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Opfer überforderter Eltern

Der Deutsche Kinderschutzbund schätzt, dass bis zu 500.000 Kinder in Deutschland vernachlässigt werden. Kommunen, die die Kinder- und Jugendhilfe vor Ort gewährleisten sollen, fehlt es an Geld und Personal. Es mangelt aber auch an Maßnahmen, die Eltern in schwierigen Erziehungssituationen unterstützen. Das soll mit Programmen, die die Elternkompetenz gezielt fördern, besser werden.

Von Henning Mielke |
    Die Arche fügt sich nahtlos ein in die Tristesse der Plattenbauten von Berlin-Hellersdorf – äußerlich. Im Innern der ehemaligen Grundschule im DDR-Stil der 80er Jahre herrscht jedoch eine Atmosphäre der Geborgenheit. Der Arche e.V. hat das nüchterne Gebäude in eine Freizeiteinrichtung umfunktioniert, die Kinder und Jugendliche im Alter bis zu zwanzig Jahren kostenlos betreut und ihnen täglich eine warme Mahlzeit gibt.

    "Weil wir zuhause kein Mittag essen."
    "Weil meine Eltern fast nie Zeit mit mir verbringen, und öfter Fußball gucken."
    "Weil, da ist es immer so langweilig."

    Die familiären Verhältnisse der meisten Kinder, die in die Arche kommen, sind desolat. Viele leben mit Eltern zusammen, die keine Perspektive haben, arbeitslos sind oder unter Suchtproblemen leiden. Für die Bedürfnisse ihrer Kinder haben viele dieser Eltern kein Gespür mehr. So müssen die Kinder selber sehen, wie sie klarkommen. Oft schmeißen sie zu Hause den Haushalt und kümmern sich um ihre jüngeren Geschwister.

    Das Wichtigste, was die Kinder brauchen, ist menschliche Zuwendung, weiß Pastor Bernd Siggelkow, Gründer und Leiter der Berliner Arche sowie ihrer Hamburger Schwestereinrichtung:

    "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kinder an emotionaler Verarmung leiden. Das heißt, nicht unbedingt nur an materiellen Dingen oder Geld, sondern sie verwahrlosen emotional, weil ganz wenige Menschen da sind, die sich um sie kümmern. Kinder strecken sich schon jedem ausgestreckten Finger entgegen und genießen es auch, wenn dieser Finger der Finger eines Menschen ist, der es auch wirklich gut meint und nicht das Kind schon wieder ausnutzt."


    Kindesvernachlässigung und –misshandlung sind in Deutschland ernstzunehmende Probleme. Unter Kindesmisshandlung wird die bewusste oder unbewusste, gewaltsame, psychische oder physische Schädigung eines Kindes verstanden, die zur Verletzung und Verstörung des Kindes führt. Das Bundeskriminalamt weist für das Jahr 2004 fast 3000 angezeigte Fälle von Kindesmisshandlung nach. Die Dunkelziffer wird von Experten um das Zwanzigfache höher eingeschätzt. Schwerwiegende Entwicklungshemmungen des Kindes können sich bis ins Erwachsenenalter hinein auswirken. Doch die Ausprägung ist bei jedem Kind individuell, sagt Irene Johns, Leiterin des Kinderschutzzentrums in Kiel:

    "Man kann nicht sagen: die Langzeitfolgen. Es gibt ein ganzes Bündel. Man kann nur sagen, dass Kinder in gravierender Weise beeinträchtigt werden können, und dass es schwere körperliche und seelische Schädigungen geben kann: von Depressionen, Schlafstörungen, psychosomatischen Schwierigkeiten... Aber ich würde sagen, der Hauptfaktor ist sicher ein Einbruch in der Persönlichkeit. Das Selbstwertgefühl ist geringer geworden."

    Schläge, aber auch Worte verursachen Wunden, die lebenslang schmerzen können. Die Misshandlung kann aber auch im Unterlassen bestehen. Werden einem Kind Nahrung, Pflege und emotionale Zuwendung vorenthalten, sprechen Kinderschützer von Vernachlässigung. Verlässliche Zahlen gibt es für diesen Bereich nicht. Der Deutsche Kinderschutzbund schätzt jedoch, dass bis zu 500.000 Kinder in Deutschland von Vernachlässigung durch ihre Eltern betroffen sein könnten. Fälle, wie der der siebenjährigen Jessica aus Hamburg, die im März 2005 verhungert in ihrem Kinderzimmer aufgefunden wurde, haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die ausführliche – oft auch reißerische – Medienberichterstattung über solche bedrückenden Fälle, lässt vielfach den Eindruck entstehen, Vernachlässigung und Gewalt gegen Kinder würden ständig zunehmen. Eine falsche Wahrnehmung, meint Kriminalhauptkommissarin Gina Graichen von der Berliner Polizei. Sie leitet das deutschlandweit einzige Kommissariat, das sich ausschließlich mit Delikten an Schutzbefohlenen befasst:

    "Das, was das Empfinden der Bevölkerung ist: Man schlägt die Zeitung auf, und jeden Tag ist ein neuer Fall drin, das ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass eben alle viel sensibler geworden sind und viel mehr melden. Ich sag mal, der Aufschrei in der Bevölkerung und in der Presse ist eigentlich immer, wenn ein Kind dabei zu Tode kommt. Und das ist ja auch das Schlimmste, was passieren kann. Diese Fälle hat es auch in den 80-er und 90-er Jahren schon gegeben. Ich glaube auch nicht, dass da ein großartiger Anstieg zu vermerken ist."

    In den Kinderschutzzentren und auch bei der Polizei gehen deutlich mehr Hinweise aus der Bevölkerung ein, die auf Notlagen von Kindern hinweisen. Was früher Dunkelziffer war, wird heute gemeldet. Doch neben der gewachsenen Sensibilität der Bevölkerung registrieren die Polizistinnen und Polizisten des Kommissariats für Delikte an Schutzbefohlenen in den letzten Jahren noch eine andere Veränderung. Gina Graichen:

    "Wir haben hier in Berlin sehr viele Säuglinge, die von den Eltern aus Überforderung, aus Unwillen, aus dem Gefühl heraus, das Kind will sie ärgern, genommen werden, geschüttelt werden. Und das ist das Schlimmste, was man einem Baby antun kann. Und das merken wir schon, dass viele Eltern schon mit Kleinkindern ganz brutal umgehen. Das hat sich schon verändert in der Zeit."

    Die Ursachen, die Eltern dazu bringen, schutzbedürftige Babys körperlich schwer zu misshandeln oder sie einfach sich selbst überlassen, sind individuell sehr unterschiedlich. Aus ihrer langjährigen Erfahrung kann Kommissarin Graichen jedoch einige häufige Ursachen nennen: Oft haben werdende Eltern die besten Absichten für ihre Kinder und sind dann in der konkreten Situation mit dem Kind überfordert:

    "Man macht sich keine Gedanken darüber: Bin ich jetzt alt genug dafür? Krieg ich das alles auf die Reihe? Hab ich das alles erlebt, dass ich jetzt darauf verzichten könnte, abends um die Häuser zu ziehen? Kann ich mit einem Kind überhaupt umgehen, oder muss ich da einen Kurs besuchen? Und dann ist das Kind da – das höre ich oft in den Vernehmungen; es war ein Wunschkind – dieser Wunsch ist aber häufig sehr einseitig: Die Frau wünscht sich das, das, der Mann wünscht es sich vielleicht noch nicht so. Dann redet man nicht so richtig darüber. Und dann ist das Kind auf der Welt, und dem geht es relativ zügig auf die Nerven, denn das Kind fordert nur."

    Kinder können in Gefahr geraten, wenn Eltern ihre individuellen Konflikte und Lebensprobleme nicht zu lösen vermögen. Doch es kommen meist noch vielfältige andere Faktoren hinzu, sagt Kinderschutzexperte Reinhart Wolff, Professor für Sozialpädagogik an der Berliner Alice-Salomon Fachhochschule:

    "In der Regel kommt es zu einer Multiplikation schwieriger Situationen und lebensgeschichtlicher Beziehungsprobleme, die sich miteinander verknüpfen."

    In Zeiten von Hartz IV finden sich Eltern infolge von Arbeitslosigkeit und Armut schneller an jenem sozialen Rand wieder, von dem aus die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – und sei es ein Zoobesuch mit den Kindern - oft nicht mehr möglich ist. Damit steigt das Risiko, dass Eltern in Überforderungssituationen geraten, bestätigt Kinderschützerin Irene Johns:

    "Heute erhalten Familien, die mit Hartz IV leben pro Kind pro Tag 2,67 Euro für Ernährung. Allein ein Mittagessen in der Schule kostet ja schon zwischen 3 und 3,50 Euro. Also, die Belastungen für die Familien werden extrem groß durch das Thema Armut."

    Neben der Armut wirkt noch ein anderer Faktor risikosteigernd. Vielfach ist bei jungen Eltern das grundlegende Wissen, wie man ein Kind liebevoll aufzieht, nicht mehr vorhanden. Reinhart Wolff:

    "In der Regel spielen fehlende Kompetenzen, überhaupt das Kind zu verstehen – was es braucht und was es ausdrückt, also Missver¬ständ¬nisse - eine große Rolle, ebenso wie das Nichtbewältigen von situationellen Krisen. Und dann sind diese Familien in der Regel isoliert und haben keine Brücken zu Hilfemöglichkeiten – weder zu den Großeltern, Tanten, Onkels oder auch zu guten Nachbarn, sondern sie fühlen sich allein und alleingelassen, und in dieser Situation sind sie nicht in der Lage, das Kind zu fördern und zu unterstützen."

    Welche Konsequenzen dies haben kann, erlebt Kommissarin Gina Graichen in ihrem Arbeitsalltag immer wieder. Ein Fall, der schon mehrere Jahre zurückliegt geht ihr nicht aus dem Kopf:

    "Dieser Fall ist in Wilmersdorf passiert, wo ein kleiner Junge, zweieinhalb Jahre, von der Mutter einfach zurückgelassen wurde. Die hat für sich beschlossen, sie will jetzt einfach nicht mehr. Sie will eigentlich lieber Spaß haben und in die Disco gehen und mit ihren Kolleginnen um die Häuser ziehen. Und sie hat dann einen Tag nach dem Geburtstag ihres kleinen Sohnes im Schlaf- und Kinderzimmer zurückgelassen. Sie hat ihn dort reingesetzt, hat die Jalousien runtergelassen, die Tür geschlossen, ist aus der Wohnung gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Sie war letztlich einen ganzen Monat weg, ist noch mal auf eine kurze Stippvisite in die Wohnung zurückgekehrt, weil sie ein Haartönungsmittel brauchte, wohl wissend, dass das Kind im Nebenzimmer tot liegt. Sie hat aber nicht nachgeguckt, weil sie das nicht ertragen hätte. Und dann ist sie wieder verschwunden. Nach rund zwei Monaten sind Nachbarn aufmerksam geworden. Dann haben sie die Feuerwehr gerufen. Die Wohnung war komplett vermüllt. Der Boden war kniehoch mit allem möglichem bedeckt. Und im Nebenzimmer fanden sie dann zwischen einer Couch und einem Sessel diesen kleinen Jungen, der sich dahin zurückgezogen hatte, um zu sterben. Er war verdurstet und verhungert."


    Fälle wie dieser hinterlassen ein Gefühl von Ohnmacht. Warum gelingt es nicht, Kinder effektiver zu schützen? Wie kann man Gewalttaten verhindern, die oft unbemerkt hinter verschlossenen Wohnungstüren geschehen? Schnell ist die Öffentlichkeit mit der Forderung nach härteren Strafen für "Rabeneltern" bei der Hand. Reinhart Wolff warnt eindringlich davor, sich beim Kinderschutz von Ohnmachtsgefühlen und den daraus resultierenden Rettungsphantasien leiten zu lassen. Er setzt auf Hilfe statt Strafe:

    "Kinderschutz heißt, Kinder und Eltern zu schützen. Also Eltern davor zu schützen, dass sie an den Konflikten scheitern und an der Gewalt und der Verzweiflung. Und Kinder muss man schützen, weil es Erwachsene gibt, die nicht in der Lage sind, fördernd und unterstützend mit Kindern umzugehen."

    Für Reinhart Wolff besteht effektiver Kinderschutz darin, überforderten Eltern Lernangebote zu machen, die sie befähigen, in guter Weise mit ihren Kindern umzugehen:

    "Wir müssen darüber nachdenken, warum es manche Eltern nicht schaffen, und wir wissen sehr viel darüber, warum es zu solchen Konfliktlagen kommt. Aber viel wichtiger wäre es, Beispiele vorzustellen, wie es gelingt, heute mit Kindern produktiv umzugehen: Also einen Vater vorzustellen, der sich tatsächlich in einer besonderen Weise um seine Kinder kümmert. Oder eine Mutter zu zeigen, die tatsächlich aus einer schwierigen Konfliktlage herausgefunden hat. Wir tun das zunehmend im Kontext neuer dialogischer Coaching-Formen, dass wir die Eltern, die mit uns zusammengearbeitet haben – oft in großen Notlagen – nach dem Coaching fragen, ob sie uns helfen können, anderen Eltern zu erklären, wie man anders mit den Kindern umgeht. Und das ist außerordentlich erfolgreich."

    Der Austausch von Erfahrungen ist wichtig, damit Elternschaft gelingt. Doch häufig rutschen gerade die Eltern, die gesellschaftlich isoliert sind, und bei denen ein hohes Überforderungsrisiko vorhanden ist, durch die Maschen des Hilfesystems. Daher werden zur Zeit Programme entwickelt, die diese Eltern gezielt erreichen sollen. Ein Beispiel: STEEP ist ein amerikanisches Frühinterventionsprogramm zur Förderung von Elternkompetenz, das an der Universität Minesota erarbeitet wurde. In Deutschland wird es gerade an der Hoch¬schule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und an der Fachhochschule Potsdam erprobt. Diplompsychologin Bärbel Derksen begleitet junge Mütter in Potsdam und Berlin im Rahmen des STEEP-Programms:

    "Wir versuchen, Mütter zur erreichen, die ganz jung sind, die vielleicht in schwierigen Lebenslagen sind – von 16 bis 28, die wir begleiten in den ersten zwei Lebensjahren ihres Kindes und Elternschaft unterstützen wollen, eine gelungene Elternschaft initiieren wollen."

    Das STEEP-Programm versucht, werdende Mütter, die z.B. keinen Schul¬abschluss haben, alleinstehend oder arbeitslos sind, schon während der Schwangerschaft anzusprechen. Dies kann in der Geburtsklinik geschehen oder im Rahmen der Untersuchungen der Schwangerschaftsvorsorge. Den jungen Müttern wird bei Hausbesuchen und in Gruppentreffen vermittelt, was ihr Baby braucht, wie sie die Signale des Kindes richtig deuten und das Kind bestmöglich unterstützen. Denn das intuitive Wissen der Mütter, wie sie mit dem Kind umgehen können, ist heute vielfach durch lebensgeschichtliche Einflüsse verschüttet, sagt Bärbel Derksen.

    "Das kann daran liegen, dass ich bestimmte Erziehungsvorstellungen in meinem Kopf habe. Genauso kann diese Kompetenz auch verschüttet werden, wenn ich selbst eine unangenehme oder schreckliche Kindheit selbst gehabt habe. Wenn ich selber geschlagen worden bin und als Erwachsener sage: Na, ja, hat mir ja nicht so sehr geschadet. Dann denke ich teilweise auch nicht darüber nach: Was mache ich mit meinem Kind, wenn ich es anschreie oder heftig aus dem Bett ziehe? Hat mir ja nicht geschadet, dann kann das dem Kind auch nicht schaden."

    STEEP schlägt eine Brücke zwischen der medizinischen und der psychosozialen Versorgung junger Mütter. Ansätze wie STEEP reagieren auf die oft fehlende Vernetzung zwischen Gesundheitswesen, Sozialarbeit und Kinderschutz. Auch die Bundesregierung sieht hier Defizite und will dazu beitragen, ein professionsübergreifendes Hilfesystem sowie soziale Frühwarnsysteme zum Schutz gefährdeter Kinder voranzutreiben, erklärt Herrmann Kues, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfamilienministerium:

    "Wir brauchen hier eine Zusammenarbeit mit der frühen Gesundheitshilfe. Wir müssen die entsprechenden Berufsgruppen gewinnen: Kinderärzte, Hebammen, weil sie als erstes feststellen, wenn es Missbrauchssituationen gibt oder Verwahrlosung. Da sind wir dabei, und da glauben wir auch, dass wir bundesweite Modellversuche, die basieren auf dem, was in den Ländern bereits erprobt worden ist, dass wir bis Ende des Jahres die ersten auf den Weg bringen können."

    In den auf drei Jahre angelegten Modellversuchen soll die Früherkennung von Risikofamilien verbessert werden. Dazu wird das medizinische System stärker in den präventiven Kinderschutz eingebunden. Früher als bisher - also schon während der Schwangerschaft, spätestens aber nach der Geburt - sollen Risikofamilien erkannt werden. Und früh sollen beispielsweise alleinstehenden Müttern oder Paaren in sozialen Notsituationen konkrete Unterstützungsangebote gemacht werden. In ein Programm zur Erprobung solcher frühen Hilfen will die Regierung in den nächsten fünf Jahren rund zehn Millionen Euro investieren. Irene Johns vom Kinderschutzzentrum Kiel stimmt der Zielsetzung der Regierungsinitiative grundsätzlich zu, hat aber ihre Zweifel an der Nachhaltigkeit der Modellversuche:

    "Was in die richtige Richtung geht, ist frühe Hilfe, so dass wir das Kind nicht erst sehen, wenn es in die Grundschule kommt, sondern dass wir Eltern schon stützen können, wenn das Kind auf die Welt kommt. Die Frage ist: Wie wird das umgesetzt? Es darf nicht so umgesetzt werden: Wir machen hier mal kleine Projekte und nach drei Jahren sagen wir den Kommunen, sie sollen das nun mal weiterzahlen. Die Kommunen sagen ja jetzt schon, sie können es nicht. Also die Frage der Langfristigkeit, die ja in der Politik in der Regel fehlt."

    Auch für Reinhart Wolff steht und fällt ein verbesserter Kinderschutz mit der Frage: Was ist unserer Gesellschaft das Wohl der Kinder langfristig wert?

    "Man kann frühe Säuglingsfürsorge entwickeln, die haben wir flächendeckend in den Ländern abgebaut. Wir können frühe ambulante Unterstützungssysteme entwickeln, wir können die Hebammenunterstützung stärker machen."

    Die Kommunen, die die Kinder- und Jugendhilfe vor Ort finanzieren, sind klamm. Seit dem Jahr 2000 sind vielerorts die Leistungen der Jugendämter für "Hilfen zur Erziehung" im zweistelligen Bereich gekürzt worden – dies zeigt sich insbesondere in vielen Großstädten. Damit wird ausgerechnet bei der gezielten Unterstützung von überforderten Eltern gespart. Die Modellprojekte der Bundesregierung wollen nun die frühen Hilfen als wichtige neue Aufgabe möglichst flächendeckend etablieren. Wie kann dies mit rückläufigen Etats bewältigt werden? Staatssekretär Herrmann Kues:

    "Ich glaube schon, dass die Kommunen das als ihre Aufgabe betrachten. In welcher Weise sie das dann hinbekommen, das ist noch eine zweite Frage. Aber es ist völlig unabweisbar, dass wir Familien damit nicht allein lassen dürfen, daß wir uns kümmern müssen."

    Auch für Irene Johns vom Kinderschutzzentrum Kiel steht fest, dass zivilgesellschaftliches Engagement für Kinder staatlicher Unterstützung bedarf.

    "Ich sehe ganz klar unsere täglichen Anforderungen, die Hilfeanfragen, die gestellt werden kommen, und dass es auch durch die gesellschaftlichen Bedingungen immer mehr wird- die Anfragen auf Hilfe bei Gewalt. Und wenn wir die Hilfe leisten wollen und für Kinder und Eltern wirklich da sein wollen, dann brauchen wir die entsprechende finanzielle Förderung."

    Wie existenziell wichtig dies für unsere Gesellschaft ist, scheint den für die Mittelkürzungen im Kinder- und Jugendhilfebereich verantwortlichen Politikern jedoch nicht klar zu sein, meint Bernd Siggelkow von der Arche:

    "Ich denke, dass viele Politiker überhaupt erst einmal erkennen müssen, dass wir in unserem Land ein Problem mit unseren Kindern und Jugendlichen haben. Das ist das eine. Und die positive Erkenntnis dabei müsste sein, dass unsere Kinder die Zukunft unserer Gesellschaft sind. Und alles, was wir heute in unsere Kinder investieren, bekommen wir morgen wieder zurück. Und was wir nicht investieren, bekommen wir auch zurück. Aber das ist ein Bumerang, der soviel Geld kostet, dass wir ihn uns gar nicht leisten können."