Gemeinsam kochen, spielen, singen – fast schon nostalgische Erinnerungen an vorpandemische Zeiten. Umso schöner ist es, wenn auch unter Pandemiebedingungen Menschen zusammenkommen und die Welt ein Stück leichter machen können. Der Musikhochschule in Mainz ist so ein Kunststück gelungen – und hat damit auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Orgelmusik geleistet. Und das Beste ist: Es klingt dazu noch sehr gut.
Musik: Rinck - Postludium in G-Dur, Op. 55 in G-Dur, Op. 55
Die Organistin Anna Ziert spielte das Postludium G-Dur op. 55 von Johann Christian Heinrich Rinck. Der Darmstädter Organist hätte letztes Jahr sein 250. Geburtsjubiläum haben können, vor lauter Beethoven ist das Rinck-Jubiläum dann allerdings völlig unter den Tisch gefallen. Umso erfreulicher, dass die Orgelklasse des Mainzer Professors Gerhard Gnann ihm diese umfangreiche Doppel-CD aufgenommen hat, darunter viele Ersteinspielungen. Sie zeigt die Musik eines Komponisten, der zwischen Barock und Frühromantik pendelt. Rinck ist fest verwurzelt in der evangelischen Tradition Johann Sebastian Bachs und bietet gleichzeitig einen Vorgeschmack auf die deutsche Orgelromantik. Dafür hat Rinck neue Formen erfunden wie das fugierte Nachspiel. Rinck hat die barocke Form von Praeludium und Fuge eingedampft – auf nur noch einen Satz:
Musik: Rinck - 12 Fugierte Nachspiele in A-Dur, Op. 48- XI, Postludium in A-Dur
In der Tradition Bachs
Ganz warm und grundstimmig spielte David Emmanuel Franke das Fugierte Nachspiel in A-Dur aus dem Opus 48 von Johann Christian Heinrich Rinck. Rinck – Organist, Komponist und Pädagoge – kam 1770 zur Welt, im gleichen Jahr wie Ludwig van Beethoven. Er hatte Unterricht beim letzten Schüler Johann Sebastian Bachs, stand also ganz in der Tradition der evangelischen Kantoren. Seine Choralbearbeitungen, Adagios und kurze Postludien eignen sich hervorragend für den Gottesdienstgebrauch. Umso erfreulicher, dass die Orgelstudierenden die bestmögliche Version dieser technisch anspruchsvollen Stücke zeigen, so wie hier Niklas Jahn mit der Choralvariation über "Nun danket alle Gott", Opus 127. Rinck verbindet die barocke Form mit der Tonsprache einer neuen Epoche:
Musik: Rinck - Choral Und Variation Über 'Nun Danket Alle Gott', Op. 127
Gerhard Gnann und seine Studierenden zeigen Johann Rinck als Wegbereiter. Als Rinck 1770 auf die Welt kam steckte die Orgelmusik in eine Sackgasse. Johann Sebastian Bach hatte die barocken Formen perfektioniert. Draußen allerdings veränderte sich die Welt. Der "galante Stil", wie er von Carl Philipp Emanuel Bach oder Alessandro Scarlatti gepflegt worden ist, galt als neuester Schrei – nur war er für die Kirche vollkommen ungeeignet. Denn Kirchenmusik sollte nach wie vor über das irdische erhaben, würdevoll klingen. Rinck versöhnte sie mit einer neuen musikalischen Form, einem geistlichen Charakter-Stück: Diese kurzen Adagios auf dieser CD zeugen von Rincks Erneuerungskraft. Die polyphone Tradition der Bachschen Orgelmusik erweitert er um chromatische Läufe, angedickte Klangflächen und durchdringenden Solostimmen. Sven Hanagarth spielt das Adagio C-Dur, op. 57.
Musik: Rinck - Adagios Für Orgel in C-Dur, Op. 57- VI, Adagio in C-Dur
Aufgenommen an authentischem Instrument
Die Aufnahmen zu dieser Doppel-CD sind im Mai 2020 in der Mainzer Innenstadt realisiert worden. Erst vor wenigen Jahren ist dort in der Sankt-Ignaz-Kirche die große Dreymann-Orgel aus dem Jahr 1837 aufwendig restauriert worden. Rinck hat selbst an diesem Instrument gesessen und in seiner Orgelschule als Muster angeführt, für zeitgenössischen Orgelbau. Sie vereint einen silbrigen Plenumklang mit leiseren, aber dafür dichteren Grundstimmen. Rincks Musik kann sich hier voll entfalten, so wie in der Fantasie und Fuge Es-Dur, gespielt von Stephan Rahn – eine durchdringende Toccata trifft auf warme Texturen unter strahlenden Solostimmen.
Musik: Rinck - Orgel-Concert in F-Dur - I. Allegro Moderato
Für diese Produktion hat Orgelprofessor Gerhard Gnann die Gewerke seiner Hochschule mit der Darmstädter Rinck-Gesellschaft zusammengebracht. Dabei ist auch ein sehr lesenswertes Booklet entstanden. Wem Rinck zuvor kein Begriff war, entdeckt spannende Hintergrundinformationen zu seiner Bedeutung, aber auch zum Instrument in der Sankt-Ignaz-Kirche: So erfährt man, dass die Orgelpfeifen im ersten Weltkrieg zu Konservendosen verarbeitet werden sollten. Doch mit Bauernschläue retteten die Mainzer ihr Instrument, indem sie die Pfeifen mit einem minderwertigen Metallgemisch überlackierten. Oder man liest, dass die Bälge der Orgel elektrisch, aber auch mit Muskelkraft betrieben werden können – und Orgelprofessor Gerhard Gnann schwört auf den – Zitat – lebendigen, beseelten Klang der tretenden Orgelstudierenden. Man sieht ihren Schweiß förmlich rinnen, wenn Rinck ein französisches Kinderlied in ein Forte-Finale verhext.
Musik: Rinck - Neun Variationen und Finale, Op. 90
Erkenntnisgewinn auf hohem Niveau
Mehr als 2000 Pfeifen klingen in der Dreymann-Orgel der Mainzer Ignaz-Kirche. Eine Herausforderung für einen Tonmeister, der auch noch gegen den Raumhall ansteuern muss. Der Tonmeister dieser Produktion kommt ebenfalls aus den Reihen der Mainzer Musikhochschule: Moritz Reinisch sorgt für ein authentisches, ausbalanciertes Klangerlebnis: die Bässe grundieren klar und vereinen sich mit den warmen Diskantstimmen. Das matscht nicht, sondern klingt nach gut geschichtetem Tiramisu. Dazu hört man leise die Register knacken und die Seiten rascheln beim Umblättern. Ein authentisches Klang-Erlebnis, das Lust macht auf mehr Musik Johann Christian Heinrich Rinck. Gerhard Gnann und seine Orgelklasse bieten Erkenntnisgewinn auf künstlerisch hohem Niveau.
Johann Christian Heinrich Rinck: Orgelwerke
Niklas Jahn, Orgel
Sven Hanagarth, Orgel
Bernhard Herzog, Orgel
Stephan Rahn, Orgel
David Franke, Orgel
Carolin Kaiser, Orgel
Anna Ziert, Orgel
Gerhard Gnann, Orgel und Projektleitung
Label: Coviello
Niklas Jahn, Orgel
Sven Hanagarth, Orgel
Bernhard Herzog, Orgel
Stephan Rahn, Orgel
David Franke, Orgel
Carolin Kaiser, Orgel
Anna Ziert, Orgel
Gerhard Gnann, Orgel und Projektleitung
Label: Coviello