"Beim Ministerium für Staatssicherheit klickten die Handschellen, und dann war man weg, und die ganz klare Botschaft war: Irgendwie kriegen wir dich zum Reden!"
Jörg Drieselmann sitzt in Cargohose und bunt gestreiftem Pulli vor Schülern einer Thüringer Regelschule. Der 56-Jährige ist als Zeitzeuge geladen, um über Täter und Opfer der DDR zu reden. Wie viele Opfer es gibt, kann er nicht sagen. 43.000 Menschen beziehen heute schätzungsweise Opferrente. Doch ist das Thema damit erledigt? Jörg Drieselmann ist oft in Schulen unterwegs, steht Rede und Antwort.
"Meine Eltern sind beide Mitglieder in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gewesen."
18 Jahre war er, als er am 13.August 1974 mit einem Plakat zur Arbeit ging, um auf die Maueropfer an der deutsch-deutschen Grenze nach 1961 aufmerksam zu machen. 33.974 Menschen hatten die DDR damals schon verlassen, 164 wurden auf der Flucht getötet, das wusste Jörg Drieselmann damals. Es waren Zahlen, die er am Abend zuvor in einer Radiosendung des Senders RIAS gehört und auf sein Plakat gepinselt hatte. Bereits am Nachmittag war er in Haft. Ein Kollege hatte ihn denunziert: Ein Jahr Untersuchungshaft folgte im roten Backsteingebäude der Erfurter Andreasstraße. Jörg Drieselmann erzählt aus seinem Haftalltag:
"N`Anwalt kannst du sehen. Aber – der ist einer von uns. Botschaft. Und wenn du mit dem Anwalt redest, dann redest du mit dem immer noch über das Wetter oder private Angelegenheiten. Aber nicht über das Ermittlungsverfahren. Mit dem Anwalt durfte ich erst reden nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens und Fertigstellung der Anklageschrift, wenn alle Messen gesungen waren."
Die 16-Jährigen sitzen um ihn herum, kennen seine Akten, haben Briefe gelesen, Fotos gesehen und sich mit seinem Leben – speziell in der Haft – auseinandergesetzt.
""Und da dachten wir, dass die Beziehung nur durch die ganzen Verhöre gekommen sind und dass da nicht Sympathie aufgekommen ist und zu dem Oberstleutnant wenig Sympathie und zu Doris – war Liebe - aber auch angespannt, während Sie in der Haft waren. Stimmt das so überein?""
Jörg Drieselmann nickt. Doris, sagt er, ja, es war eine Schlüsselperson in seinem Leben. Auch sie wird wegen ihm verhaftet und versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Stasi erpresst ihn:
"Und plötzlich gerate ich ganz extrem unter Druck. Und von da an habe ich denen alles gesagt, was sie von mir hören wollten. Alles. Also auch vieles, was nichts mit Wahrheit und Wirklichkeit zu tun hatte!"
Knapp ein Jahr später wird er verurteilt, kommt in die Haftanstalt Cottbus und wird wiederum ein Jahr später freigekauft:
"Die Frage ist, wie ich heute damit umgehe, damals so eine Scheiße erzählt zu haben! Ich glaube mir ist es wichtig festzustellen, dass ich in dieser U-Haft-Situation, ich muss dort nicht Held sein. Ich fühle mich nicht schlecht deshalb, weil ich diesem Druck nachgegeben habe. Ich habe mich nicht wirklich in diese Drucksituation gebracht, und die Verantwortlichkeit liegt beim Ministerium für Staatssicherheit und nicht bei mir."
Es sind klare Worte eines Menschen, der Abstand gewonnen hat durch ein neues Leben jenseits der – wie er heute sagt – sozialistischen Menschengemeinschaft. Wenn er heute mit Schülern redet, so trifft er auf Fragen und große Offenheit. Drieselmann redet über alles, seine Zelle, den Haftalltag, das heimliche Morsealphabet irgendwo versteckt, und den Willen, nicht aufzugeben. Seine Botschaft: Nehmt euer Leben in die Hand, passt auf und lernt aus der Geschichte:
"Ich habe die Herrschaft der SED, wie soll ich das sagen, an ihren schmutzigsten Stellen gesehen."
Wenn er älteren Lehrern gegenüber sitzt, zum Beispiel beim Plausch vor einer gemeinsamen Unterrichtsstunde, dann sei das manchmal schon beklemmend, für ihn – aber auch fürs Gegenüber – wenn man einer Generation angehöre, bemerkt er. Nicht alle können über dieses Gefühl so offen reden wie Lehrer Hartmut Gerlach:
"Das ist auf jeden Fall komisch, das ist auch eine Erinnerung an unsere Zeit. Ich war ja damals auch Lehrer in der DDR. Ich würde mir wünschen, dass Schüler noch mehr eine Frage stellen: Wie war denn das bei Ihnen? Das machen sie nicht, das wäre für mich auch eine Herausforderung. Aber das ist schon eine interessante Erinnerung."
Saalfeld in Ostthüringen.
"Sie können da alle fragen, rings rumgehen und fragen: Wer ist der Roth? Da sagen die: Das ist der Stasi-Roth! Das sag’ ich selber!"
Stasi-Roth ist Bernd Roth, 62 Jahre alt, schwarze Jeans, schwarzes Jackett und schwarzes Base Cap. Groß, kräftig, offener Blick.
"Wenn ich ein Haus verkaufe in Saalfeld, und ich mache einen ersten Kontakt als Makler, da kriegen die Leute sofort von mir im Anfangsgespräch gesagt. Sie wissen aber, worauf Sie sich hier einlassen? Vor Ihnen sitzt der Stasi-Roth! Ja, haben wir schon gehört. Ist okay!"
Er ist keiner, der in Internet-Blogs oder internen Foren ehemaliger Stasi-Mitarbeiter die eigene Vergangenheit beschönigt. Er sagt: Hier bin ich, fragt mich, ich antworte:
"Und da gibt’s eben viele, die sagen: Aha, Hmm. Ich sage, wenn Sie nicht mögen, dann steh’ ich jetzt wieder auf und geh."
Das Thema ist sein Thema. Bis heute. Geboren 1951. Mit 16 Jahren zum ersten Mal angesprochen von einem Stasi-Kontaktmann. Ein Jahr später wurde er inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die Karriere ging straff weiter: Unterleutnant, Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann. Zuletzt war er Major – bis 1990: Dem Jahr seiner Entlassung aus dem Dienst des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit:
"Wir haben zum Schluss Vorgesetzte gehabt, die haben wir selber schon abgewählt innerlich, die waren von unserem Standpunkt her schon gar nicht mehr vertretbar. Denken Sie, ich habe 1989 noch geglaubt, dass der Mielke in Berlin noch ein vertretbarer Mann wäre?"
Erich Mielke – Chef der Staatssicherheit – hatte zuletzt 189.000 inoffizielle und 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter in seiner Behörde. Bernd Roth war einer davon. Sie haben gut verdient – das drei- bis vierfache eines normalen Arbeiters. Sie hatten Privilegien und Macht, Macht über Menschen zu entscheiden. Und sie hatten Angst zu versagen oder selbst fallen gelassen zu werden:
"Jeder, der rausgeschmissen wurde, da hat man so richtig kräftig nachgetreten, der durfte nirgendwo wieder auf ein Podest kommen. Ich kenn dafür Beispiele."
Wenn Bernd Roth heute über sein Leben in der DDR spricht, dann nicht, um sich reinzuwaschen, sagt er – sondern mit dem Anliegen, verstanden zu werden. Es war nicht gut. Ich entschuldige mich bei den Opfern, sagt er mit erhobenem Haupt – doch "in Sack und Asche gehen" will er nicht. Noch habe sich niemand bei ihm gemeldet, keines der Opfer, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ausweichen würde er nicht.
"Ich bin auf dem Standpunkt, dass wir das richtig verstehen: Versöhnung ist nicht. Vergebensprobleme sind schwierig. Schlussstrichmentalität: Nein. – Aber es muss zumindest zulässig sein, dass wir differenzieren."
Differenzieren "ja" - Versöhnen zwischen Tätern und Opfern: "nein". Das kann es nicht geben, sagt Bernd Roth. Dafür sei zu viel passiert. Der Blick in die Akten genüge. Nur wenige könnten diese überhaupt korrekt lesen, weil der Duktus manchmal fast übersetzt werden muss, um die Struktur dahinter zu verstehen. Er würde beim Übersetzen helfen, sagt der ehemalige Major. Und noch etwas: Die Akten müssen offen bleiben, so lange es Fragen gibt.
Eike Malgut-Krumsdorf sitzt unter einem Sonnenschirm im Schrebergarten ihres Vaters. Auf ihren Knien liegt eine Mappe, aus der sie ein Foto holt. Sie legt sie auf den Tisch.
"So war sie … Also sie war ganz klein, 1,53 und hatte auch einen sehr starken Charakter und hat sicher auch polarisiert."
Die Fotografie zeigt eine Frau Ende 40, mit dunkelbraunen, kurz geschnittenen Haaren und einem entwaffnenden Lachen. Der Tochter fällt es leichter, über ihre verstorbene Mutter zu reden, wenn sie ein Bild von ihr vor sich hat. Beide Frauen stammen aus Halle an der Saale. Wenige Wochen nach der friedlichen Revolution verließ ihre Mutter Hals über Kopf ihre Heimatstadt. Sie wolle sich in Köln ein neues Leben aufbauen, ihr neuer Ehemann habe dort ein tolles Jobangebot, erzählte sie damals ihrer 16-jährigen Tochter. Erst Jahre später sollte Eike Malgut-Krumsdorf den wahren Grund erfahren, warum ihre Mutter damals so schnell die DDR verlassen wollte. Sie hatte Angst vor der Stasi, erzählt Eike Malgut-Krumsdorf. Ihre Mutter arbeitete als Fürsorgerin in einer Klinik und betreute Patienten mit Geschlechtskrankheiten. Manchmal brachte sie diese Akten mit zu uns nach Hause, erinnert sich die 38-Jährige.
"Es gab über jeden Patienten Akten mit so einem Deckblatt. Und da wurden dann Name und Adresse eingetragen und unter anderem die verschiedenen Geschlechtspartner. Da gab es dann so Spalten eins, zwei, drei, ich weiß nicht, bis wohin die Spalten gingen. Auf jeden Fall musste jeder Patient seine Geschlechtspartner der letzten X-Monate eintragen mit Namen und Adresse."
Menschen mit einer Aidserkrankungen mussten sofort gemeldet werden, erinnert sich Eike Malgut-Krumsdorf. Viele Patienten seien noch im Krankenhaus von der Polizei abgeholt worden, habe ihr später ihre Mutter erzählt. Was dann mit ihnen passierte, wusste sie sie nicht, aber sie empfand es als unmenschlich.
"Also meine Mutter hatte von Patienten die Akten geschönt oder auch verschwinden lassen. Sie hat dann Geschlechtspartner einfach nicht angegeben von den Personen, weil sie nicht wollte, dass diese Leute dann Probleme bekommen. Oder sie hat dann wirklich Akten von ihren eigenen Patienten verschwinden lassen. Wie sie das gemacht hat, ob sie die verbrannt hat die Akten, geschreddert hat, irgendwo versteckt hatte oder bei uns zuhause hatte, das weiß ich nicht."
Auch weiß sie nicht, über welchen Zeitraum ihre Mutter dies getan hat. Aber Ende 1989 warnte man ihre Mutter: Sie solle auf sich aufpassen. Man wisse, dass sie die Akten frisiere. Darum habe ihre Mutter Halle so schnell verlassen, erzählt ihre Tochter. Über die wahren Gründe habe sie jahrelang geschwiegen, ihr erst davon erzählt, als sie schwer erkrankt war. Bei der Stasiunterlagenbehörde wollte sie immer Akteneinsicht beantragen, habe es aber immer vor sich hergeschoben, sagt Eike Malgut-Krumsdorf. Das will die Tochter nun nachholen. Vor einigen Wochen hat sie bei der Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde in Halle den Antrag gestellt. Sie will wissen, was ihre Mutter damals getan hat, wer darüber etwas wusste und ob man sie womöglich bei der Stasi angeschwärzt hat. Aber egal welche Informationen ich in den Akten finde, ich möchte sie nicht verwenden, sagt die 38-Jährige. Sie findet es nur wichtig, all das endlich aufzuarbeiten.
"Also ich denke, das ist sehr wichtig. Ich glaube, das ist vielleicht von der Nachfolgegeneration, also von uns, jetzt sicher einfacher, für Aufklärung zu sorgen als für unsere Elterngeneration, die da mitten drin gewesen sind. Wir sind unbedarfter. Für unsere Elterngeneration ist das schon schwieriger. Die haben halt diesen Staat aufgebaut und mitgetragen."
Schadeleben. Ein 700-Seelen-Dorf. Idyllisch gelegen an einem See in Sachsen-Anhalt. In der Dorfmitte betreibt Holger Reinäcker eine Metallbaufirma. Der 53-Jährige engagiert sich im Gemeinderat. Nach der Wiedervereinigung haben wir nach vorn geschaut, nicht zurück, erinnert er sich. Lange wollte der Sohn nichts davon wissen, ob womöglich Nachbarn den eigenen Vater bespitzelten. Der wetterte regelmäßig gegen die DDR, ging auch nie zur Wahl.
"Zum einen hatte man genügend zu tun in der Nachwendezeit. Und zum anderen muss ich ehrlich sagen, war mir bewusst, dass man mit diesem Thema höllisch was lostreten kann. Das haben wir damals vermieden."
Inzwischen sieht Holger Reinäcker das anders. Auch er hat jetzt Einsicht in die Unterlagen seines verstorbenen Vaters beantragt.
"Ich weiß von meinem Vater, dass er Stimmung im Dorf machen wollte. Und ich weiß, wer hier diese, na ja, ich sage mal in Anführungsstrichen, diese DDR-Freunde gewesen sind. Und das würde ich ganz einfach schriftlich bestätigt kriegen, ob da was dran ist oder ob da nichts dran ist."
Seit die Bedingungen für eine Akteneinsicht Anfang Januar erleichtert wurden, habe sich die Anzahl der Anträge verdoppelt, sagt Uta Leichsenring, Leiterin der Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde in Halle. Sie hat festgestellt, dass vor allem Kinder, aber auch Enkelkinder, zunehmend wissen wollen, ob ihre verstorbenen Angehörigen in die Aktivitäten des DDR-Geheimdienstes verstrickt oder davon betroffen waren. Über das Thema Staatssicherheit sei in den Familien nur selten geredet worden. Doch oft spielten die Brüche im Leben der Eltern auch eine nachhaltige Rolle im eigenen Leben.
"Dass sie dann irgendwann doch sagen, also ich möchte die Klarheit schon lieber haben. Teils für den eigenen Seelenfrieden, teils weil doch für viele die Klarheit und die Wahrheit, auch wenn sie vielleicht schmerzlich ist, wichtiger ist, als dieses nicht Wissen wollen und das Verdrängen."
"Ich werde ja selbst in meinen eigenen Reihen nun als Verräter abgestempelt."
Bernd Roth steht in Saalfeld auf einer bewaldeten Kuppe und blickt nach oben. Eine zusätzliche kleine Existenz hat er hier aufgebaut: Thüringens zweiten Hochseilgarten.
"Es ist nicht so, als wenn das normal wäre, was wir hier miteinander tun. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Da gibt’s hier schon in Saalfeld Leute, die sagen: der Verräter Roth. Und damit muss ich auch zurechtkommen. Es gibt andere Offiziere, die sagen, Mensch das ist toll."
Das Lärchenholz glänzt silbern, die Seile sind unbenutzt an einem verregneten Frühlingstag. Roth blickt nach oben.
"Ich bin doch nur der dreiste Sturkopf, der sich rausgewagt hat; aus der Deckung rauszugehen."
Bernd Roth vor wenigen Monaten in Erfurt. Es ist eine Veranstaltung der Evangelischen Kirche – auf dem Podium sitzt Landesbischöfin Ilse Junkermann; neben ihr Marianne Birthler – Amtsvorgängerin von Roland Jahn in der Stasi-Unterlagenbehörde. Ihr Thema: Versöhnung von Tätern und Opfern und wie die Kirche damit umgehen kann. Der Saal im Augustinerkloster ist bis zum letzten Platz gefüllt.
Als der ehemalige Stasi-Mitarbeiter Bernd Roth an das Mikrofon tritt, verstummt die Menge. Die Blicke sind auf ihn gerichtet. Auf einen, der symbolisch die Hand ausstreckt, das Gespräch anbietet und Entschuldigung sagt. Er kehrt an seinen Sitzplatz zurück. Ein älterer Mann neben ihm nickt ihm anerkennungsvoll zu.
"Das, was ich heute tue, ist vielleicht eine Art Wiedergutmachung – aber nicht aus einem rationalen Verständnis heraus, sondern aus einem emotionalen Verständnis heraus – das kann schon so sein."
Er stehe zu allem, was er gemacht habe: die Pläne für Observierungen, das Bespitzeln von Menschen, die man für angeworbene Spione des Westens hielt. Wirtschaftsspionage-Abwehr war sein Feld. Was aus jenen wurde, die durch sein Tun an die sogenannte Abteilung 9 und von dort in Haftanstalten geliefert worden sind – hat er nicht erfahren, sagt Bernd Roth heute.
"Auch das ist verkehrt, wenn man heute meint, die 9, also die Untersuchungsabteilung ist für alles verantwortlich, was an schlimmen Dingen passiert ist. Verantwortlich ist der Mitarbeiter, der es angefangen hat, und verantwortlich ist der Mitarbeiter, der gesagt hat, daraus mache ich einen Fall, obwohl es vielleicht schon im Anfang kein Fall war."
Der "Fall Drieselmann" war aus Sicht der Stasi selbst dann nicht abgeschlossen, als jener bereits in Westberlin studierte. Nach seinem Freikauf durch den Westen half Jörg Drieselmann anderen Republikflüchtlingen. Die Stasi hatte ihn noch immer im Visier. Heute ist er Geschäftsführer der Gedenkstätte Normannenstraße und arbeitet in jenem Gebäude, von dem aus die Stasi ihr Imperium lenkte. Heute, sagt Drieselmann, kenne er auch den Namen des Offiziers, der ihn damals drangsalierte:
"Wir wurden mit Nummer angesprochen. "Eins" mitkommen! – und dann wurde man irgendwohin gebracht, meist in Zimmer 8, wo der Oberleutnant saß, wo ich heute erst weiß, dass er Sieder mit Namen heißt."
Wenn Drieselmann über Versöhnung nachdenkt, so hinterlässt das auch bei ihm einen bitteren Beigeschmack:
"Kein Platz! Absolut kein Platz für irgendeine Sympathie. Das könnte ich mit Stasi-Mitarbeitern, mit denen ich nichts zu tun hatte. Da könnte ich sagen: 'Ja, ich verstehe es, wie man auf der schiefen Ebene in diesen Apparat rutschen kann'. Aber das geht nur auf der "über-individuellen" Ebene. Es geht nicht mit Sieder!"
Jörg Drieselmann sitzt in Cargohose und bunt gestreiftem Pulli vor Schülern einer Thüringer Regelschule. Der 56-Jährige ist als Zeitzeuge geladen, um über Täter und Opfer der DDR zu reden. Wie viele Opfer es gibt, kann er nicht sagen. 43.000 Menschen beziehen heute schätzungsweise Opferrente. Doch ist das Thema damit erledigt? Jörg Drieselmann ist oft in Schulen unterwegs, steht Rede und Antwort.
"Meine Eltern sind beide Mitglieder in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gewesen."
18 Jahre war er, als er am 13.August 1974 mit einem Plakat zur Arbeit ging, um auf die Maueropfer an der deutsch-deutschen Grenze nach 1961 aufmerksam zu machen. 33.974 Menschen hatten die DDR damals schon verlassen, 164 wurden auf der Flucht getötet, das wusste Jörg Drieselmann damals. Es waren Zahlen, die er am Abend zuvor in einer Radiosendung des Senders RIAS gehört und auf sein Plakat gepinselt hatte. Bereits am Nachmittag war er in Haft. Ein Kollege hatte ihn denunziert: Ein Jahr Untersuchungshaft folgte im roten Backsteingebäude der Erfurter Andreasstraße. Jörg Drieselmann erzählt aus seinem Haftalltag:
"N`Anwalt kannst du sehen. Aber – der ist einer von uns. Botschaft. Und wenn du mit dem Anwalt redest, dann redest du mit dem immer noch über das Wetter oder private Angelegenheiten. Aber nicht über das Ermittlungsverfahren. Mit dem Anwalt durfte ich erst reden nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens und Fertigstellung der Anklageschrift, wenn alle Messen gesungen waren."
Die 16-Jährigen sitzen um ihn herum, kennen seine Akten, haben Briefe gelesen, Fotos gesehen und sich mit seinem Leben – speziell in der Haft – auseinandergesetzt.
""Und da dachten wir, dass die Beziehung nur durch die ganzen Verhöre gekommen sind und dass da nicht Sympathie aufgekommen ist und zu dem Oberstleutnant wenig Sympathie und zu Doris – war Liebe - aber auch angespannt, während Sie in der Haft waren. Stimmt das so überein?""
Jörg Drieselmann nickt. Doris, sagt er, ja, es war eine Schlüsselperson in seinem Leben. Auch sie wird wegen ihm verhaftet und versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Stasi erpresst ihn:
"Und plötzlich gerate ich ganz extrem unter Druck. Und von da an habe ich denen alles gesagt, was sie von mir hören wollten. Alles. Also auch vieles, was nichts mit Wahrheit und Wirklichkeit zu tun hatte!"
Knapp ein Jahr später wird er verurteilt, kommt in die Haftanstalt Cottbus und wird wiederum ein Jahr später freigekauft:
"Die Frage ist, wie ich heute damit umgehe, damals so eine Scheiße erzählt zu haben! Ich glaube mir ist es wichtig festzustellen, dass ich in dieser U-Haft-Situation, ich muss dort nicht Held sein. Ich fühle mich nicht schlecht deshalb, weil ich diesem Druck nachgegeben habe. Ich habe mich nicht wirklich in diese Drucksituation gebracht, und die Verantwortlichkeit liegt beim Ministerium für Staatssicherheit und nicht bei mir."
Es sind klare Worte eines Menschen, der Abstand gewonnen hat durch ein neues Leben jenseits der – wie er heute sagt – sozialistischen Menschengemeinschaft. Wenn er heute mit Schülern redet, so trifft er auf Fragen und große Offenheit. Drieselmann redet über alles, seine Zelle, den Haftalltag, das heimliche Morsealphabet irgendwo versteckt, und den Willen, nicht aufzugeben. Seine Botschaft: Nehmt euer Leben in die Hand, passt auf und lernt aus der Geschichte:
"Ich habe die Herrschaft der SED, wie soll ich das sagen, an ihren schmutzigsten Stellen gesehen."
Wenn er älteren Lehrern gegenüber sitzt, zum Beispiel beim Plausch vor einer gemeinsamen Unterrichtsstunde, dann sei das manchmal schon beklemmend, für ihn – aber auch fürs Gegenüber – wenn man einer Generation angehöre, bemerkt er. Nicht alle können über dieses Gefühl so offen reden wie Lehrer Hartmut Gerlach:
"Das ist auf jeden Fall komisch, das ist auch eine Erinnerung an unsere Zeit. Ich war ja damals auch Lehrer in der DDR. Ich würde mir wünschen, dass Schüler noch mehr eine Frage stellen: Wie war denn das bei Ihnen? Das machen sie nicht, das wäre für mich auch eine Herausforderung. Aber das ist schon eine interessante Erinnerung."
Saalfeld in Ostthüringen.
"Sie können da alle fragen, rings rumgehen und fragen: Wer ist der Roth? Da sagen die: Das ist der Stasi-Roth! Das sag’ ich selber!"
Stasi-Roth ist Bernd Roth, 62 Jahre alt, schwarze Jeans, schwarzes Jackett und schwarzes Base Cap. Groß, kräftig, offener Blick.
"Wenn ich ein Haus verkaufe in Saalfeld, und ich mache einen ersten Kontakt als Makler, da kriegen die Leute sofort von mir im Anfangsgespräch gesagt. Sie wissen aber, worauf Sie sich hier einlassen? Vor Ihnen sitzt der Stasi-Roth! Ja, haben wir schon gehört. Ist okay!"
Er ist keiner, der in Internet-Blogs oder internen Foren ehemaliger Stasi-Mitarbeiter die eigene Vergangenheit beschönigt. Er sagt: Hier bin ich, fragt mich, ich antworte:
"Und da gibt’s eben viele, die sagen: Aha, Hmm. Ich sage, wenn Sie nicht mögen, dann steh’ ich jetzt wieder auf und geh."
Das Thema ist sein Thema. Bis heute. Geboren 1951. Mit 16 Jahren zum ersten Mal angesprochen von einem Stasi-Kontaktmann. Ein Jahr später wurde er inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die Karriere ging straff weiter: Unterleutnant, Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann. Zuletzt war er Major – bis 1990: Dem Jahr seiner Entlassung aus dem Dienst des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit:
"Wir haben zum Schluss Vorgesetzte gehabt, die haben wir selber schon abgewählt innerlich, die waren von unserem Standpunkt her schon gar nicht mehr vertretbar. Denken Sie, ich habe 1989 noch geglaubt, dass der Mielke in Berlin noch ein vertretbarer Mann wäre?"
Erich Mielke – Chef der Staatssicherheit – hatte zuletzt 189.000 inoffizielle und 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter in seiner Behörde. Bernd Roth war einer davon. Sie haben gut verdient – das drei- bis vierfache eines normalen Arbeiters. Sie hatten Privilegien und Macht, Macht über Menschen zu entscheiden. Und sie hatten Angst zu versagen oder selbst fallen gelassen zu werden:
"Jeder, der rausgeschmissen wurde, da hat man so richtig kräftig nachgetreten, der durfte nirgendwo wieder auf ein Podest kommen. Ich kenn dafür Beispiele."
Wenn Bernd Roth heute über sein Leben in der DDR spricht, dann nicht, um sich reinzuwaschen, sagt er – sondern mit dem Anliegen, verstanden zu werden. Es war nicht gut. Ich entschuldige mich bei den Opfern, sagt er mit erhobenem Haupt – doch "in Sack und Asche gehen" will er nicht. Noch habe sich niemand bei ihm gemeldet, keines der Opfer, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ausweichen würde er nicht.
"Ich bin auf dem Standpunkt, dass wir das richtig verstehen: Versöhnung ist nicht. Vergebensprobleme sind schwierig. Schlussstrichmentalität: Nein. – Aber es muss zumindest zulässig sein, dass wir differenzieren."
Differenzieren "ja" - Versöhnen zwischen Tätern und Opfern: "nein". Das kann es nicht geben, sagt Bernd Roth. Dafür sei zu viel passiert. Der Blick in die Akten genüge. Nur wenige könnten diese überhaupt korrekt lesen, weil der Duktus manchmal fast übersetzt werden muss, um die Struktur dahinter zu verstehen. Er würde beim Übersetzen helfen, sagt der ehemalige Major. Und noch etwas: Die Akten müssen offen bleiben, so lange es Fragen gibt.
Eike Malgut-Krumsdorf sitzt unter einem Sonnenschirm im Schrebergarten ihres Vaters. Auf ihren Knien liegt eine Mappe, aus der sie ein Foto holt. Sie legt sie auf den Tisch.
"So war sie … Also sie war ganz klein, 1,53 und hatte auch einen sehr starken Charakter und hat sicher auch polarisiert."
Die Fotografie zeigt eine Frau Ende 40, mit dunkelbraunen, kurz geschnittenen Haaren und einem entwaffnenden Lachen. Der Tochter fällt es leichter, über ihre verstorbene Mutter zu reden, wenn sie ein Bild von ihr vor sich hat. Beide Frauen stammen aus Halle an der Saale. Wenige Wochen nach der friedlichen Revolution verließ ihre Mutter Hals über Kopf ihre Heimatstadt. Sie wolle sich in Köln ein neues Leben aufbauen, ihr neuer Ehemann habe dort ein tolles Jobangebot, erzählte sie damals ihrer 16-jährigen Tochter. Erst Jahre später sollte Eike Malgut-Krumsdorf den wahren Grund erfahren, warum ihre Mutter damals so schnell die DDR verlassen wollte. Sie hatte Angst vor der Stasi, erzählt Eike Malgut-Krumsdorf. Ihre Mutter arbeitete als Fürsorgerin in einer Klinik und betreute Patienten mit Geschlechtskrankheiten. Manchmal brachte sie diese Akten mit zu uns nach Hause, erinnert sich die 38-Jährige.
"Es gab über jeden Patienten Akten mit so einem Deckblatt. Und da wurden dann Name und Adresse eingetragen und unter anderem die verschiedenen Geschlechtspartner. Da gab es dann so Spalten eins, zwei, drei, ich weiß nicht, bis wohin die Spalten gingen. Auf jeden Fall musste jeder Patient seine Geschlechtspartner der letzten X-Monate eintragen mit Namen und Adresse."
Menschen mit einer Aidserkrankungen mussten sofort gemeldet werden, erinnert sich Eike Malgut-Krumsdorf. Viele Patienten seien noch im Krankenhaus von der Polizei abgeholt worden, habe ihr später ihre Mutter erzählt. Was dann mit ihnen passierte, wusste sie sie nicht, aber sie empfand es als unmenschlich.
"Also meine Mutter hatte von Patienten die Akten geschönt oder auch verschwinden lassen. Sie hat dann Geschlechtspartner einfach nicht angegeben von den Personen, weil sie nicht wollte, dass diese Leute dann Probleme bekommen. Oder sie hat dann wirklich Akten von ihren eigenen Patienten verschwinden lassen. Wie sie das gemacht hat, ob sie die verbrannt hat die Akten, geschreddert hat, irgendwo versteckt hatte oder bei uns zuhause hatte, das weiß ich nicht."
Auch weiß sie nicht, über welchen Zeitraum ihre Mutter dies getan hat. Aber Ende 1989 warnte man ihre Mutter: Sie solle auf sich aufpassen. Man wisse, dass sie die Akten frisiere. Darum habe ihre Mutter Halle so schnell verlassen, erzählt ihre Tochter. Über die wahren Gründe habe sie jahrelang geschwiegen, ihr erst davon erzählt, als sie schwer erkrankt war. Bei der Stasiunterlagenbehörde wollte sie immer Akteneinsicht beantragen, habe es aber immer vor sich hergeschoben, sagt Eike Malgut-Krumsdorf. Das will die Tochter nun nachholen. Vor einigen Wochen hat sie bei der Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde in Halle den Antrag gestellt. Sie will wissen, was ihre Mutter damals getan hat, wer darüber etwas wusste und ob man sie womöglich bei der Stasi angeschwärzt hat. Aber egal welche Informationen ich in den Akten finde, ich möchte sie nicht verwenden, sagt die 38-Jährige. Sie findet es nur wichtig, all das endlich aufzuarbeiten.
"Also ich denke, das ist sehr wichtig. Ich glaube, das ist vielleicht von der Nachfolgegeneration, also von uns, jetzt sicher einfacher, für Aufklärung zu sorgen als für unsere Elterngeneration, die da mitten drin gewesen sind. Wir sind unbedarfter. Für unsere Elterngeneration ist das schon schwieriger. Die haben halt diesen Staat aufgebaut und mitgetragen."
Schadeleben. Ein 700-Seelen-Dorf. Idyllisch gelegen an einem See in Sachsen-Anhalt. In der Dorfmitte betreibt Holger Reinäcker eine Metallbaufirma. Der 53-Jährige engagiert sich im Gemeinderat. Nach der Wiedervereinigung haben wir nach vorn geschaut, nicht zurück, erinnert er sich. Lange wollte der Sohn nichts davon wissen, ob womöglich Nachbarn den eigenen Vater bespitzelten. Der wetterte regelmäßig gegen die DDR, ging auch nie zur Wahl.
"Zum einen hatte man genügend zu tun in der Nachwendezeit. Und zum anderen muss ich ehrlich sagen, war mir bewusst, dass man mit diesem Thema höllisch was lostreten kann. Das haben wir damals vermieden."
Inzwischen sieht Holger Reinäcker das anders. Auch er hat jetzt Einsicht in die Unterlagen seines verstorbenen Vaters beantragt.
"Ich weiß von meinem Vater, dass er Stimmung im Dorf machen wollte. Und ich weiß, wer hier diese, na ja, ich sage mal in Anführungsstrichen, diese DDR-Freunde gewesen sind. Und das würde ich ganz einfach schriftlich bestätigt kriegen, ob da was dran ist oder ob da nichts dran ist."
Seit die Bedingungen für eine Akteneinsicht Anfang Januar erleichtert wurden, habe sich die Anzahl der Anträge verdoppelt, sagt Uta Leichsenring, Leiterin der Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde in Halle. Sie hat festgestellt, dass vor allem Kinder, aber auch Enkelkinder, zunehmend wissen wollen, ob ihre verstorbenen Angehörigen in die Aktivitäten des DDR-Geheimdienstes verstrickt oder davon betroffen waren. Über das Thema Staatssicherheit sei in den Familien nur selten geredet worden. Doch oft spielten die Brüche im Leben der Eltern auch eine nachhaltige Rolle im eigenen Leben.
"Dass sie dann irgendwann doch sagen, also ich möchte die Klarheit schon lieber haben. Teils für den eigenen Seelenfrieden, teils weil doch für viele die Klarheit und die Wahrheit, auch wenn sie vielleicht schmerzlich ist, wichtiger ist, als dieses nicht Wissen wollen und das Verdrängen."
"Ich werde ja selbst in meinen eigenen Reihen nun als Verräter abgestempelt."
Bernd Roth steht in Saalfeld auf einer bewaldeten Kuppe und blickt nach oben. Eine zusätzliche kleine Existenz hat er hier aufgebaut: Thüringens zweiten Hochseilgarten.
"Es ist nicht so, als wenn das normal wäre, was wir hier miteinander tun. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Da gibt’s hier schon in Saalfeld Leute, die sagen: der Verräter Roth. Und damit muss ich auch zurechtkommen. Es gibt andere Offiziere, die sagen, Mensch das ist toll."
Das Lärchenholz glänzt silbern, die Seile sind unbenutzt an einem verregneten Frühlingstag. Roth blickt nach oben.
"Ich bin doch nur der dreiste Sturkopf, der sich rausgewagt hat; aus der Deckung rauszugehen."
Bernd Roth vor wenigen Monaten in Erfurt. Es ist eine Veranstaltung der Evangelischen Kirche – auf dem Podium sitzt Landesbischöfin Ilse Junkermann; neben ihr Marianne Birthler – Amtsvorgängerin von Roland Jahn in der Stasi-Unterlagenbehörde. Ihr Thema: Versöhnung von Tätern und Opfern und wie die Kirche damit umgehen kann. Der Saal im Augustinerkloster ist bis zum letzten Platz gefüllt.
Als der ehemalige Stasi-Mitarbeiter Bernd Roth an das Mikrofon tritt, verstummt die Menge. Die Blicke sind auf ihn gerichtet. Auf einen, der symbolisch die Hand ausstreckt, das Gespräch anbietet und Entschuldigung sagt. Er kehrt an seinen Sitzplatz zurück. Ein älterer Mann neben ihm nickt ihm anerkennungsvoll zu.
"Das, was ich heute tue, ist vielleicht eine Art Wiedergutmachung – aber nicht aus einem rationalen Verständnis heraus, sondern aus einem emotionalen Verständnis heraus – das kann schon so sein."
Er stehe zu allem, was er gemacht habe: die Pläne für Observierungen, das Bespitzeln von Menschen, die man für angeworbene Spione des Westens hielt. Wirtschaftsspionage-Abwehr war sein Feld. Was aus jenen wurde, die durch sein Tun an die sogenannte Abteilung 9 und von dort in Haftanstalten geliefert worden sind – hat er nicht erfahren, sagt Bernd Roth heute.
"Auch das ist verkehrt, wenn man heute meint, die 9, also die Untersuchungsabteilung ist für alles verantwortlich, was an schlimmen Dingen passiert ist. Verantwortlich ist der Mitarbeiter, der es angefangen hat, und verantwortlich ist der Mitarbeiter, der gesagt hat, daraus mache ich einen Fall, obwohl es vielleicht schon im Anfang kein Fall war."
Der "Fall Drieselmann" war aus Sicht der Stasi selbst dann nicht abgeschlossen, als jener bereits in Westberlin studierte. Nach seinem Freikauf durch den Westen half Jörg Drieselmann anderen Republikflüchtlingen. Die Stasi hatte ihn noch immer im Visier. Heute ist er Geschäftsführer der Gedenkstätte Normannenstraße und arbeitet in jenem Gebäude, von dem aus die Stasi ihr Imperium lenkte. Heute, sagt Drieselmann, kenne er auch den Namen des Offiziers, der ihn damals drangsalierte:
"Wir wurden mit Nummer angesprochen. "Eins" mitkommen! – und dann wurde man irgendwohin gebracht, meist in Zimmer 8, wo der Oberleutnant saß, wo ich heute erst weiß, dass er Sieder mit Namen heißt."
Wenn Drieselmann über Versöhnung nachdenkt, so hinterlässt das auch bei ihm einen bitteren Beigeschmack:
"Kein Platz! Absolut kein Platz für irgendeine Sympathie. Das könnte ich mit Stasi-Mitarbeitern, mit denen ich nichts zu tun hatte. Da könnte ich sagen: 'Ja, ich verstehe es, wie man auf der schiefen Ebene in diesen Apparat rutschen kann'. Aber das geht nur auf der "über-individuellen" Ebene. Es geht nicht mit Sieder!"