechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er fordert psychosoziale Betreuung und finanzielle Unterstützung für die mehr als hundert inzwischen in Deutschland lebenden ehemaligen Bewohner der Colonia Dignidad.
    Parlamentarische Initiativen zur Aufarbeitung
    In die parlamentarische Debatte kommt jetzt Bewegung. Ende März brachten Abgeordnete der Grünen und der Linken einen Antrag in den Bundestag ein. Darin fordern sie die Regierung auf, die historische und juristische Aufarbeitung mit konkreten Maßnahmen zu unterstützen und einen Hilfsfonds für die Opfer einzurichten. Gleichzeitig kündigten Vertreter von SPD und Union an, als Regierungskoalition einen eigenen Vorschlag zu präsentieren. CDU/CSU-Fraktions-Vize Stephan Harbarth:
    "Da ist für uns ganz wichtig, dass Maßnahmen ergriffen werden, um den Opfern zu helfen. Und wir werden uns auch bekennen müssen zu einer Mitverantwortung für die Geschehnisse, die sich in der Kolonie mit Blick auf chilenische Opfer zugetragen haben."
    Klar ist: Die Opfer der Colonia Dignidad werden älter, die Zeit drängt und manche fürchten, dass die Frage eines Hilfsfonds auf die lange Bank geschoben werden soll.