"Was die Konflikte betrifft, die thematisiert werden, habe ich mich in diesem Buch weiter entfernt in die Vergangenheit, wobei man sagen muss, das ist kein wirklich historischer Konflikt, das ist ein anhaltender, sehr moderner Konflikt. Es geht um Antisemitismus, um den spezifisch arabischen Antisemitismus und welche Geschichte er im Irak hatte."
Anwar, der Held des Romans, wurde 1921 geboren, im Jahr, in dem die Briten mit der Inthronisation Faisals I. aus Teilen des multiethnischen osmanischen Reichs das Königreich Irak aus der Taufe hoben: einen Nationalstaat mit ethischen und religiösen Mehr- und Minderheiten. Anwar lernt Ephraim kennen, den sozialistisch denkenden Sohn eines reichen Kaufmanns, und Ezra, einen kühlen Denker des Zionismus. Er verliebt sich in Mirjam, die Schwester Ephraims, schließt sich immer wieder verschiedenen Gruppen und Banden an, wird zum Dieb, Verräter und Mörder. Mitte der 30er-Jahre, als die Ausschreitungen gegen die Juden ihre ersten Höhepunkte erreichten, lernt er seinen "ersten Deutschen" kennen, einen Nazi, der in Bagdad sein Süppchen kocht.
"Diese Beziehung zu Deutschland, also diese Brücke, die ich da wieder baue – mein Held kommt ja von dort nach Nazi-Deutschland – die führt allerdings auch in ein Deutschland, das längst vergangen ist. Anderseits wiederum ist ja nun auch die Nazi-Zeit – ähnlich aktiv, politisch präsent und nachwirkend wie jener Antisemitismus im mittleren Osten und ist auch noch damit verbunden. Alle für mich interessanten Motive waren für in dieser Geschichte gebündelt und deshalb musste ich sie erzählen."
Anwar dient verschiedenen Herren und gelangt im Tross des Nazi-freundlichen Großmuftis von Jerusalem nach Berlin. Im Zweiten Weltkrieg kämpft er in einer sogenannten fremdvölkischen Einheit auf Seiten der Deutschen und erlebt schließlich Mitte der 50er-Jahre den Exodus der Juden aus dem Irak. Zu diesem Zeitpunkt trifft er Ephraim und Ezra wieder – sie organisieren die Luftbrücke von Bagdad nach Tel Aviv. Auch als die letzten Juden aus Bagdad Richtung Israel ausgeflogen wurden, waren wieder Deutsche in geheimer Mission in der Stadt – jetzt Vertreter des Nachkriegsdeutschlands.
"Weißes Land" nennt Sherko Fatah seinen Roman. Einerseits erzählt er das Leben seines Helden als eine Parabel auf die heute noch virulenten, aber im Bewusstsein kaum verankerten Konflikte in der frühen Geschichte des Iraks und auf die deutsch-irakischen Beziehungen. Der Titel zitiert Heinrich Himmler: Anwar war dabei, als Himmler dem Großmufti in Berlin seine Pläne erläuterte. Als "weißes Land" bezeichnete er den europäischen Osten, den er erobern wollte. Was dies bedeuten sollte, hat Anwar selbst miterlebt. Bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands wurde er schwer verwundet. Nur durch ein Wunder und die Hilfe des Arztes Dr. Stein hat er überlebt. Andererseits kann "Weißes Land" aber auch als Parabel auf den ewigen Typus eines Menschen gelesen werden, der nicht zufällig zum Helden eines Schelmenromans taugt.
"Das ist ja das Interessante für mich am Schelmenroman, eingesetzt, wenn der Held in einem extremen Gegensatz zu den ungeheuren Ereignissen um ihn herum steht, also natürlich Simplizissimus. Der Dreißigjährige Krieg als ein völlig unüberschaubares Chaos wird dann gebrochen in der Perspektive eines ganz einfachen, simplen, scheinbar simplen Menschen."
In seinem letzten Roman, "Das dunkle Schiff", hat der Autor die Figur eines Idealisten gezeichnet, eines Gotteskriegers, der besessen ist von der Idee, dass es ein einziges, großes und wahres Ziel im Leben und einen geraden Weg dorthin gibt. Hat er sich dort dem Psychogramm eines möglichen Selbstmordattentäters angenähert, gestaltet Fatah mit Anwar das krasse Gegenteil: einen willfährigen Mitläufer, der sich ohne eigene Moral, nur um des eigenen, kleinen Vorteils wegen, durch alle denkbaren Verwandlungen hindurch zum Werkzeug jener macht, die ihm den größtmöglichen Vorteil versprechen.
"Anwar will ja im Grunde nichts weiter als dabei sein, irgendwo dazugehören. Er sagt an einer Stelle mal, er sei ein überflüssiger Mensch. Und das ist das Hauptproblem einer ganzen Generation von jungen Menschen, die es damals im Irak und im Mittleren Osten gab, durch die politischen Verhältnisse, denen kam einfach keine Rolle zu in der Gesellschaft, und auch heute. Ich meine, auch heute noch ist das ein Problem: junge Gesellschaften, in denen eben viele Leute keinen Platz finden."
Sherko Fatah nimmt sich einen großen, zeithistorischen Stoff und ein Kernthema des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts vor, verbindet authentische Ereignisse und mit Klarnamen benannte Akteure der Geschichte mit der einfühlsamen Fiktion seines Helden Anwar. Er zeigt, wie der Hass in das einigermaßen offene Zusammenleben der Religionen und ethnischen Gruppen eingepflanzt worden ist, wie Anwar sich zum Werkzeug dieses Hasses machen lässt, wie die Rechnung der Nationalisten aufgeht und das Land – anders als Deutschland, denn Deutschland wurde besiegt – schließlich, in Anführungsstrichen, "judenrein" wird. Fatah greift dabei auf eine große literarische Form zurück, schreibt spannend bis zur letzten Zeile und liefert literarisches Schwarzbrot.
Die Rahmenhandlung des Romans spielt Mitte der 1950er-Jahre, als die letzten Juden das Land verlassen. Dr. Stein ist in Bagdad, Ephraim und Ezra tauchen auf. Anwar, Diener und Bote der neuen Machthaber, wird zu seinem Herrn gerufen. Was wird hier gespielt? Wie ist er zu dem geworden, der er jetzt ist? Welche Rolle wird ihm – er ist ja erst Mitte 30 – am Ende des Romans zugedacht? "Die Erinnerung ist wie ein Haus", hatte Dr. Stein zu Anwar damals im Lazarett vor Warschau gesagt, als ihm alles verloren schien: "Sie hat mehrere Zugänge. Finde einen anderen – als Dieb kannst du das doch." Ohne große Emotionen, ohne eigene Moral, Erkenntnisse oder Lehren aus der Geschichte, beinahe teilnahmslos legt dieser Antiheld Schicht um Schicht die Zugänge zu seiner Erinnerung frei. Sherko Fatah begleitet ihn über eine Strecke von knapp 500 Seiten und schafft damit einen ebenso unterhaltsamen wie ganz nebenbei auch lehrreichen Roman.
"Diese Mitläuferfigur Anwar ist eben zu wenig, auch nach ihrem eigenen Gefühl, so habe ich ihn gezeichnet. Das drückt sich darin aus, dass er ständig jemand werden will. Er ist also von allem Anfang an zu allen Verwandlungen bereit und das ist ja eine Suche nach Identität und so ist auch sein Erinnern: eine Suche nach Identität in Ereignissen, die sich überschlagen. Es ist eine schwache Figur, die durch ungeheuer starke Ereignisse aufgeladen wird – und genau dabei habe ich es belassen."
Sherko Fatah: Ein weißes Land. Roman, Luchterhand Literaturverlag 2011, 478 Seiten, 21,99 Euro
Anwar, der Held des Romans, wurde 1921 geboren, im Jahr, in dem die Briten mit der Inthronisation Faisals I. aus Teilen des multiethnischen osmanischen Reichs das Königreich Irak aus der Taufe hoben: einen Nationalstaat mit ethischen und religiösen Mehr- und Minderheiten. Anwar lernt Ephraim kennen, den sozialistisch denkenden Sohn eines reichen Kaufmanns, und Ezra, einen kühlen Denker des Zionismus. Er verliebt sich in Mirjam, die Schwester Ephraims, schließt sich immer wieder verschiedenen Gruppen und Banden an, wird zum Dieb, Verräter und Mörder. Mitte der 30er-Jahre, als die Ausschreitungen gegen die Juden ihre ersten Höhepunkte erreichten, lernt er seinen "ersten Deutschen" kennen, einen Nazi, der in Bagdad sein Süppchen kocht.
"Diese Beziehung zu Deutschland, also diese Brücke, die ich da wieder baue – mein Held kommt ja von dort nach Nazi-Deutschland – die führt allerdings auch in ein Deutschland, das längst vergangen ist. Anderseits wiederum ist ja nun auch die Nazi-Zeit – ähnlich aktiv, politisch präsent und nachwirkend wie jener Antisemitismus im mittleren Osten und ist auch noch damit verbunden. Alle für mich interessanten Motive waren für in dieser Geschichte gebündelt und deshalb musste ich sie erzählen."
Anwar dient verschiedenen Herren und gelangt im Tross des Nazi-freundlichen Großmuftis von Jerusalem nach Berlin. Im Zweiten Weltkrieg kämpft er in einer sogenannten fremdvölkischen Einheit auf Seiten der Deutschen und erlebt schließlich Mitte der 50er-Jahre den Exodus der Juden aus dem Irak. Zu diesem Zeitpunkt trifft er Ephraim und Ezra wieder – sie organisieren die Luftbrücke von Bagdad nach Tel Aviv. Auch als die letzten Juden aus Bagdad Richtung Israel ausgeflogen wurden, waren wieder Deutsche in geheimer Mission in der Stadt – jetzt Vertreter des Nachkriegsdeutschlands.
"Weißes Land" nennt Sherko Fatah seinen Roman. Einerseits erzählt er das Leben seines Helden als eine Parabel auf die heute noch virulenten, aber im Bewusstsein kaum verankerten Konflikte in der frühen Geschichte des Iraks und auf die deutsch-irakischen Beziehungen. Der Titel zitiert Heinrich Himmler: Anwar war dabei, als Himmler dem Großmufti in Berlin seine Pläne erläuterte. Als "weißes Land" bezeichnete er den europäischen Osten, den er erobern wollte. Was dies bedeuten sollte, hat Anwar selbst miterlebt. Bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands wurde er schwer verwundet. Nur durch ein Wunder und die Hilfe des Arztes Dr. Stein hat er überlebt. Andererseits kann "Weißes Land" aber auch als Parabel auf den ewigen Typus eines Menschen gelesen werden, der nicht zufällig zum Helden eines Schelmenromans taugt.
"Das ist ja das Interessante für mich am Schelmenroman, eingesetzt, wenn der Held in einem extremen Gegensatz zu den ungeheuren Ereignissen um ihn herum steht, also natürlich Simplizissimus. Der Dreißigjährige Krieg als ein völlig unüberschaubares Chaos wird dann gebrochen in der Perspektive eines ganz einfachen, simplen, scheinbar simplen Menschen."
In seinem letzten Roman, "Das dunkle Schiff", hat der Autor die Figur eines Idealisten gezeichnet, eines Gotteskriegers, der besessen ist von der Idee, dass es ein einziges, großes und wahres Ziel im Leben und einen geraden Weg dorthin gibt. Hat er sich dort dem Psychogramm eines möglichen Selbstmordattentäters angenähert, gestaltet Fatah mit Anwar das krasse Gegenteil: einen willfährigen Mitläufer, der sich ohne eigene Moral, nur um des eigenen, kleinen Vorteils wegen, durch alle denkbaren Verwandlungen hindurch zum Werkzeug jener macht, die ihm den größtmöglichen Vorteil versprechen.
"Anwar will ja im Grunde nichts weiter als dabei sein, irgendwo dazugehören. Er sagt an einer Stelle mal, er sei ein überflüssiger Mensch. Und das ist das Hauptproblem einer ganzen Generation von jungen Menschen, die es damals im Irak und im Mittleren Osten gab, durch die politischen Verhältnisse, denen kam einfach keine Rolle zu in der Gesellschaft, und auch heute. Ich meine, auch heute noch ist das ein Problem: junge Gesellschaften, in denen eben viele Leute keinen Platz finden."
Sherko Fatah nimmt sich einen großen, zeithistorischen Stoff und ein Kernthema des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts vor, verbindet authentische Ereignisse und mit Klarnamen benannte Akteure der Geschichte mit der einfühlsamen Fiktion seines Helden Anwar. Er zeigt, wie der Hass in das einigermaßen offene Zusammenleben der Religionen und ethnischen Gruppen eingepflanzt worden ist, wie Anwar sich zum Werkzeug dieses Hasses machen lässt, wie die Rechnung der Nationalisten aufgeht und das Land – anders als Deutschland, denn Deutschland wurde besiegt – schließlich, in Anführungsstrichen, "judenrein" wird. Fatah greift dabei auf eine große literarische Form zurück, schreibt spannend bis zur letzten Zeile und liefert literarisches Schwarzbrot.
Die Rahmenhandlung des Romans spielt Mitte der 1950er-Jahre, als die letzten Juden das Land verlassen. Dr. Stein ist in Bagdad, Ephraim und Ezra tauchen auf. Anwar, Diener und Bote der neuen Machthaber, wird zu seinem Herrn gerufen. Was wird hier gespielt? Wie ist er zu dem geworden, der er jetzt ist? Welche Rolle wird ihm – er ist ja erst Mitte 30 – am Ende des Romans zugedacht? "Die Erinnerung ist wie ein Haus", hatte Dr. Stein zu Anwar damals im Lazarett vor Warschau gesagt, als ihm alles verloren schien: "Sie hat mehrere Zugänge. Finde einen anderen – als Dieb kannst du das doch." Ohne große Emotionen, ohne eigene Moral, Erkenntnisse oder Lehren aus der Geschichte, beinahe teilnahmslos legt dieser Antiheld Schicht um Schicht die Zugänge zu seiner Erinnerung frei. Sherko Fatah begleitet ihn über eine Strecke von knapp 500 Seiten und schafft damit einen ebenso unterhaltsamen wie ganz nebenbei auch lehrreichen Roman.
"Diese Mitläuferfigur Anwar ist eben zu wenig, auch nach ihrem eigenen Gefühl, so habe ich ihn gezeichnet. Das drückt sich darin aus, dass er ständig jemand werden will. Er ist also von allem Anfang an zu allen Verwandlungen bereit und das ist ja eine Suche nach Identität und so ist auch sein Erinnern: eine Suche nach Identität in Ereignissen, die sich überschlagen. Es ist eine schwache Figur, die durch ungeheuer starke Ereignisse aufgeladen wird – und genau dabei habe ich es belassen."
Sherko Fatah: Ein weißes Land. Roman, Luchterhand Literaturverlag 2011, 478 Seiten, 21,99 Euro