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Opfer Kind

Alkoholsucht zerstört Familien. Kinder mit abhängigen Elternteilen haben ein sechsmal höheres Risiko, selbst suchtkrank zu werden. Und auch psychische Erkrankungen treten bei ihnen häufiger auf.

Von Doris Arp |
    "Warum trinken Menschen? Aus Freude und wegen Problemen. Weil sie einsam sind, nicht wissen, wofür sie überhaupt da sind, es gibt viele Gründe. Alkohol ist seit Jahrtausenden ein Bestandteil unserer Kultur. Die einzige Frage ist, wie der einzelne und die Gesellschaft damit umgeht, damit wir den Spaß haben ohne zuviel Probleme."

    Sie trinken gerne und sie trinken viel, die Skandinavier. Viel zuviel, sagt der Suchtforscher Teuvo Peltoniemi von der A-Clinic Stiftung in Helsinki. Sie ist Finnlands größte Einrichtung für Therapie, Prävention und Forschung von Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Jährlich werden dort etwa 30.000 Patienten behandelt.

    "Der Alkoholkonsum hat in den letzten 30 Jahren erheblich zugenommen. Er ist von 2,5 Liter auf heute 10 Liter pro Kopf gestiegen. Der Anstieg war kontinuierlich. Er betrifft vor allem Frauen und junge Menschen, die früher und immer stärker trinken. Ich glaube, wir haben in Finnland den Höhepunkt erreicht. Schon jetzt kann man sagen, das Gesundheitsproblem Nummer eins in Finnland ist der Alkohol."

    Neben den USA haben die skandinavischen Länder die längste Erfahrung im Bereich der Suchtforschung. Doch immer noch gilt auch dort die Therapie von Alkoholabhängigkeit als äußerst schwierig. Etwa 50 Prozent greifen innerhalb der ersten drei Monate nach einer Therapie wieder zur Flasche. Die Präventionsarbeit ist deshalb in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückt. Und damit geriet auch eine Gruppe in den Blick, die man bislang überhaupt nicht als Betroffene wahrgenommen hatte: die Kinder.

    "Wir haben gerade eine Untersuchung gemacht, wie viele Kinder in finnischen Familie aufwachsen, in denen stark getrunken wird, so dass sie darunter leiden. Das ist jeder zehnte Finne. Das bedeutet, dass 100.000 Kinder in sehr schwierigen Familien aufwachsen. Ihre Probleme bleiben nicht auf die Kindheit begrenzt, sondern setzen sich fort bis ins Erwachsenenalter. Sie haben psychische Probleme, sie werden misshandelt, sie leiden unter Angst. Und selbst wenn sie als Kind sagen, sie werden niemals so trinken wir ihr Vater - sie kennen keine andere Form, mit Problemen umzugehen, deshalb fangen sie selbst häufig an zu trinken."

    Alkoholmissbrauch lernen Kinder oft von ihren Eltern. Eine amerikanische Übersichtsstudie zeigte, dass von knapp 4000 alkoholabhängigen Menschen 30,8 Prozent einen suchtkranken Elternteil hatten. Ganz besonders gefährdet sind Jungen mit abhängigen Vätern. Hinzu kommt ein erhöhtes genetisches Risiko.

    Aber Kinder sind auch noch in anderer Weise betroffen, sagt Michael Klein, Professor für klinische Psychologie und Suchtforschung an der Katholischen Fachhochschule NRW. Er spricht von etwa 2,6 Millionen Kindern aus betroffenen Familien in Deutschland.
    "Bei denen gehen wir davon aus, auch das ist durch Studien in den letzten Jahren offen geworden, dass etwa in jeder dritten Familie physische Gewalt regelmäßig herrscht. Das ist etwa viermal so häufig wie in der Restbevölkerung."

    Die Suchterkrankung macht Eltern unberechenbar und unbeherrscht. Am meisten gefährdet sind Kinder von suchtkranken Müttern, ganz besonders, wenn sie alleinerziehend sind. Sie alle leiden unter psychischem und physischem Stress.

    "Der sich dann wieder darin äußert, dass diese Kinder häufiger suchtkrank werden, häufiger auch andere psychische Störungen, zum Beispiel Ängste, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, entwickeln."

    Ihnen zu helfen, ist aber gar nicht so einfach. Denn Alkoholismus in der Familie ist ein riesiges Tabu. Das macht auch die Forschung schwierig, sagt Professor Klein. Die meisten Studien sind nicht repräsentativ, weil sie mit Familien arbeiten, wo ein Elternteil bereits in Behandlung ist. Die Katholische Fachschule hat vor einigen Jahren etwa 8000 Schüler befragt zu ihrem eigenen Umgang mit Alkohol und Drogen, aber auch zu ihrer Familiensituation.

    "Und die Quote derer, die dort ein Alkoholproblem ihrer Eltern angegeben haben, war so extrem gering, dass nach dieser Studie eigentlich nur weniger als zwei Prozent der Eltern ein Alkoholproblem hätten, wo wir aber genau wissen, dass es so nicht sein kann."

    In diesem Punkt ist Finnland weiter. Das Problem ist dort in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sagt Suchtforscher Teuvo Peltoniemi.

    "Wir hatten die gleiche Situation in Finnland. In unserer Stiftung haben wir seit 20 Jahren daran gearbeitet, diese Situation zu verbessern und den Menschen verständlich zu machen, dass die Kinder unter dem Alkoholmissbrauch der Eltern leiden. Tatsächlich haben wir mehr als 12.000 Fachkräfte, Lehrer, Kindergärtner, Sozialarbeiter ausgebildet. Dazu ist nicht viel nötig, es kommt vor allem darauf an zu lernen, die Perspektive der Kinder einzunehmen."

    Aufklärung in Kindergärten und Schulen ist eine gute Prävention, die nicht viel kostet, sagt der finnische Suchtforscher. Dort können Kinder erreicht werden, außerhalb ihrer Familien. Denn es ist nicht leicht, suchtkranken Eltern verständlich zu machen, dass ihre Kinder Hilfe brauchen. Deshalb hat die Stiftung in Helsinki auch ein umfangreiches Informations- und Chat-Angebot im Internet für Kinder aufgebaut. Ähnliches gibt es seit 2003 auch hierzulande. Für die Familien seien in Deutschland die Hilfsangebote in der Medizin, der Pädagogik, den Beratungsdiensten, der Jugendhilfe eigentlich ausreichend, meint der Psychologe Michael Klein.

    "Das Problem ist, dass diese Hilfen oft nicht adäquat miteinander zusammenarbeiten, dass es keine langfristige Fallbetreuung gibt, also ein echtes Case-Management stattfindet, so dass sich die Hilfesektoren in ihrer Wirkung nicht ergänzen sondern sich gegenseitig aufheben. Da besteht noch viel Optimierungsbedarf."

    Die gemeinsame Tagung mit den finnischen Suchtforschern in Bad Ems diente vor allem dem Erfahrungsaustausch im Bereich der Prävention und frühen Intervention. Denn Vorbeugung ist die beste Hilfe, immerhin ist das Risiko der betroffenen Kinder sechsmal größer selbst suchtkrank zu werden und etwa viermal größer psychisch zu erkranken.

    "Wobei diese Herausforderung als solche noch nicht umfassend angenommen worden ist. Das heißt, es gibt abgesehen von einigen Standorten, wo Modellprojekte stattfinden, gibt es weder in der Jugendhilfe, noch in der Suchthilfe, noch in den Schulen flächendeckend ein System der frühen Hilfen, der Frühintervention, was dazu führen könnte, diese enorm hohen Zahlen in der Zukunft etwas abzusenken."