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Orlando Figes: „Die Europäer"
Als Baden-Baden noch Hauptstadt von Europa war

Orlando Figes zeigt die kosmopolitische Geschichte des Kontinents im 19. Jahrhundert, mit der Verdichtung durch die Eisenbahn, doch am lebendigen Beispiel von Iwan Turgenjew, der Sängerin Pauline Viardot und ihrem Mann Louis Viardot.

Von Volkmar Mühleis |
Der britische Historiker Orlando Figes
Der britische Historiker Orlando Figes (imago images / Gerhard Leber)
Wie zeigt sich Geschichte? Und wie stellt man sie dar? Zwei grundlegende Fragen der Geschichtswissenschaft. Der Historiker Orlando Figes hat ein opulentes Werk darüber geschrieben, was es bedeutet, Europäer zu sein, "Die Europäer" genannt, mit dem Untertitel "Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur". Wie zeigt sich Europäisches, wie stellt man es dar? Man könnte es als Mentalität untersuchen, in Anlehnung an Beispiele der Mentalitätsgeschichte nach Fernand Braudel, Philippe Ariès und anderen. Oder auf postkoloniale Weise, als Blick von außen auf die Europäer und ihr Erscheinen für andere. Figes greift auf empirische Strukturen zurück, um herzuleiten wie sie das Selbstverständnis der Europäer geprägt haben.
Dieses Selbstverständnis hat seines Erachtens im 19. Jahrhundert Gestalt gewonnen. Und so beginnt er mit einigen markanten Fakten aus der dargestellten Zeitspanne: zum einen mit einer kurzen Erläuterung der ökonomischen Währungsverhältnisse im damaligen Europa, zum anderen mit drei Karten: einer politischen von Europa um 1840; einer der seit Anfang des Jahrhunderts erstmals entstandenen Eisenbahnstrecken und der damit verbundenen Kurorte; sowie einer von Paris um 1900. Die Eisenbahn bildet den alles vernetzenden Knotenpunkt seiner Betrachtung, während die Jahre 1840 und 1900 in vielerlei Hinsicht wichtige Schwellen sind, für die politische wie kulturelle Entwicklung gleichermaßen: den aufkommenden Streit zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus wie auch die Etablierung der Oper oder eines literarischen Kanons.
Euston Station, Londoner Endstation von London und Birmingham Railway. Ingenieur: Robert Stephenson
Euston Station, Londoner Endstation von London und Birmingham Railway. Ingenieur: Robert Stephenson (imago images / Photo12/Ann Ronan Picture Library)
Der empirische Ansatz verlangt zugleich auch nach Beispielen gelebten Lebens, nicht nur struktureller Allgemeinheiten. Der britisch-deutsche Historiker hat eine Konstellation von drei Protagonisten seiner Darstellung gefunden – eben jener ‚drei Leben‘ von denen im Untertitel die Rede ist –, wie sie kaum treffender für ein europäisches Selbstverständnis sein könnte: die Dreiecksgeschichte des Schriftstellers Iwan Turgenjew mit der Sopranistin Pauline Viardot und ihrem Ehemann Louis Viardot. Pauline Viardot war ein internationaler Self-made-star der Oper, ihr Mann Übersetzer von Cervantes Roman "Don Quichotte" und eine eminente Figur im intellektuellen Leben Frankreichs, und Turgenjew der erste russische Erzähler, der in Europa Anerkennung fand. Die Eisenbahn hat auch ihr Leben beschleunigt: Louis Viardot beschrieb seine Eindrücke der festlichen, ersten Zugfahrt von Paris nach Brüssel, Pauline Viardots Konzertreisen führten sie durch ganz Europa, und Iwan Turgenjew sollte gar die Ehre erhalten, nach seinem Tod 1883 im geschmückten Waggon von Frankreich zurück nach Russland gebracht zu werden. Figes:
"Sein Sarg hatte einen eigenen Waggon, dessen Boden mit Blumen bestreut war. Schwarzes Tuch bedeckte die Innenwände, an denen man zahlreiche Kränze aufgehängt hatte. Eine weiße Schärpe, beschriftet mit den goldenen Lettern Les Frênes – dem Namen der Datscha, die er in Bougival gebaut hatte –, war über den Sarg drapiert. An seinem Kopf lag ein großer grüner Kranz von La famille Viardot."
Die orientalische Grenze
Mit seiner ersten Sammlung von Erzählungen, "Aufzeichnungen eines Jägers", wurde Turgenjew 1852 schlagartig berühmt. Als Sohn einer drakonischen Gutsbesitzerin hatte er es gewagt, die in Russland noch herrschende Leibeigenschaft der zum Gut gehörenden Bauern indirekt anzuklagen, indem er die Leibeigenen erstmals als ernstzunehmend und würdevoll darstellte. Mit den Mitteln des Realismus – wie sie von Charles Dickens über Nikolai Gogol die russische Literatur erreicht hatten –, operierte Turgenjew als Erzähler selbst zurückgenommen und streng sachlich aufzeigend. Zar Alexander II ließ den Erzählband verbieten und Turgenjew unter fadenscheinigem Vorwand einsperren:
"Der Zar befahl, ihn einen Monat lang zu inhaftieren und dann auf seinem Gut für unbestimmte Zeit unter Hausarrest zu stellen. Der Raum, der Turgenjew als Gefängniszelle diente, enthielt auch das Polizeiarchiv für den gesamten Bezirk, sodass er die Geheimakten in aller Ruhe studieren konnte."
Turgenjew kam milde davon. In Russland herrschte eine präventive Zensur, das heißt: Jede regimekritische Äußerung, ob nur mündlich gegeben oder schriftlich nicht einmal veröffentlicht, konnte gar mit dem Tod bestraft werden – Turgenjews Kollege Fjodor Dostojewski etwa entkam nur knapp diesem Schicksal. Das Verhältnis der beiden Schriftsteller spiegelt auch das Verhältnis russischer Autoren zu Europa: Turgenjew folgte Goethe in seinem Verständnis einer grenzüberschreitenden Weltliteratur, während Dostojewski Russland im scharfen Kontrast zu Europa sah. Der Blick von außen auf Europa zeichnet sich damit innerhalb von Figes Darstellung ab. Das Orientalische wurde in Europa traditionell als Grenze wahrgenommen, und diese Grenze verlief in Europa selbst, im Osten etwa durch Russland, im Süden durch Spanien. Man kann diese Grenze ausspielen oder einebnen: ausspielen durch kulturelle Markierungen, einebnen durch empirische, Wirklichkeit werdende Verbindungen.
Die Sängerin Pauline Viardot-Garcìa in einer zeitgenössischen Zeichnung
Die Sängerin Pauline Viardot-Garcìa in einer zeitgenössischen Zeichnung (imago stock&people)
Pauline und Louis Viardot sind Beispiele der zweiten Variante: Ihr Vater, ein selbständiger, südspanischer Sänger und Komponist, erzog seine Töchter zu Gesangsvirtuosinnen, bereiste mit ihnen Amerika und Europa, bis sie selbst eigenständige Karrieren verfolgten, die im Falle Paulines in die höchsten Herrschaftskreise und Opernhäuser führte. Louis Viardot bewunderte ihren Gesang, teilte mit ihr seine Leidenschaft für Spanien – neben seiner Übersetzung des "Don Quichotte" war er ein profunder Kenner der spanischen Malerei – und gewann als über zwanzig Jahre Älterer zwar ihre Hand, doch kaum ihr Herz; beide aber ließen sich auf eine Vernunftehe ein und zogen ihren Nutzen daraus. Von daher, dass mit Turgenjew später eine für alle drei lebenslange, wechselvolle Beziehung entstand – der erotischen Liebe und künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Pauline Viardot und dem russischen Schriftsteller, des intellektuellen Austausches zwischen ihm und Louis Viardot, zugunsten auch Dritter: So empfahl Turgenjew den beiden Librettisten der Oper "Carmen" die literarische Vorlage, während Viardot ergänzend den Komponisten, Georges Bizet, zur spanischen Kultur beriet.
Der Opernbetrieb wurde damals zum ersten Phänomen einer europa- und weltweiten Unterhaltungsindustrie. Befreit von Adel und Subventionen unterlag die Oper kapitalistischen Prinzipien, deren Gewinnsteigerung in den Reproduktionsrechten lag. Das Ensemble war nicht mehr an höfische Orte gebunden, wie im 18. Jahrhundert, und dank der entstehenden Zugstrecken konnten ganze Produktionen von St. Petersburg bis Sizilien und wieder nach London auf Tournee gehen, mit dem Schiff selbst nach Übersee. Das hatte Folgen für die Spielpläne. Figes:
"Ein einheitliches Opernrepertoire trat im globalen Rahmen zutage. Im letzten Viertel des Jahrhunderts hatten Besucher von Paris wahrscheinlich die gleiche Auswahl an Opern wie in London, Mailand, Neapel, Madrid, Berlin, Wien oder St. Petersburg – oder auch wie in Buenos Aires und New York."
Ressentiment und Idealismus
Mit den Aufführungen ging der Vertrieb der Partituren für den Hausgebrauch einher. Das Klavier hatte seinen Einzug in die bürgerlichen Wohnzimmer gehalten, und so wurde es, was später der Plattenspieler wurde: dank reproduzierbarer Lieder das Zentrum privater Unterhaltung und glühender Anhängerschaft. Die Reproduktionsrechte der Noten garantierten die Einnahmen der Komponisten und waren Garant für den Zustrom des Publikums zu den Aufführungen. Der Impresario dieser Zeit war Giacomo Meyerbeer. Wie später Jacques Offenbach war er als jüdischer Komponist von Deutschland nach Frankreich gegangen, um abseits antisemitischer Anfeindungen im weltoffenen Paris Unterhaltung auf hohem Niveau zu präsentieren.
Richard Wagner hatte unter Meyerbeer in Paris zu reüssieren versucht, war aber gescheitert und wandte sich im erstarkenden Nationalismus wieder Deutschland zu. Im Spannungsfeld der Oper – beispielhaft am Ehepaar Viardot verdeutlicht – zeigen sich nun die Bruchlinien europäischer Selbstbestimmung: Die Grenze zum Orientalischen wurde vom Nationalismus nachdrücklich betont, im Kurzschluss auch des Semitischen mit dem Kosmopolitischen, in Deutschland wie in Frankreich. Meyerbeer, der sich zeitlebens als Deutscher verstanden hatte und als Vorbild in der Opernwelt galt, wurde von Wagner seit 1850 als Jude diffamiert, erst unter Pseudonym, dann offen. Gegenüber französischer Dominanz wurde im noch nicht vereinten Deutschland zudem ein idealistisch genährtes Ressentiment in Stellung gebracht, das vorgab, über empirische Bedingungen – Geld und Technik etwa – und kulturelle Ausprägungen – wie der Unterhaltung – erhaben zu sein. Der vermeintlich deutsche Geist sollte tief und faustisch sein, nicht positivistisch oder leichtherzig. Vergleichbar wie der Zug, der Turgenjews Leichnam nach St. Petersburg brachte, seinerzeit als Symbol der Verbundenheit Europas und Russlands verstanden werden konnte, so auch die Überführung des toten Meyerbeer 1864 nach Berlin. Doch die Zeiten wandelten sich bereits:
"Man hatte den Leichnam vom Gare du Nord nach Berlin befördert und ihn auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt. In beiden Städten hatten riesige Menschenansammlungen die Straßen gesäumt, um einem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der, mit den Worten des französischen Staatsmanns Émile Ollivier, so intensiv darauf hingearbeitet hatte, eine harmonische Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland herzustellen. Wie es zu keinem anderen Zeitpunkt hätte deutlicher sein können, stand der Tod des Komponisten für den Untergang der kosmopolitischen Idee einer europäischen Kultur, die sein Leben und Werk verkörpert hatten. Pauline fühlte sich angewidert von Wagners rassistischer Schmähschrift. Sie mochte sich für seine Kunst begeistern, doch sie verabscheute seine politische Einstellung und hatte wenig für ihn als Menschen übrig. Sie schrieb einen Protestbrief an Wagner, was an die Öffentlichkeit gelangte, und der Komponist erwiderte, durch Paulines Sympathie für Mendelssohn und Meyerbeer werde sie selbst zu »einer Jüdin«."
Großer Bahnhof Baden-Baden
Was die einen als neue, nationalistische Grenze behaupteten, hatten andere längst als überwunden gelebt: Leipzig war als Bücherstadt mit Paris enger verbunden gewesen als mit allen anderen deutschen Großstädten; Baden-Baden als Kurort dank der neuen Zuganbindung zu einem Hotspot geworden:
"Laut einem französischen Reiseführer von 1858 galt: Wenn jemand wissen wolle, was die europäische Hauptstadt sei, müsse man antworten: im Winter Paris, im Sommer Baden. Baden-Baden war ein internationaler Ort mit einer kosmopolitischen und liberalen Einstellung – in vieler Hinsicht ein Symbol der europäischen Kultur vor dem Zeitalter des Nationalismus, das durch den Deutsch-Französischen Krieg und Bismarcks Vereinigung Deutschlands eingeläutet wurde."
Buchcover: Orlando Figes: „Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur“
Buchcover: Orlando Figes: „Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur“ (Buchcover: Verlag Hanser Berlin)
In seinem Buch "Die Europäer" zeigt Orlando Figes auf die Art zwei historische Ebenen auf, die einander durchkreuzen: Da ist zum einen der Machtkampf der Länder. Doch da ist zum andern auch eine Entwicklung über jegliche nationale Bestimmung hinaus, nämlich die strukturell übergreifenden Vernetzungen. Vor der Eisenbahn etwa nahmen Engländer nach Italien den kürzesten Weg durch Frankreich, seit ihr wurde der Rückweg über Deutschland ebenso attraktiv und entstand eine kulturelle Annäherung zwischen den Ländern; vor der Bahn wurden die Alpen als Hindernis erfahren, nun avancierte die Schweiz zum beliebten Zentrum; vor den maschinellen Reproduktionsmöglichkeiten galt der lokale Einfluss, mit ihnen jedoch wurde er zweitrangig, konnte man über weite Entfernungen kommunizieren, agieren.
Politiker trugen dieser verbindenden Entwicklung gleichfalls Rechnung: 1865 wurden die Telegraphennetze europaweit rechtlich geregelt, 1875 der Meter als Maß festgelegt und der Weltpostverein gegründet, 1884 die Zeitmessung international bestimmt, zwei Jahre später ein internationales Urheberrecht verabschiedet, kurz darauf der Eisenbahnfrachtverkehr koordiniert, um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist nach Figes diese grenzüberschreitende, strukturelle Geschichte, die Europa im 19. Jahrhundert charakterisierte, auch wenn der Machtkampf der Nationen sie bald überschatten sollte – mit dem Sieg Preußens über Frankreich 1870 bei Sedan:
"Der preußische Sieg war ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Politisch gesehen, verstärkte er die nationalistischen Strömungen, die dem sich entwickelnden kulturellen Kosmopolitismus überall auf dem Kontinent entgegenwirkten und die langfristig im Ersten Weltkrieg zum Zerfall dieser Ursprünge einer europäischen Kultur führten."
Dialektik des Nationalismus
Der aufstrebende Nationalismus bedurfte kultureller Identifizierungen, vor dem Hintergrund der im 19. Jahrhundert manifest gewordenen, strukturellen Verwobenheit. Nicht die Welt galt mehr als Hort der Literatur und Sprachen, nach Goethe, sondern die Nation als Heimat eines Kanons und einer Muttersprache. Das hatte eine eigentümliche Dialektik zur Folge, die bis heute wirksam ist: Die Konzentration auf das vermeintlich Eigene wurde wiederum durch Übersetzungen kompensiert. Der intensivierte Übersetzungsmarkt sorgte dabei jedoch nicht für mehr literarische Vielfalt, sondern internationale Stereotypenbildung, Bestseller. Einerseits dominierte das Vorbild britischer Romane, so Figes:
"Andererseits setzte sich das französische Modell in Süd- und Mitteleuropa durch, von Spanien und Italien nach Ungarn und Böhmen, wo der Buchmarkt mit Übersetzungen aus dem Französischen überschwemmt wurde. Einheimische Schriftsteller imitierten erfolgreiche literarische Importe. Folglich entwickelten sich die Nationalkulturen in jenen Ländern nicht aus eigener Kraft, wie die nationalistischen Mythen vorgeben, sondern durch die Entlehnung ausländischer Elemente. Der spanische Roman war nicht spanisch, der italienische nicht italienisch und der ungarische nicht ungarisch – vielmehr waren alle Nachbildungen des französischen Musters."
Ein Kanon steht nie über seinen empirischen Bedingungen. Mit den reproduzierbaren Partituren entstand der Kanon der Opern, weil mit dem Wiederholbaren sich auch das Populäre einschliff, unabhängig noch von der Frage, ob Meyerbeers Werke heute zu Recht vergessen sind oder die von Wagner so hoch zu schätzen. Im Buchwesen erkannte Anton Reclam 1867 früher als alle anderen die Zeichen der Zeit, indem er technische Produktion und Inhalt mit der Einführung seiner Reihe ‚Universal-Bibliothek‘ wegweisend verband: kleines Format, dünner Umschlag, dünnes Papier; eine einzige Gestaltung für die Reihe und damit alle Ausgaben; damit auch eine gleichbleibende Werbung; Abnahme im Buchhandel als Reihe, über die Einzeltitel hinaus – und das alles im Dienst bereits bekannter Texte, die als Klassiker zudem kein verlegerisches Risiko und kaum Autorenhonorar bedeuteten. Eine in jeder Hinsicht gewinnbringende Innovation.
"Bildnis Iwan Turgenjew", ein Ausschnitt aus dem Ölgemälde des russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew von 1879, gemalt von dem Künstler Ilja Repin (1844-1930)
"Bildnis Iwan Turgenjew", ein Ausschnitt aus dem Ölgemälde des russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew von 1879, gemalt von dem Künstler Ilja Repin (1844-1930) (picture alliance / akg-images)
Iwan Turgenjew gemahnte in diesem Zusammenhang an die Notwendigkeit einer Mischkalkulation: von Klassikern und Neuveröffentlichungen, von Übersetzungen und muttersprachlichen Texten, von der Kenntnis einflussreicher Traditionen und dem Schutz der weniger prominenten. Der russische Erzähler beherrschte selbst neun Sprachen, lebte in Berlin, St. Petersburg, Paris, Baden-Baden und betrachtete die Suche nach nationalen Exklusivitäten als künstlerische und menschliche Sackgasse. Er vertrat das Bild eines Russlands, das ebenso selbstverständlich europäisch war wie Spanien, Deutschland oder Frankreich. Darin war er sich mit Pauline und Louis Viardot einig.
Sie waren Zeitzeugen jenes kosmopolitischen Europas, das Stefan Zweig in seinen Erinnerungen "Die Welt von Gestern" 1942 beschwor, inmitten der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Im Unterschied zur persönlichen Einzelbetrachtung Zweigs konzentriert sich Orlando Figes als Historiker auf die empirischen Strukturen dieses Europas: nachweisbare Durchdringungen, denen kein nationalistischer Alleingang entkommt. Daraus ergeben sich die Bruchlinien und Dynamiken, die das europäische Selbstverständnis nach wie vor prägen – im Verhältnis zum Orientalischen etwa, zum Nationalen wie Kosmopolitischen, zu Muttersprachen und Weltliteratur.
Diese Bruchlinien und Dynamiken anzuerkennen und zu reflektieren, um der eigenen Freiheit willen, dazu lädt Figes mit seiner fulminanten Studie ein. "Die Europäer – Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur" eröffnet erneut und anders jene ‚Welt von Gestern‘ – als eine noch lange nicht auserzählte Geschichte.
Orlando Figes: "Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur"
aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
mit 36 farbigen Abbildungen
Verlag Hanser Berlin. 640 Seiten, 34 Euro.