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Organisierter Drogenhandel
Der "König der Favelas"

Seit vier Jahren sitzt einer der größten Drogenbarone Rios im Gefängnis. Nem ist der "König der Favelas" in Misha Glennys gleichnamigen Buch. Und er ist der Protagonist dieses kurzweiligen, exzellent recherchierten Erklärstücks des britischen Journalisten über die Strukturen des organisierten Drogenhandels in Brasilien.

Von Jonas Reese |
    Es ist nicht lange her, da befand sich Rio de Janeiro im Kriegszustand. An Weihnachten 2006 zog das sogenannte "Rote Kommando" brandschatzend durch die Stadt. Eines von mehreren Verbrechersyndikaten in Rio demonstrierte damit seine Macht und zugleich die Machtlosigkeit des Staates.
    "Der übelste Zwischenfall ereignete sich am Morgen des 28. Dezember nördlich von Complexo do Alemão. Fünfzehn maskierte Männer brachten einen Reisebus zum Stehen. (…) Mithilfe von Benzin und Molotowcocktails steckten sie das Fahrzeug in Brand und sahen zu, wie die verzweifelten Passagiere zu entkommen versuchten. (…) Sieben Menschen wurden bei lebendigem Leib verbrannt, ein weiterer starb zwei Tage später im Krankenhaus."
    Es war ein seltener Moment, in dem das Organisierte Verbrechen in den offenen Kampf mit dem Staat ging. Denn lange Zeit koexistierten beide in stillem Einvernehmen.
    Einer der zahlreichen Akteure und Profiteure dieser Zeit ist Antonio Francisco Bonfim Lopes, genannt Nem. Zwischen 2006 und 2011 war er einer der größten Drogenbarone Rios. Er beherrschte den wichtigsten Drogenumschlagplatz der Stadt - die zentral gelegene Favela Rocinha.
    Lange war Nem der meistgesuchte Verbrecher Brasiliens. Bis er sich "amtsmüde", wie er es nannte, nach einer mysteriösen Abmachung entweder selbst an die Justiz auslieferte oder geschnappt wurde. So ganz ist das bis heute nicht klar. Seit vier Jahren sitzt Nem nun im Gefängnis. Er ist der "König der Favelas" in Misha Glennys gleichnamigen Buch. Und er ist der Protagonist dieses kurzweiligen, exzellent recherchierten Erklärstücks des britischen Journalisten über die Strukturen des organisierten Drogenhandels:
    "Es war nicht seine Absicht, in den Drogenhandel einzusteigen. Nem wollte es nicht. Aber die meisten Kinder geraten genauso darein. Im Alter von 12, 13, 14 Jahren. Ich empfinde es als große Tragödie. Die Götter hatten die Würfel geworfen, als Nems Tochter krank wurde. Und dann musste er Entscheidungen treffen. Ich finde, er hat richtige Entscheidungen getroffen und falsche."
    Der Drogenboss unterhält seine eigene Armee
    Mit 24 Jahren steigt Nem in den Drogenhandel ein. Er braucht Geld, um die Behandlung seiner kranken Tochter bezahlen zu können. Nach und nach rückt er in der Hierarchie nach oben. Er genießt den Ruf, zuverlässig und diskret zu sein. Er erlebt, wie zahlreiche seiner Bosse dem ständigen Kampf zwischen den einzelnen Verbrechergruppen zum Opfer fallen, bis er dann selbst einen ihrer Plätze einnimmt und zum Don seiner Favela Rocinha wird. Nun ist er alleiniger Herrscher über rund 100.000 Bewohner und gilt wegen seiner ungewöhnlichen Politik als durchaus beliebt.
    "Er hat die Gewaltrate auf ein neues Rekordtief gesenkt. Seine Herrschaft hat zu einem enormen wirtschaftlichen Boom in seiner Gemeinde geführt. Und seine Regeln haben eine Abnahme von Kleinkriminalität, Diebstählen und Vergewaltigungen im Großteil der Südzone bewirkt."
    Als Drogenboss von Rocinha fungiert Nem als eine Art inoffizieller Bürgermeister des Bezirks. Gewinne aus dem Drogenhandel reinvestiert er in sein Viertel. Er verteilt Lebensmittel an Familien und vergibt günstige Kredite. Er ist Bank und Sozialstaat und besitzt das Gewaltmonopol. Waffen auf der Straße sind verboten. Krieg ist schlecht fürs Geschäft. Er unterhält seine eigene Armee. 100 bis 150 bewaffnete Soldaten, so schreibt Glenny, sorgen für seine Sicherheit in der Favela.
    "Das Kokain hat sehr viel Geld in Gegenden gespült, wo es keine staatliche Kontrolle gab. So entwickelten sich Hierarchien, die der Rangordnung im Drogenhandel entsprachen. Und diese Hierarchien verteidigten die Drogenhändler, durch viele Waffen. Waffen, die vor allem aus den USA kamen, aber später aus Brasilien selbst. Und das führt zu einem unglaublichen Ausmaß an Gewalt in den großen Städten des Landes. Vor allem in Sao Paulo und Rio de Janeiro."
    Ein schwerwiegendes Argument gegen den Krieg gegen Drogen
    Glenny beschreibt in seinem Buch Rios größten Drogenumschlagplatz aus der Innenperspektive. Außerdem nutzt er die Erkenntnisse aus 30 Stunden Interviewmaterial mit Drogenboss Nem und aus Befragungen von weiteren Drogenhändlern, Polizisten, Politikern und Journalisten, um größere Zusammenhänge darzustellen: Seien es nationale politische Umwälzungen in Brasilien oder globale Veränderungen. Die Geschichte Brasiliens ist, so wird durch Glennys Buch deutlich, auch eine Geschichte des Drogenhandels. So erzählt das Leben des cleveren Drogenbarons Nem viel über das Brasilien der Gegenwart, über die Strukturen des urbanen Drogenhandels, und damit auch über die Versäumnisse der Politik, die durchaus exemplarisch sind für andere Länder und Städte.
    Der ehemalige Korrespondent von BBC und Guardian Misha Glenny befasst sich seit Langem intensiv mit den Funktionsstrukturen des Organisierten Verbrechens. Wie in seinen vorangegangen Analysen, entlarvt er auch dieses Mal den Wegfall der staatlichen Ordnung als dessen fruchtbarsten Nährboden. In seinem neuen Werk konzentriert er sich ausschließlich auf den Drogen- und Waffenhandel. Darin vermag er es, an einer einzigen Person, dem Drogenboss Nem, die Logik und den Irrwitz des weltweiten Kriegs gegen Drogen aufzuzeigen.
    "Während also die brasilianischen Drogenhändler gut verdienten, indem sie Kokain nach Europa und in die USA verkauften, holten sich die amerikanischen Waffenhändler einen ordentlichen Teil des Geldes wieder zurück. Die Logik des 'War on Drugs' - des Kriegs gegen die Drogen -, an dem Washington und der Großteil Europas nach wie vor festhalten, hatte einen gnadenlosen Kreislauf aus Mord und Exzess in Gang gesetzt, der die Waffenhersteller, die südamerikanischen Drogenhändler und die Kokain konsumierende Mittelschicht von Berlin bis Los Angeles zusammenschweißte."
    "Der König der Favelas" ist ein schwerwiegendes Argument gegen den weltweit andauernden Krieg gegen Drogen. Gut nachvollziehbar, schlüssig und schwer zu entkräften. An manchen Stellen ist es zwar sprachlich etwas lieblos und die Machenschaften eines Drogenbarons verharmlosend aber dafür von einzigartigem Detailreichtum, ohne den Blick fürs Große und Ganze zu verlieren.
    Im Sommer dieses Jahres werden in Rio de Janeiro die Olympischen Sommerspiele stattfinden. Pünktlich mit der Vergabe der Austragung im Jahr 2009 begann die Stadt, die Favelas zurückzuerobern. Nach der Lektüre von Misha Glennys Buch wird man die feierlichen Bilder der Spiele kritischer betrachten müssen.
    Misha Glenny: "Der König der Favelas"