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Opfer des eigenen Erfolgs

Dementi hin oder her - was der National Gallery in London passiert ist, ist die klassische Freudsche Fehlleistung, die dem Museumsbetrieb unserer Tage tief ins Herz blicken lässt.

Von Carsten Probst | 14.05.2011
    Und dieses Herz kann man sich wohl in etwa so vorstellen wie den riesigen schwarzen zylindrischen Körper in Becketts Erzählung "Der Verwaiser", in dem die Menschen gedrängt im Kreis laufen, sich aneinander vorbeischieben "mit heftigen Stößen mit dem Fuß oder der Faust", "leisen Geräuschen vom Aneinanderprallen der Körper oder mit sich selbst".

    Es ist das Wesen des Blockbusters, das Beckett hier unfreiwillig mit beschrieben hat und das das vermeintlich kunstliebende Publikum sich immer dann anzutun gedenkt, wenn es wieder einmal soweit ist. Zum Beispiel im November, wenn die National Gallery alle Welt nach London einlädt, zur Leonardo-Schau, bei der, wie es heißt, nur ein Gemälde fehlen wird, das Abendmahl, ein Fresko, das in Mailand bleiben muss.

    Im Vorfeld dieser natürlich wieder alle bekannten Dimensionen sprengenden Schau also ist es völlig unerheblich, ob Direktor Nicolas Penny und sein Pressestab sich missverständlich ausgedrückt haben. Entscheidend ist, dass das, was jetzt Missverständnis genannt wird, zuvor eigentlich völlig plausibel erschienen ist, so plausibel, dass die Times, die FAZ und anschließend etliche andere Blätter davon ausgegangen sind, dass die National Gallery tatsächlich vorhat, ihrem Publikum für 16 Pfund Eintrittsgeld einen Aufenthalt von 30 Minuten in der Leonardo-Schau zu verkaufen. Es erscheint plausibel, weil es in der Logik des Systems, des Blockbustersystems liegt. Die Times lobte die National Gallery in einem Extra-Kommentar sogar für diese Maßnahme.

    Was aber selbst an diesem Lob deutlich wird ist: Alle, wirklich alle, hassen und verachten dieses System Blockbuster, selbst jene, die es verkaufen oder verkaufen müssen. Nicht nur manche als elitär verschriene Feuilletonisten, nicht nur die Museumsleute, die immer mehr zu Schadenbegrenzern gegenüber den Publikumsmassen werden. Auch die Publikumsmassen selbst hassen sich dafür, wie sie zusammengepfercht in dunklen Ausstellungsschläuchen im Schweißnebel endloser Prozessionswülste an Meisterwerken vorbeigeschleust werden, um am Ende fast nichts gesehen zu haben.

    Das Londoner Missverständnis, wie wir es hiermit einmal nennen wollen, wirft auch ein Schlaglicht auf die ambivalente und bedauernswerte Rolle der Museumsleute, die eigentlich Wissenschaftler sind und wissen, dass ein Original dazu da ist, um es lange anzusehen, von verschiedenen Blickpunkten aus, um aus der Struktur seiner bloßen physischen Präsenz etwas herauszulesen, was die Reproduktion eben nicht zeigt.

    Die Falten und Unregelmäßigkeiten des Farbauftrags, beispielsweise, einen Pinselduktus, falls vorhanden, eine fast unsichtbare Übermalung und so weiter. Das kann pro Bild schon einmal einige Stunden, bei Experten auch Tage oder Wochen dauern. Diese bedauernswerten Museumsleute sind nun aber seit geraumer Zeit offenbar gezwungen, in teuren Leihgeschäften gerade jenen die Originale vorzusetzen, die sie ohnehin nur für ein paar Sekunden mit Blicken streifen und ansonsten wenn überhaupt dasselbe darauf sehen wie auf der Postkarte im Shop hintendran. Der absurde Zynismus der Situation zwingt sie sogar dazu, Ausstellungen eigens deshalb zu organisieren, damit gerade diese blicklosen Massen das Haus stürmen. Mag ja sein: Es sind diese Massen, die das Geld bringen, die 16 Pfund für nichts zahlen außer für ein paar Fußtritte, um hinterher zu sagen: Ich bin dabei gewesen. Aber es sind die Museumsleute, die klagen, dass der internationale Leihverkehr inzwischen alle Dimensionen sprengt und dass die Museen nicht für ein reines Eventpublikum ausgelegt sind.

    Was hindert eigentlich die Kulturpolitiker daran, diese selbstgemachte Absurdität zu beenden - Museen finanziell unauffällig gut zu stellen und nicht mehr als Marketingobjekte für die öffentlichen Bilanzen auszuschlachten? Was hindert sie daran, die Museen mit ihren Beständen arbeiten zu lassen, ohne Quotenzwang und politisches Hineinreden in die Programme. Schließlich war es doch genau das, wodurch diese Museen ihre Bedeutung erst erhielten. Jeder möchte das: die Fachleute sowieso, und mit wenigen Ausnahmen auch das Feuilleton, das Publikum und die Politiker selbst.

    Warum, zum Teufel, macht ihr das nicht einfach?