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Ort der Sehnsucht

Madické sieht für sich nur die eine Chance. Und die will er nutzen. Deshalb kickt der Junge im senegalesischen Fischerdorf Niodior den Fußball, als ginge es um sein Leben. Er hat nur die Koranschule besucht, ist Analphabet. Wie ein Besessener gibt er deshalb alles, damit eines Tages vielleicht ein Talentsucher auf ihn aufmerksam wird und ihn für einen gut betuchten französischen Fußballclub anwirbt. Damit er wegkommt von der Insel. Weg von der Armut. Und welches Land, wenn nicht das des Kolonialherren, käme dem Paradies am nächsten? Betört lauscht Madické den falschen Erzählungen des aus Paris heim gekehrten Nachbarn, der mit erfundenen Heldentaten protzt und schamlos die Insignien seines Erfolgs zur Schau stellt: ein Haus, Fernseher, Kühlschrank und vier Ehefrauen. Die erlittene Schmach ausklammernd, zementiert der Nachbar das Klischée vom Schlaraffenland in den Träumen der Jungen. Salie, die Erzählerin, weiß es besser.

Von Mechthild Müser |
    In Wahrheit war er in Paris der Neger gewesen. Doch wie hätte er, der bei seiner Rückkehr als König gefeiert wurde, zugeben können, dass er in Metroschächten gehaust, gebettelt und gestohlen hatte, um nicht zu verhungern und den Winter nur dank der Heilsarmee überlebte?

    Seit Salie einem französischen Entwicklungshelfer als Ehefrau nach Frankreich gefolgt war, lebt sie dort. Die Ehe ist längst geschieden. Bei ihren seltenen Besuchen in der senegalesischen Heimat versucht Salie, ihrem Bruder Madické und seinen Freunden die Sehnsucht nach Europa auszureden. Doch ihre Schilderungen von dem miserablen Leben, das afrikanische Emigranten erwartet, stoßen bei Madické auf taube Ohren.

    Er wollte ans andere Ende des Ozeans, wo du für das Einsammeln von Hundekötteln ein Gehalt von der Stadt beziehst, wo du fürs Nichtarbeiten Geld bekommst, dorthin, wo das Gras so viel grüner ist. Wo schon die Babys im Mutterleib ein eigenes Bankkonto haben und, kaum dass sie auf der Welt sind, einen Karriereplan.

    Salie ist das Alter Ego der 36-jährigen senegalesischen Autorin Fatou Diome, die es mit Ihrem Debütroman "Der Bauch des Ozeans" auf Anhieb in die französischen Bestsellerlisten schaffte. Schonungslos betrachtet die Literaturwissenschaftlerin, die als einzige ihrer Familie lesen und schreiben kann, beide Welten. Sie scheidet Träume von Realitäten, und ist - gefangen in der Zwiegespaltenheit der Emigrantin -
    nirgendwo und überall zu hause.

    Ich weiß, dass ich im Westen andere Schritte mache als jene, mit denen ich die Gassen, Strände, Pfade und Felder meiner Heimat erkundet habe. Die Bewegung ist überall die gleiche, nur der Horizont wechselt. In Afrika folgte ich der Spur des Schicksals, die aus Zufall und aus unendlicher Hoffnung bestand. In Europa marschiere ich durch den langen Tunnel der Leistung auf wohldefinierte Ziele zu.

    Salie und Madické verabreden sich zu den Fußballspielen, die im Fernsehen übertragen werden. Tausende Kilometer liegen zwischen ihnen, während sie auf das gleiche flimmernde Bild starren. Vom Drehkreuz der Mattscheibe richtet die Autorin den Fokus mal nach Frankreich, mal nach Senegal, und fängt die Aufregung ein, das Mitfiebern und das hilflose Gezappel derjenigen, die das Leben zum Zuschauen verdammt.

    Fatou Diome beobachtet aus dem fernen Straßburg das Dilemma der jungen Generation ihres Volkes. Die keinen Zugang hat zu Bildung, zu technischen Errungenschaften und materiellen Reichtümern. Dennoch stellt sie sich den Ausbruchswünschen entgegen, wohl wissend, dass nur wenige den Sprung nach Europa schaffen, ohne ihre Würde einzubüßen. Eindrücklich schildert sie das Schicksal des jungen Moussa, der sich im bitteren Bauch des Ozeans ertränkte, nachdem seine Fußballträume in Frankreich wie Seifenblasen zerplatzt waren. Denn das ist der schwerste Schritt für einen Afrikaner: aus Europa mit leeren Händen zu seiner Familie zurückzukehren. Zu den Menschen, die ihre ganze Hoffnung auf seine Schultern gelegt haben.

    Doch selbst die Tragödien erzählt Diome mit Witz und Charme, temporeich wie ein Fußballspiel, sensibel und voller poetischer Bilder. Auch ihre eigene. Denn die gebildete Literatin ist - genau so wie der studierte Dorflehrer - zu Hause nicht besonders gern gesehen.

    Dann beschimpfen sie dich als Individualistin, als Kopie der Kolonialherren, und schließen dich aus. Frauen sind da am schlimmsten. Sie träufeln dir seelenruhig Säure ins Blut mit ihren sarkastischen Bemerkungen, schießen dich augenrollend zum Mond und geben dir mit ihren Wimpernschlägen öffentlich die Peitsche.

    Salie alias Diome ist lieber einsam im Exil als ausgestoßen in der Heimat. Die Enge der islamischen Tradition hatte ihr dort von früher - unehelicher - Kindheit an das Leben versauert. Hätte sich nicht ihre Großmutter erbarmt und sie aufgezogen, wäre sie wohl nicht mehr am Leben. Sie gehört nicht dazu, nirgends.

    Das Exil befreit mich von meiner Geschichte. Das Anderswo zieht mich an, weil es nicht die Versehen des Schicksals beurteilt, sondern das Leben, für das ich mich entschieden habe. Es ist mein Garant für Freiheit und Selbstbestimmung. Fortgehen heißt, den Mut zu haben, sich selbst zur Welt zu bringen, was die legitimste Geburt überhaupt ist.

    Dem Papier vertraut Fatou Diome an, was sonst niemand hören will. Es ist bekannt, dass junge Autoren von anderen Kontinenten mit ihren Lebensgeschichten häufig viel versprechende Erfolge landen, danach aber von der literarischen Bildfläche verschwinden. Als hätten sie mit diesem einen Buch alles wichtige erzählt. Auch Diome schreibt jetzt zunächst ihre Doktorarbeit. Bleibt nur zu hoffen, dass sie sich eines Tages wieder hinsetzt und Geschichten erzählt. Schon deshalb, damit Europa seine Augen endlich auch dem afrikanischen Kontinent zuwendet.