Orcas haben erneut eine Segelyacht vor der marokkanischen Küste versenkt. Die Crew der 15-Meter-Yacht "Alborán Cognac" hörte am Morgen des 15. Mai 2024 Schläge gegen den Rumpf des Boots. Sie segelten zu der Zeit am südlichen Eingang zur Straße von Gibraltar. Schwertwale hatten es auf das Ruderblatt abgesehen und beschädigten es. Wasser drang in das Boot ein, woraufhin die Segler einen Notruf absetzten.
Eine Stunde nach dem Notruf wurden die Schiffbrüchigen von einem Tanker an Bord genommen. Die Yacht sank kurz darauf. Und das ist kein Einzelfall, sondern bereits der siebte derartige Vorfall seit 2020. Das Verhalten der Schwertwal-Population rund um die iberische Atlantikküste und nahe der Straße von Gibraltar ist für Orcas weltweit einzigartig. Doch warum haben es die Tiere immer wieder auf Yachten abgesehen?
Wie und wo leben Orcas?
Der Orca oder auch Schwertwal (Orcinus orca) ist eines der am weitesten verbreiteten Meeressäugetiere und gehört zur Familie der Delfine. Man findet Orcas von polaren Gewässern bin zum Äquator. Ihre markante Rückenfinne macht sie leicht erkennbar. Erwachsene Tiere erreichen eine Größe von bis zu 9,8 Meter. Männchen sind dabei deutlich größer als die Weibchen.
Orcas gelten als äußerst intelligente und extrem soziale Tiere. Sie leben in engen Familienverbänden zusammen und jagen Fische, Kalmare, Meeresschildkröten und auch Meeressäuger. In Gruppen greifen sie sogar Blauwale – die größten Tiere der Welt – und Weiße Haie an. Auch deshalb hat sich der Name "Killerwal" etabliert. Als Top-Raubtiere der Ozeane haben sie selbst keine natürlichen Feinde.
Wo fanden die „Angriffe“ der Orcas bisher statt?
Rund 50 Orcas leben zwischen dem Norden der Iberischen Halbinsel und der Straße von Gibraltar, wo die Zusammenstöße mit den Segelbooten immer wieder vorkommen, erklärt Biologe Ulrich Karlowski. Warum das Gebiet bei den Schwertwalen so beliebt ist? Sie finden dort eines ihrer Lieblingsessen: den Thunfisch.
Insgesamt gab es bislang rund 700 solcher Zusammenstöße von Orcas mit Booten. Dabei wurden nur sieben Boote tatsächlich versenkt. Betroffen sind dabei vor allem Segelboote unter 15 Metern Länge, wie die Wissenschaftler der Arbeitsgruppe namens Grupo de Trabajo Orca Atlantica (GTOA), die sich mit der Erforschung und dem Schutz einer spezifischen Schwertwal-Population in der iberischen Region befasst, berichten. Motor- und Fischerboote bleiben laut GTOA meist verschont.
Das merkwürdige Verhalten dieser sogenannten Gibraltar-Orca-Population oder auch Orca Iberica ist weltweit einzigartig, betont Biologe Ulrich Karlowski. Und es seien immer dieselben 16 Tiere, die mit den Booten interagieren – in erster Linie Jungtiere und weibliche Erwachsene.
Wie verlaufen die Zusammenstöße mit den Orcas?
Normalerweise nähert sich eine kleine Orca-Gruppe dem Boot, und nur eines der Tiere berührt es oder rammt es, erklärt Meeresbiologin Mónica González. Das Ziel der Tiere sei es, das Ruder zu beschädigen, so Biologe Karlowski. Sie kennen den Mechanismus und wissen, dass die Boote dann stoppen müssen.
"Diese Verknüpfung haben sie durch ihre Lernerfahrungen hergestellt", sagt Karlowski. Nur in den wenigsten Fällen versenken die Schwertwale die Boote tatsächlich. Dass Medien nach wie vor von Angriffen sprechen, hält Karlowski für gefährlich. Orcas würden dadurch ein negatives Image aufgedrückt bekommen. Das Problem seien nicht die Schwertwale, sondern die Menschen, die durch die Gebiete der Orcas segeln und sich rücksichtslos verhalten würden.
Am 17. August 2023 schoss eine Segelcrew vor dem spanischen Ort Tarifa auf Orcas, um sie zu vertreiben. Es war die Rede von Böllern oder anderer Pyrotechnik, heißt es auf der Seite der Deutschen Stiftung Meeresschutz. Dank der Videoaufnahmen von zufällig anwesenden Whalewatchern konnte die spanische Polizei erstmals in einem solchen Fall ermitteln. Dass Orcas nun auch angegriffen werden, sei "eine Katastrophe", meint Karlowski. Denn die Population der Orca Iberica stehe unter strengstem Naturschutz.
Was sagt die Wissenschaft zum Verhalten der Orcas?
Im Internet kursierten schnell nach den ersten von Orcas versenkten Yachten humoristische Fotos und Videos, sogenannte Memes, etwa mit dem Titel "Eat the Rich", ein Spruch, der das kapitalistische System und reiche Menschen kritisiert, da gerade sie Yachten besitzen.
Doch das Verhalten der Orcas ist natürlich keine antikapitalistische Handlung. Forschende sehen auch keine Hinweise auf aggressives Verhalten. Die Tiere wollen die Menschen nicht absichtlich verletzen. Daher sprechen die Forschenden auch nicht von Angriffen, sondern vielmehr von Interaktionen.
Es gibt vor allem zwei zentrale Theorien, warum die Orcas die Boote rammen. "Die gängigste aktuell ist: Sie wollen nur spielen", sagt Karlowski. Die Tiere beschädigen die Ruder, damit die Boote stoppen. Der recht simple Grund: "Sie finden das toll", so der Biologe. Das Verhalten hätten sie sich selbst beigebracht.
Negatives Erlebniss könnte Schlüssel sein
Eine weitere Theorie besagt, dass ein Orca ein negatives Erlebnis im Zusammenhang mit Booten gehabt und eine Stressreaktion erlitten haben könnte, so Meeresbiologin Mónica González. Dieses Ereignis könnte eine Verhaltensänderung bei einem Orca ausgelöst haben, Boote zu berühren, um es zu stoppen. "Wir glauben, dass es ein bestimmtes ausgewachsenes Weibchen gewesen sein könnte", sagt die Meeresbiologin.
Das Aufhalten der Boote könnte sie auf andere Orcas übertragen haben. "Und jetzt haben die Orcas dieses Verhalten als kulturell und identitätsstiftend angenommen und wiederholen es."
Fakt ist: Bislang hat kein Orca in der Region einen Menschen verletzt. So schreibt auch der ADAC auf seinem Skipper-Portal bei den Verhaltensempfehlungen bei Orca-Begegnungen: "Entgegen einer häufig auftretenden Meinung stehen weder Robben noch andere Tiere, die mit Menschen verwechselt werden könnten, auf der Speiseliste vom Orcinus orca."
Nehmen die Orca-Zusammenstöße zu?
Aktuell erlebe man einen Rückgang der Begegnungen, die konfrontativ sind, erklärt Karlowski. Außerdem: Es gebe weltweit tausende Orcas, in allen möglichen Meeresregionen. Von all diesen Tieren machen nur diese 16 aus der Gibraltar-Orca-Population die Interaktionen. „Das kann auch wieder verschwinden“, sagt der Biologe. Denn es komme immer wieder in der Familie der Delfine vor, dass sich Tiere bestimmte Verhaltensweisen ausdenken und am Ende verschwinde es auch wieder.
Laut einem Bericht von "Scientific American" haben Orcas beispielsweise im Sommer 1987 im pazifischen Nordwesten eine Zeitlang tote Lachse auf ihrem Kopf balanciert.
Wie kann man die Interaktion mit Orcas verhindern?
Falls Bootsfahrer bemerken, dass sich Orcas nähern, rät Meeresbiologin Mónica González dazu, das Boot zu stoppen. Denn Geschwindigkeit motiviere die Orcas. Sie wollen laut der Meeresbiologin mit den Booten konkurrieren, und ein Segelboot könne einen Orca niemals überholen. González rät zudem: "Schalten Sie den Motor aus und bleiben Sie ruhig. Auch Schreien oder das Werfen von Gegenständen auf die Orcas erhöht deren Motivation."
Außerdem sollte man generell die Gebiete meiden, von denen man weiß, dass die Orcas dort fressen. Die GTOA hat mit den lokalen Behörden bereits eine gemeinsame Karte entwickelt, die die Meeresgebiete in der Region mit einem Ampelsystem kennzeichnet. Segler können so prüfen, wo es wahrscheinlich ist, auf Orcas zu treffen, und wo nicht.
Akustische Abschreckung
Vincent Janik, Professor für Meeresbiologie an der Universität St Andrews in Schottland hat zudem ein System mitentwickelt, mit dem Orcas akustisch abgeschreckt werden sollen. Dieses beruhe auf dem sogenannten Schreckreflex. „Das ist ein ganz weit verbreiteter Reflex unter Säugetieren, der eintritt, wenn man einem plötzlichen Laut ausgesetzt ist“, erklärt Vincent Janik.
Das System wurde bereits an Schwertwalen getestet. „Und wir waren erfolgreich“, so der Meeresbiologe. „Wir können die Tiere für 100 bis 200 Meter von der Lärmquelle wegbewegen.“ Auch vor der iberischen Küste könnte es nun eingesetzt werden. „Die Yacht müsste den Lautsprecher dann hinter sich herziehen, damit die Tiere fernbleiben“, sagt Vincent Janik. Das Signal würde nicht zu Hörschäden oder Schmerzen bei den Tieren führen und wäre dementsprechend langfristig wirksam.
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