Musik: "All is One"
Sie singen mal auf Hebräisch, mal auf Arabisch, mal auf Englisch. Die israelische Band Orphaned Land betreibt seit mehr als zwei Jahrzehnten ihren ganz eigenen Nahost-Friedensprozess, nicht am Verhandlungstisch, sondern auf Bühnen im Studio und auf Plattentellern. Mit Texten, die von den heiligen Schriften der Weltreligionen inspiriert sind und einer Mischung aus Metal und Folklore. Als Teenager haben die Musiker 1991 ihre Band gegründet, anfangs unter dem Namen Ressurection. Treibende kreative Kraft waren vor allem Gitarrist Yossi Sassi und Sänger Kobhi Farhi.
"Wir wollten nicht klingen wie irgendeine amerikanische Band"
Kobi Farhi: "Als wir die Band gegründet haben, dachten wir, wir kopieren einfach all diese Metal Bands aus den USA und Europa, die Bands deren Fans wir waren. Also Sepultura aus Brasilien, At The Gates aus Schweden und all die US-Bands. Aber das wurde schnell langweilig, wir wollten nicht klingen wie irgendeine amerikanische Bad. Wir wollten auch unser Land repräsentieren, unsere Region. Und es gab auch keinen guten Grund für uns, zu klingen wie schwedischer Death Metal. Und dann dachten wir, es wäre doch ein schöner Beitrag zum Metal-Genre, wenn wir nahöstliche Elemente einbringen. Wir wollten die Metal-Szene größer und bunter machen, das war der erste Gedanke. Also tauften wir die Band in Orphaned Land um, als Anspielung auf das heilige Land in Israel. Wir leben in einer bewegten Region, mit vielen politischen Problemen und mit viel Geschichte – und die Musik sollte das widergeben. Das war also das Ziel, als wir uns entschlossen haben, Oriental Metal zu machen."
Musik: "Ocean Land"
Seit Orphaned Land mit den ersten zwei Alben das Oriental Metal-Genre entscheidend geformt vielleicht – hier streiten die Experten – sogar erfunden hat, mischen nicht nur nahöstliche Bands wie die Tunesier Myrath erfolgreich Metal mit orientalischen Elementen, sondern auch westliche Kollegen wie Opeth und Lamb of God. Orphaned Land hat den Sound nicht über Nacht entwickelt. Am Anfang klang das eher nach straightem, atmosphärischem Death Metal mit gelegentlichen Folklore-Einlagen, und gerade auf den Debütalbum "Sahara" sind die stilistischen Brüche manchmal etwas hart. Auf das erste Album folgte ein zweites, "El Norra Alila", und danach kam: erstmal nichts.
Kurze Pause von acht Jahren
Kobi Farhi: "Wir waren Teenager als wir unseren ersten Plattenvertrag bekommen haben, dann kam das zweite Album und dann kam eine Art Krise. Wir waren damals 18 oder 19. Und wir wollten andere Sachen mit unserem Leben machen. Einer von uns hat geheiratet, einer ist durch Indien und halb Asien gereist und ich hab einen Vertrieb für Metal und Trance-Musik aufgezogen. Wir haben immer gesagt, wir machen kurz Pause, und bevor wir es gemerkt haben, waren acht Jahre vergangen."
2004 erschien der Nachfolger "Mabool" – ein Metal-Klassiker und bis heute für viele Fans Orphaned Lands bestes Album. Die Band klingt darauf geschliffener, bleibt den Death Metal-Wurzeln treu, experimentiert gleichzeitig mit Prog, Jazz und Fusion und findet dabei ihren eigenen Sound.
Kobi Farhi: "Als wir das Album aufgenommen haben, war es eine tolle Erfahrung. Wir hatten die Band vermisst, das Musikerleben und die Aufnahmen. Und "Mabool" war ein riesiger Durchbruch für uns. Zum ersten Mal sind wir außerhalb von Israel getourt, alles dank "Mabool". Das Album, das dieses Jahr übrigens fünfzehn wird, war für uns ein echter Wendepunkt. Aber es hat eben lange gedauert. Wir waren jung und brauchten diese Pause um herauszufinden, was wir eigentlich vom Leben wollen. Und dann haben wir uns wieder zusammengetan."
"Mabool" brachte der Band neben dem internationalen Durchbruch auch einen der größten Hits ihrer Karriere. "Norra El Norra" ist ein Paradebeispiel für den Orphaned Land-Sound, eine nahtlose Fusion von orientalischer Folklore und Metal.
Musik: "Norra El Norra"
Der Nachfolger "The Never Ending Way of ORwarriOR" war eine konsequente Fortsetzung dessen was die Band auf "Mabool" begonnen hatte. Auf dem Album kann man nicht nur Steven Wilson als Gastmusiker an den Keyboards hören, er stand auch bei den Aufnahmen an den Reglern, ist mit der Band aufgetreten und bis heute ein guter Freund geblieben. Ursprünglich hatten er und Kobi Farhi sich während der langen Bandpause kennengelernt.
Steven Wilson gefiel der Sound anfangs nicht
Kobi Fahri: "Es fing mit meinem Musikvertrieb an, eins unsere Alben war Porcupine Trees "Lightbulb Sun". So habe ich mich mit Steven und dem Rest der Band zum Abendessen getroffen. Ich hab ihm dann unsere zwei Alben gegeben und, um ehrlich zu sein, mochte er sie nicht besonders. Aber wir mochten uns persönlich und sind in Kontakt geblieben, und als dann "Mabool" erschien, hab ich ihm das Album geschickt und das hat ihm wirklich gefallen. Er sagte, jetzt habt ihr endlich eine Richtung, es klingt wirklich frisch und originell, wie nichts anderes. Damals hatte er angefangen mit Opeth zu arbeiten, und was er mit Mikael gemacht hat war toll. So hab ich zu ihm gesagt, er sollte wirklich als nächstes mit uns arbeiten. Es hat natürlich geholfen, dass er oft in Israel war. Und so haben wir die Entscheidung getroffen."
"The Never Ending Way of ORwarriOR" beginnt mit dem Gassenhauer "Sapari", einem weiteren Favoriten der Fans, der auf keinem Konzert der Band fehlen darf. Der Song ist älter als er klingt: "Sapari" ist ein Metal-Arrangement eines dreihundert Jahre alten jemenitisch-jüdischen Volksliedes.
Musik: "Sapari"
Kobi Farhi: "Ich bin einfach Musikfan, und ich sage immer wenn Musik authentisch klingt, wenn ich dem Künstler glaube, dann ist sie toll. Ich geb' dir mal ein Beispiel: Bob Dylan. Der ist kein wirklich großartiger Sänger, zumindest nicht stimmlich, und auch kein so toller Performer. Aber er ist einfach hundert Prozent Bob Dylan, darauf konzentriert er sich und er ist ein Genie. Wenn ich also einem Musiker glaube, dann ist das gut, egal ob Death Metal oder Prog-Rock. Ich liebe beides, genau wie orientalische Musik. Prog kann überwältigend sein, es gibt lange Gitarrensoli und Konzeptalben, die eine Geschichte erzählen, wie Jeff Waynes "War of the Worlds" oder Dream Theaters "Scenes from a Memory"."
Mit Death Metal, Prog und Orientalischer Musik erschöpfen sich die Facetten von Orphaned Land nicht. Zwischen doomigen Riffs, Double Bass und kreischenden Soli hört man immer wieder poppige Klänge, ruhige Passagen mit viel Percussion, Mitsing-Melodien mit Power-Metal-Einschlag und eine ordentliche Portion Classic Rock. Dabei wechselt die Band scheinbar mühelos zwischen westlichen und orientalischen Tonsystemen.
"Repertoire für verschiedene Bands"
Kobi Farhi: "Für mich ist Musik auch Recherche. Wenn Du dir meine Plattensammlung anguckst, findest du darin alles Mögliche: Pakistanische Musik, Türkischer Psychadelic-Folk, Einstürzende Neubauten... Das sind viele Einflüsse und ich glaube Orphaned Land hört man an, dass wir einen eklektischen Geschmack haben. Man könnte aus dem Repertoire von Orphaned Land verschiedene Bands machen: Eine mit Death Metal Growls, eine mit Balladen, eine mit Folklore – wenn man das Leuten vorspielt, glauben sie nicht, dass es dieselbe Band ist. Das liegt an unserem persönlichen Geschmack: Meiner, der unseres Gitarristen, unseres Bassisten, unseres Schlagzeugers, alles völlig verschieden. Und dann bringen wir das alles zusammen."
Musik: "Brother"
Die musikalischen Einflüsse kommen aus ganz verschiedenen Ecken, aber bei einem Thema war sich Orphaned Land von Anfang an einig: Während Politik und Religion den Nahen Osten spalten wie kaum eine andere Region, sollte die Band konsequent unpolitisch bleiben. Ironischerweise ist genau diese Haltung, die der Band auch eine riesige Fangemeine in der arabischen Welt beschert hat, in sich ein politisches Statement.
"Habe das Privileg, alle anzusprechen"
Kobi Farhi: "Wir haben uns immer gedacht, wir sprechen zwar die Probleme der Region an, aber ohne dabei Partei zu ergreifen. Wie kann man politisch sein, ohne sich auf eine Seite zu schlagen? Ganz einfach: Wir gehen davon aus, dass alle Politiker Unrecht haben. Und ich sehe bei unserem muslimischen Fans, unseren arabischen Fans. Wir sind Juden, und sie kommen zu unseren Shows, bringen Geschenke mit, sie lieben uns, wir lieben sie. Und dann fällt dir auf, dass da hinter den Kulissen jemand versucht, uns gegeneinander auszuspielen, damit wir uns hassen, uns bekämpfen. Politiker haben es gern, wenn die Menschen Angst haben, verwirrt sind und sich gegenseitig hassen. So kann man sie besser kontrollieren. Und bei allen Meinungsverschiedenheiten über andere Sachen – hierbei ist sich die Band einig. Alles ist eins, und das ist die Grundlage von allem. Das sieht man auch bei unseren Konzerten: Religiöse Menschen, Atheisten, schwul, lesbisch, muslimisch, jüdisch, deutsch. Wenn ich anfangen würde zu sagen: "Ich bin gegen dies oder das" würde ich mein Publikum spalten. Und ich habe mit der Band das Privileg, alle anzusprechen, und das möchte ich nicht aufgeben."
Musik: "Take My Hand"
Aber auch wenn Orphaned Land sich so bewusst konsequent dem politischen Diskurs entzieht, gibt es doch Meinungsverschiedenheiten, denen man nicht entkommen kann. So zum Beispiel die Kontroverse um die Palästinensische BDS-Bewegung: Boykott, Devestition und Sanktionen. Die ruft, unterstützt von zum Beispiel Roger Waters und Brian Eno, andere Künstler zu einem Boykott Israels auf, um damit eine politische Kehrtwende zu erzwingen.
Kobi Farhi: "Ja, ich bin gegen BDS. Ich finde, man soll Leute ihre Musik spielen lassen. Das Beste an Bob Dylan waren seine Protestsongs. Er hat die USA nicht boykottiert. Ich finde diesen Boykott auch verlogen, Israel ist ja nicht das einzige Land, in dem schlimme Sachen passieren. Es gibt die Türkei, oder zum Beispiel Russland. In Amerika passieren schlimme Sachen. Warum also nur Israel boykottieren? Wir haben manchmal fast das Gefühl, dass das eine neue Form von Antisemitismus ist. Natürlich ist Israel nicht perfekt. Ich hasse meine Regierung. Wirklich, ich mag sie überhaupt nicht und protestiere ständig gegen sie. Aber ich glaube, eine Band sollte nicht ihre Fans boykottieren."
Musik: "My Brother's Keeper"
Die BDS-Bewegung, so Farhi, hat auch nach 13 Jahren nicht viel erreicht. Vertreter aller Musikrichtungen spielen nach wie vor in Israel und an der Politik hat sich sowieso nichts geändert. Was aber auf der Strecke bleibt, ist der Dialog.
Kobi Farhi: "Da ich Israeli bin, gibt es Araber, die in mir den bösen Zionisten sehen, den sie sich vorstellen. Und da wir viele arabische Fans haben, bin ich für die Konservativen in Israel ein Linker. Was beides nicht stimmt. Ich stehe komplett in der Mitte, und als Musiker hab ich das Privileg, allen zu sagen, dass sie falsch liegen. Und ich kann es beweisen: Wenn in unseren Konzerten Menschen aller Kulturen und Religionen ihre Liebe für dieselbe Band teilen – auch wenn es nur für 90 Minuten ist. Ich bin mal gefragt worden: "Ganz hypothetisch, wenn du Mitte des letzten Jahrunderts leben würdest, während des Dritten Reichs, während des Holocausts. Würdest du in Berlin spielen?" Schwere Frage. Aber dann hab ich mir gesagt, ganz ehrlich, wenn das Konzert nicht von den Nazis organisiert wurde, und es gibt 20 Fans, die sich ein Ticket gekauft haben, 20 Fans mit denen ich reden kann, dann trete ich auf."
Gleich zwei Karriere-Meilensteine
Vor fünf Jahren hat dann Gitarrist Yossi Sassi, Mitbegründer von Orphaned Land und einer der Haupt-Songwriter, beschlossen, nach mehr als 20 Jahren die Band zu verlassen. Umso erstaunlicher, dass das aktuelle Album "Unsung Prophets and Dead Messiahs" nahtlos an die Vorgänger anschließt, kreativ auf der gleichen Höhe ist und der Band gleich zwei Karriere-Meilensteine beschert hat. Der erste ist ein Solo des legendären Genesis-Gitarristen Steve Hackett.
Kobi Farhi: "Steve Hackett, das war eine tolle Geschichte. Er hat mich angeschrieben, dass er ein Album macht und einen der Songs den Menschen im Nahen Osten widmen möchte. Er hatte von der Band und mir gehört und wollte, dass ich singe, und zwar zusammen mit einer berühmten arabischen Sängerin. Natürlich hab ich die Gelegenheit sofort ergriffen. Und dann wollte er wissen, ob ich für den Gesang Geld haben möchte. Oder ob er stattdessen ein Solo auf meinem Album spielen soll. Ich hab also überlegt: Ich könnte mir davon Pizza kaufen. Oder vielleicht eine neue Jacke oder Schuhe. Oder aber Steve Hackett von Genesis, der ein paar der besten Prog-Soli aller Zeiten gespielt hat und in der Hall of Fame ist, spielt auf meinem Album. Das ist für die Ewigkeit, ich kann meinen Kindern davon erzählen. Es war also nicht wirklich eine Frage, ich hab mich natürlich für das Solo entschieden. Und ich finde er hat eins der besten seiner ganzen Solokarriere gespielt. Das ist ein wirklich wirklich, ganz, ganz, wundervolles, tolles, unglaubliches Solo, das er da für den Song auf dem neuen Album gespielt hat.
"Der Höhepunkt unserer Karriere ist immer noch, dass wir mit unserer Musik eine Brücke gebaut haben für Menschen, die von klein auf dachten, wir sind ihre Feinde"
Musik: "Chains Fall To Gravity"
Der andere große Erfolg galt dem Song "Like Orpheus" – mit Gast-Vocals von Blind Guardian Sänger Hansi Kürsch. Das Video wurde mit dem Progressive Music Award als bestes des Jahres geehrt. Darin rocken eine islamische, Hijab-tragende Frau und ein orthodox jüdischer Mann gleichermaßen zur Musik und lassen beim Konzert ihre religiösen Insignien wie Hijab und Kippa unter Metal-Klamotten verschwinden. "Like Orpheus" bringt die Message von Orphaned Lands Musik perfekt auf den Punkt. Von der ursprünglichen Band sind nur noch Kobi Farhi und Bassist Uri Zelha übriggeblieben. Aber anders als die Besetzung hat sich die Message von Orphaned Land während all der Zeit nicht verändert – und sie ist das, worauf Kobi Farhi besonders stolz ist.
Kobi Farhi: "Ich glaube ganz ehrlich, der Höhepunkt unserer Karriere ist immer noch, dass wir mit unserer Musik eine Brücke gebaut haben für Menschen, die von klein auf dachten, wir sind ihre Feinde. Sie kommen zu unseren Konzerten, und das macht mich glücklicher als alles andere. Vor diesen Leuten zu spielen, sie zu sehen, gibt mir Hoffnung, dass für unsere Kinder, für kommende Generationen eine andere Welt möglich ist. Und das ist besser als jede Show, die wir mit Metallica oder Ozzy Osbourne spielen. In die Türkei zu fahren und da die Menschen zu sehen, die den ganzen Weg aus Syrien, Jordanien, dem Libanon, Saudi Arabien, Bahrain, Tunesien gekommen sind. Und zu sehen dass wir sogar Fans in Gaza und der West Bank haben – das ist für mich der Höhepunkt unserer Bandgeschichte."
Musik: "Like Orpheus"