Herr K. ist immer korrekt gekleidet. Den schwarzen Hut setzt er auch beim Mittagessen nicht ab und schon gar nicht am Klavier. Herr K. ist sozusagen Gründungsmitglied in einer betreuten Wohngemeinschaft in Köln. Er lebt hier seit drei Jahren. Anfangs haben er und Frau H. noch gemeinsam musiziert, sie hat gesungen und Mundharmonika gespielt, er war der Mann am Klavier. Das hat Herr K. bei seinem Einzug mitgebracht.
Seither steht das abgenutzte braune Instrument im Gemeinschaftswohnzimmer neben den dicken Polstermöbeln, wo ihm oft Mitbewohner lauschen. Noch zu Hause hat er mit schwarzem Filzstift auf die weißen Tasten Ziffern geschrieben. Vielleicht ein verzweifelter Versuch, seine Musik festzuhalten, wo ihm schon so vieles in vergessene Räume entwischt ist. Der 86-Jährige hat eine Demenz. Bevor er in die Wohngemeinschaft einzog, türmte sich der Alltag zuletzt unüberwindbar vor ihm auf.
"Das fängt beim Aufstehen an. Bei vielen Demenzkranken spüren wir eine ganz große Müdigkeit, weil sie einfach spüren, dass sie alleine den Tag kaum schaffen können. Ich erinnere eine Situation, meine Mutter stand da und hatte an einem Fuß eine Sandale und auf dem anderen Fuß einen Winterschuh. Für sie war das ein Schuh, der da stand."
Erst bleibt die Herdplatte an, oder das Wasser im Bad wird vergessen. Später findet sich das Portemonnaie im Kühlschrank wieder, die zweite Sandale zwischen den Blusen in der Kommode. Angehörige können dicke Bücher mit solchen oft nur für Außenstehende amüsanten Geschichten füllen. Über eine Million Deutsche sind von Demenz betroffen. Alzheimer ist die bekannteste Form dieser Störung des Gehirns. Sie führt zu einer erheblichen Persönlichkeitsveränderung und zu immer größeren Löchern in der Erinnerung. Gegen Demenz ist noch kein Kraut gewachsen. Wir können nur lernen mit ihr zu leben. Das allerdings müssen wir auch lernen.
Da wir immer älter werden, steigt die Zahl der Dementen. Für das Jahr 2040 rechnen Fachleute mit weit über zwei Millionen Erkrankten. Bei der Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurde diese Gruppe alter Menschen schlicht vergessen.
"Wir müssen uns fachlich dem Thema Demenz widmen. Das findet leider nur am Rande in einer kleinen Gruppe von Fachleuten derzeit den richtigen Widerhall. Die Situation älterer Menschen, die nicht mehr alltagstauglich sind, das müssen wir an Pflegekräfte herantragen, das muss die Gesellschaft insgesamt ein Stück weit verstehen. Da werden auch finanzielle Mittel erforderlich sein zur direkten pflegerischen Betreuung und zur fachlichen Weiterentwicklung. Da gibt es einiges zu tun, und da haben wir eine Antwort zu geben."
Das forderte Willy Zylajew, der pflegepolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, im Vorfeld der Diskussion über eine Reform der Pflegeversicherung. Jetzt hat der Koalitionsausschuss einen ersten Schritt gemacht und sich über eine kleine Finanzreform verständigt. Es wird etwas mehr Geld geben für ambulante Hilfen, die stationäre Altenhilfe geht leer aus. Dafür will die Koalition die Situation von Menschen mit Demenz deutlich verbessern. Über den weiterreichenden Schritt, eine finanzielle Reserve für den demografischen Wandel aufzubauen, konnten sich SPD und CDU nicht einigen. Was bleibt ist ein Reförmchen, beklagen Kritiker.
Die Sätze für die ambulanten Sachleistungen, die seit der Einführung der Pflegeversicherung nicht angehoben wurden, sollen nun schrittweise bis 2012 wachsen. Je nach Pflegestufe sind das zwischen 66 und 179 Euro mehr.
Damit ist allerdings nicht einmal die Inflationsrate der letzten zwölf Jahre ausgeglichen. Ab 2012 sollen die Pflegeleistungen alle drei Jahre den Preissteigerungen angepasst werden. Zudem wird die Pflege in der Familie besser honoriert.
Das Pflegegeld, das beispielsweise der Sohn erhält, wenn er daheim seine Mutter pflegt, soll ebenfalls bis 2012 angehoben werden, je nach Pflegestufe bis auf 700 Euro im Monat.
"Ich bin nicht gegen die häusliche Pflege, ich bin nur gegen eine Glorifizierung der häuslichen Pflege. Ich glaube, dass die heutige Situation, dass das so hochgejubelt wird ambulant vor stationär, dass wir mit dem demografischen Wandel einfach sehen, dass wir eine stationäre Versorgung gar nicht gewährleisten können. Wir müssen die häusliche Pflege stärken. Aber das heißt auch, dass wir das wirklich kritisch begleiten."
Aus der Not werde eine Tugend gemacht, meint Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimergesellschaft. Sie vertritt die Interessen von Angehörigen und kennt die Situation aus eigener Erfahrung mit Mutter und Schwiegermutter. Etwa zwei Drittel aller Menschen mit Demenz werden zu Hause versorgt. Das kann das beste sein, aber nicht in jedem Fall, warnt die Vertreterin der Angehörigen. Sie fordert eine Vielfalt der Versorgung.
"Denn ambulant ist nicht immer die beste Versorgung. Nicht jede Familie ist heil und verträgt die Belastung einer Demenzerkrankung in der Familie. Es gibt das Aufbrechen von alten Familienkonflikten, das muss man immer im Kopf behalten. Es geht um Gewalt, auch zu Hause, es geht um auch den finanziellen Missbrauch, zum Teil eben leider auch von eigenen Familienmitgliedern. Zum anderen müssen wir überlegen, genauso, wie wir Qualität in stationären Einrichtungen fordern, dass wir uns natürlich auch um die Qualität der häuslichen Pflege Gedanken machen müssen. Wir müssen auch Zuhause solche Dinge wie Wegsperren, Fixierung und auch Pflegefehler, die zu Hause passieren, da müssen wir schon auch ein Auge drauf haben."
Das Zusammenleben mit Menschen mit Demenz verlangt viel. Im Verlauf der Krankheit verlieren sie einen roten Faden nach dem anderen. Sie gehen sich buchstäblich selbst verloren, und das macht Angst. Die Tochter, der Sohn, die Enkelin sind es dann, die den Alltag immer wieder neu anpassen müssen. Keine leichte Aufgabe. Menschen mit Demenz brauchen besonders kompetente Helfer, meint Heike Lützau-Hohlbein.
"Nur ein informierter Angehöriger ist überhaupt in der Lage, mit dieser Krankheit umzugehen. Da geht es um rechtliche, finanzielle, auch ethische Fragen, da geht es um Beschäftigung über den Tag, da geht es um Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen. Und insgesamt geht es auch um eine Vermittlung der Einstellung zur Krankheit. Was wir dringend brauchen sind flächendeckend Entlastungsangebote, also einen Ausbau der niederschwelligen Angebote."
Wenn umgesetzt wird, was die Regierungskoalition jetzt beschlossen hat, dann fließen 60 Millionen Euro in den Ausbau von Pflegestützpunkten in der Nachbarschaft. Geplant ist außerdem die Einführung von Fallmanagern durch die Pflegekassen, die Betroffene und Angehörige beraten und begleiten sollen. Und Arbeitnehmer erhalten einen Anspruch auf eine Pflegezeit von sechs Monaten unbezahlten Urlaub.
Die Richtung der Reform stimmt, urteilen die Fachleute. Doch dass die stationäre Versorgung leer ausgeht, halten sie für einen Fehler. Sabine Bartholomeyczik vom Institut für Pflegewissenschaften der Universität Witten-Herdecke hat gerade einen Forschungsbericht für das Bundesgesundheitsministerium erstellt. Darin geht es um die Erarbeitung von Richtlinien für den Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe. Etwa 60 Prozent der Bewohner in Heimen haben Demenz.
"Und von diesen haben wahrscheinlich auch die meisten diese herausfordernden Verhaltensweisen, die einfach die allerschwierigsten Situationen für die Pflegenden darstellen, weil es eben nicht so klar ist, was es bedeutet, weil Pflegende angegriffen werden, es ist ja auch bedrohlich, nicht nur psychisch, sondern teilweise auch körperlich, was da passiert. Ich meine natürlich, dass man da nichts einsparen kann. Im Gegenteil, ich bin der Auffassung, gerade Menschen mit Demenz benötigen hervorragend ausgebildete Menschen, die mit ihnen umgehen."
Doch davon redet zur Zeit niemand mehr. Qualität, Pflegebedürftigkeitsbegriff, Prävention und alternative Konzepte - alles zentrale Begriffe im Vorfeld der Reform - sind weitgehend verschwunde zugunsten einer Finanzreform, die ihren Namen auch nicht wirklich verdient. Drängende Zukunftsfragen der Pflegeversicherung wurden ausgespart.
Das bescheidene Ergebnis: Bis 2015 hofft die Koalition, die Versicherung zu stabilisieren. Der Beitragssatz wird um 0,25 Prozent auf 1,95 Prozentpunkte angehoben. Wie bisher zahlen ihn Arbeitgeber und Beschäftigte je zur Hälfte. Um die Lohnnebenkosten dennoch niedrig zu halten, sollen die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung gleichzeitig um 0,3 Prozent gesenkt werden. Zusammen mit einer verbesserten Konjunktur erwartet die Koalition 2,5 Milliarden jährlich zusätzlich in den Pflegekassen.
Das Geld fließt in den Ausbau der ambulanten Versorgung und fehlt stationär. Das Tischtuch ist einfach zu kurz. Denn bei den Heimen bleiben die Stufen I und II unverändert, nur die Stufe III steigt von derzeit 1432 auf 1550 Euro. Festgehalten wird auch an einem Grundübel der Pflegeversicherung: Die Einteilung von Menschen in drei Pflegestufen. Die Pflegebedürftigkeit ist dabei ausschließlich körperlich definiert, erklärt Christine Riesner vom Dialogzentrum Demenz am Institut für Pflegewissenschaften an der Universität Witten-Herdecke.
"Das ist für Menschen mit Demenz insbesondere ein sehr großes Problem, weil die körperliche Funktionsfähigkeit oft gar nicht eingeschränkt ist, sondern dass es Probleme gibt, weil der Inhalt verloren gegangen ist. Die Person weiß nicht mehr, wie sie sich angemessen kleiden soll. Aber sie könnte es körperlich sehr wohl umsetzen. Wenn der Medizinische Dienst der Kassen den traditionellen Pflegebegriff anwendet, dann bekommt die Person mit Demenz keine Pflegestufe, weil sie körperlich in der Lage wären sich anzuziehen, weil die Problematik dann von er Pflegeversicherung nicht erfasst werden kann."
Viele Menschen mit Demenz haben deshalb keine Pflegestufe oder Pflegestufe I. Ambulant sollen sie künftig auch Pflegeleistungen erhalten. Doch viele Altersverwirrte leben mit der niedrigsten Stufe in Heimen. Das ist ein finanzielles Problem für die Einrichtungen. Denn altersverwirrte Menschen sind oft unruhig, haben mit Ängsten zu kämpfen und brauchen deshalb besonders viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Das kostet Zeit, die von der Pflegekasse nicht bezahlt wird. Deshalb hatte Hilde Mattheis, in der SPD-Bundestagsfraktion zuständig für die Pflege, noch kürzlich gefordert.
"Die Grundlage jeder Reform wäre eine andere Definition des Pflegebegriffs, der festhält, was brauchen die Menschen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können?"
Das ist nun erst einmal verschoben worden. Doch gut Ding braucht Weile, meint die SPD-Politikern.
"Es geht jetzt schon darum zu überlegen, wie kann man ambulante vor stationären Strukturen unterstützen? Es geht jetzt schon darum zu sagen, wie kann man eine Dynamisierung hinbekommen in welchen Schüben? Es geht jetzt schon darum zu sagen, wie bekommen Menschen, die ausschließlich an Demenz leiden, auch Leistungen aus der Pflegeversicherung? Aber es geht ein Stück weiter, wenn wir sagen, wir wollen eine Reform des Pflegebegriffs."
Weihnachten hat Frau H. noch das Klavierspiel von Herrn K. mit der Mundharmonika begleitet. Jetzt will sie immer öfter am liebsten in Ruhe gelassen werden, einfach am Tisch sitzen und die Augen zumachen, so wie heute. Gestern war sie munter und kam schon morgens früh von allein zum Frühstück in die Küche ihrer betreuten Wohngemeinschaft. 2004 sind die ersten Bewohner in die ungewöhnliche Hausgemeinschaft in Köln eingezogen. Kirsten Weller leitet die insgesamt drei Wohngemeinschaften.
"Es sind jeweils acht Einzelzimmer in den Wohngruppen so im Rundlauf angeordnet, dass die Bewohner immer hier das Zentrum, wo wir gerade drinstehen, die Wohnküche finden. Kleiner Wohnzimmerbereich, eingerichtet im Stil der älteren Leute, nichts Modernes, sondern so, wie sie leben würden, wenn sie zu Hause wären. Und sie sind ja jetzt hier zu Hause. Unser Konzept ist, den Alltag gestalten, was man zu Hause machen würde, das ganze mal acht. Also Frühstück zusammen, Frühstückstisch decken, soweit das möglich ist, wieder abräumen."
Den Alltag gemeinsam gestalten, das ist das ebenso einfache, wie anspruchsvolle Konzept der drei Wohngemeinschaften unter der Trägerschaft der Alexianer. Die Brüdergemeinschaft ist seit vielen Jahren Vorreiter, wenn es darum geht, neue Konzepte für die Begleitung dementer Menschen zu entwickeln. Sie haben eine der ersten ambulanten Wohngemeinschaften in Münster gegründet. Sie ist ein Vorzeigeprojekt für das Kuratorium Deutscher Altershilfe. Mit großer Unterstützung der Stadt Köln wagten die Alexianer vor drei Jahren das Experiment einer ersten stationären Wohngemeinschaft. Es ist ein Heim und doch keines, erklärt Elke Feuster, Leiterin der Pflegeeinrichtungen der Alexianer.
"Es gibt zurzeit in NRW eine s genannte Ausstiegs- oder Experimentierklausel, wo man mit den einzelnen Heimaufsichten, wenn man einen guten Kontakt hat, Möglichkeiten schaffen kann, dass innovative Projekte noch unter ein Heim fallen, auch mit den ganzen Richtlinien, aber mit ein paar Besonderheiten."
Unter dem Stichwort Entbürokratisierung hat der Bund die Heimgesetzgebung zur Reform an die einzelnen Bundesländer abgegeben. Hier sollen nun Rahmenbedingungen gefunden werden, die eine Vielfalt von Wohnformen möglich machen unter dem Dach der Heimaufsicht. Bisher sind Altenheime streng reglementiert: Brandschutz, Hygieneverordnung, Lebensmittelverordnung, Berufsgenossenschaft. Alle reden mit, wenn es darum geht, das Leben in einem Heim zu gestalten.
"Wer fasst denn das rohe Ei an, oder wer fasst denn den Braten an, wenn hier gekocht wird? Und das war schwierig, denen beizubringen, dass hier Menschen wohnen und dass wir das zwar schon als Einrichtung sehen, aber die Tagestruktur als normalen Alltag organisieren wollen."
Es ist ein Zuhause, das versucht, sich an den Bedürfnissen der Bewohner zu orientieren und nicht an den Vorschriften. So wird auch gemeinsam gebacken und gekocht, obwohl die Hygieneverordnung überall Ansteckungsgefahren wittert. Das macht Bewohner und Mitarbeiter zufriedener, meint Altenpflegerin Kerstin Gregoire.
"Das ist Altenpflege, wie ich sie gelernt habe und wie ich sie eigentlich immer ausüben wollte. Nach 20 Jahren habe ich sie hier gefunden."
Der Koalitionsausschuss hat mit seiner jetzigen Reform der Pflegeversicherung solchen stationären Modellen eine klare Absage erteilt. Traditionelle Altenheime und alternative stationäre Angebote bekommen künftig eher weniger als mehr Geld - denn hier wird es nicht einmal einen Inflationsausgleich geben. Die Pflegewissenschaftlerin Sabine Bartholomeyczik sieht darin ein Problem.
"Stationäre Altenhilfe halte ich nach wie vor für wichtig und nicht ersetzbar. Und ich halte es auch für ein Problem, wenn sie reduziert wird, wobei ich nichts dagegen zu sagen habe, dass Pflegebedürftige natürlich so lange wie möglich zu Hause bleiben sollen. Das ist ganz klar."
Wenn ambulant vor stationär tatsächlich breit greifen soll, dann braucht es nach Ansicht der Pflegefachleute eine entschiedenere Reform, sagt Christine Riesner von der Universität Witten-Herdecke.
"Wir erhoffen uns aus der Sicht der Pflegewissenschaft, dass der breite Ansatz von Pflege, Betreuung, Begleitung auch im Gesundheitssystem einen höheren Stellenwert bekommt. In der praktischen Alltagsarbeit sind diese pflegerischen Ansätze im Grund die zukunftsweisenden. Es ist so, dass die medizinische Betreuung wichtig ist, aber die Alltagsbegleitung ist ein größerer Aspekt dessen, was nötig ist in der Demenz."
Integrierte, vernetzte Systeme innerhalb des Gesundheitswesens könnten auch zu Einsparungen führen und zu einer besseren Versorgung der Betroffenen, meint die Pflegewissenschaftlerin. Das gelte auch für den Ausbau von Prävention.
"Da gibt es zum Beispiel Konzepte eines Quartiersmanagers, es gibt Konzepte präventiver Hausbesuche, wo in Stadtteilen Pflegemitarbeiter die Menschen zu Hause besuchen, unabhängig davon, ob sie ein Problem haben oder nicht. Also erstmal Kontakt knüpfen, um zu schauen, um die häusliche Situation stabil zu halten. Es gibt viele gelungene Unterstützungsmöglichkeiten und emotionale, psychosoziale Begleitmaßnahmen, die die Zufriedenheit der Person sehr stabil hält."
Und wer zufrieden ist, der bleibt auch länger gesund - so wie Herr K, der Mann mit Hut am Klavier.
Seither steht das abgenutzte braune Instrument im Gemeinschaftswohnzimmer neben den dicken Polstermöbeln, wo ihm oft Mitbewohner lauschen. Noch zu Hause hat er mit schwarzem Filzstift auf die weißen Tasten Ziffern geschrieben. Vielleicht ein verzweifelter Versuch, seine Musik festzuhalten, wo ihm schon so vieles in vergessene Räume entwischt ist. Der 86-Jährige hat eine Demenz. Bevor er in die Wohngemeinschaft einzog, türmte sich der Alltag zuletzt unüberwindbar vor ihm auf.
"Das fängt beim Aufstehen an. Bei vielen Demenzkranken spüren wir eine ganz große Müdigkeit, weil sie einfach spüren, dass sie alleine den Tag kaum schaffen können. Ich erinnere eine Situation, meine Mutter stand da und hatte an einem Fuß eine Sandale und auf dem anderen Fuß einen Winterschuh. Für sie war das ein Schuh, der da stand."
Erst bleibt die Herdplatte an, oder das Wasser im Bad wird vergessen. Später findet sich das Portemonnaie im Kühlschrank wieder, die zweite Sandale zwischen den Blusen in der Kommode. Angehörige können dicke Bücher mit solchen oft nur für Außenstehende amüsanten Geschichten füllen. Über eine Million Deutsche sind von Demenz betroffen. Alzheimer ist die bekannteste Form dieser Störung des Gehirns. Sie führt zu einer erheblichen Persönlichkeitsveränderung und zu immer größeren Löchern in der Erinnerung. Gegen Demenz ist noch kein Kraut gewachsen. Wir können nur lernen mit ihr zu leben. Das allerdings müssen wir auch lernen.
Da wir immer älter werden, steigt die Zahl der Dementen. Für das Jahr 2040 rechnen Fachleute mit weit über zwei Millionen Erkrankten. Bei der Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurde diese Gruppe alter Menschen schlicht vergessen.
"Wir müssen uns fachlich dem Thema Demenz widmen. Das findet leider nur am Rande in einer kleinen Gruppe von Fachleuten derzeit den richtigen Widerhall. Die Situation älterer Menschen, die nicht mehr alltagstauglich sind, das müssen wir an Pflegekräfte herantragen, das muss die Gesellschaft insgesamt ein Stück weit verstehen. Da werden auch finanzielle Mittel erforderlich sein zur direkten pflegerischen Betreuung und zur fachlichen Weiterentwicklung. Da gibt es einiges zu tun, und da haben wir eine Antwort zu geben."
Das forderte Willy Zylajew, der pflegepolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, im Vorfeld der Diskussion über eine Reform der Pflegeversicherung. Jetzt hat der Koalitionsausschuss einen ersten Schritt gemacht und sich über eine kleine Finanzreform verständigt. Es wird etwas mehr Geld geben für ambulante Hilfen, die stationäre Altenhilfe geht leer aus. Dafür will die Koalition die Situation von Menschen mit Demenz deutlich verbessern. Über den weiterreichenden Schritt, eine finanzielle Reserve für den demografischen Wandel aufzubauen, konnten sich SPD und CDU nicht einigen. Was bleibt ist ein Reförmchen, beklagen Kritiker.
Die Sätze für die ambulanten Sachleistungen, die seit der Einführung der Pflegeversicherung nicht angehoben wurden, sollen nun schrittweise bis 2012 wachsen. Je nach Pflegestufe sind das zwischen 66 und 179 Euro mehr.
Damit ist allerdings nicht einmal die Inflationsrate der letzten zwölf Jahre ausgeglichen. Ab 2012 sollen die Pflegeleistungen alle drei Jahre den Preissteigerungen angepasst werden. Zudem wird die Pflege in der Familie besser honoriert.
Das Pflegegeld, das beispielsweise der Sohn erhält, wenn er daheim seine Mutter pflegt, soll ebenfalls bis 2012 angehoben werden, je nach Pflegestufe bis auf 700 Euro im Monat.
"Ich bin nicht gegen die häusliche Pflege, ich bin nur gegen eine Glorifizierung der häuslichen Pflege. Ich glaube, dass die heutige Situation, dass das so hochgejubelt wird ambulant vor stationär, dass wir mit dem demografischen Wandel einfach sehen, dass wir eine stationäre Versorgung gar nicht gewährleisten können. Wir müssen die häusliche Pflege stärken. Aber das heißt auch, dass wir das wirklich kritisch begleiten."
Aus der Not werde eine Tugend gemacht, meint Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimergesellschaft. Sie vertritt die Interessen von Angehörigen und kennt die Situation aus eigener Erfahrung mit Mutter und Schwiegermutter. Etwa zwei Drittel aller Menschen mit Demenz werden zu Hause versorgt. Das kann das beste sein, aber nicht in jedem Fall, warnt die Vertreterin der Angehörigen. Sie fordert eine Vielfalt der Versorgung.
"Denn ambulant ist nicht immer die beste Versorgung. Nicht jede Familie ist heil und verträgt die Belastung einer Demenzerkrankung in der Familie. Es gibt das Aufbrechen von alten Familienkonflikten, das muss man immer im Kopf behalten. Es geht um Gewalt, auch zu Hause, es geht um auch den finanziellen Missbrauch, zum Teil eben leider auch von eigenen Familienmitgliedern. Zum anderen müssen wir überlegen, genauso, wie wir Qualität in stationären Einrichtungen fordern, dass wir uns natürlich auch um die Qualität der häuslichen Pflege Gedanken machen müssen. Wir müssen auch Zuhause solche Dinge wie Wegsperren, Fixierung und auch Pflegefehler, die zu Hause passieren, da müssen wir schon auch ein Auge drauf haben."
Das Zusammenleben mit Menschen mit Demenz verlangt viel. Im Verlauf der Krankheit verlieren sie einen roten Faden nach dem anderen. Sie gehen sich buchstäblich selbst verloren, und das macht Angst. Die Tochter, der Sohn, die Enkelin sind es dann, die den Alltag immer wieder neu anpassen müssen. Keine leichte Aufgabe. Menschen mit Demenz brauchen besonders kompetente Helfer, meint Heike Lützau-Hohlbein.
"Nur ein informierter Angehöriger ist überhaupt in der Lage, mit dieser Krankheit umzugehen. Da geht es um rechtliche, finanzielle, auch ethische Fragen, da geht es um Beschäftigung über den Tag, da geht es um Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen. Und insgesamt geht es auch um eine Vermittlung der Einstellung zur Krankheit. Was wir dringend brauchen sind flächendeckend Entlastungsangebote, also einen Ausbau der niederschwelligen Angebote."
Wenn umgesetzt wird, was die Regierungskoalition jetzt beschlossen hat, dann fließen 60 Millionen Euro in den Ausbau von Pflegestützpunkten in der Nachbarschaft. Geplant ist außerdem die Einführung von Fallmanagern durch die Pflegekassen, die Betroffene und Angehörige beraten und begleiten sollen. Und Arbeitnehmer erhalten einen Anspruch auf eine Pflegezeit von sechs Monaten unbezahlten Urlaub.
Die Richtung der Reform stimmt, urteilen die Fachleute. Doch dass die stationäre Versorgung leer ausgeht, halten sie für einen Fehler. Sabine Bartholomeyczik vom Institut für Pflegewissenschaften der Universität Witten-Herdecke hat gerade einen Forschungsbericht für das Bundesgesundheitsministerium erstellt. Darin geht es um die Erarbeitung von Richtlinien für den Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe. Etwa 60 Prozent der Bewohner in Heimen haben Demenz.
"Und von diesen haben wahrscheinlich auch die meisten diese herausfordernden Verhaltensweisen, die einfach die allerschwierigsten Situationen für die Pflegenden darstellen, weil es eben nicht so klar ist, was es bedeutet, weil Pflegende angegriffen werden, es ist ja auch bedrohlich, nicht nur psychisch, sondern teilweise auch körperlich, was da passiert. Ich meine natürlich, dass man da nichts einsparen kann. Im Gegenteil, ich bin der Auffassung, gerade Menschen mit Demenz benötigen hervorragend ausgebildete Menschen, die mit ihnen umgehen."
Doch davon redet zur Zeit niemand mehr. Qualität, Pflegebedürftigkeitsbegriff, Prävention und alternative Konzepte - alles zentrale Begriffe im Vorfeld der Reform - sind weitgehend verschwunde zugunsten einer Finanzreform, die ihren Namen auch nicht wirklich verdient. Drängende Zukunftsfragen der Pflegeversicherung wurden ausgespart.
Das bescheidene Ergebnis: Bis 2015 hofft die Koalition, die Versicherung zu stabilisieren. Der Beitragssatz wird um 0,25 Prozent auf 1,95 Prozentpunkte angehoben. Wie bisher zahlen ihn Arbeitgeber und Beschäftigte je zur Hälfte. Um die Lohnnebenkosten dennoch niedrig zu halten, sollen die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung gleichzeitig um 0,3 Prozent gesenkt werden. Zusammen mit einer verbesserten Konjunktur erwartet die Koalition 2,5 Milliarden jährlich zusätzlich in den Pflegekassen.
Das Geld fließt in den Ausbau der ambulanten Versorgung und fehlt stationär. Das Tischtuch ist einfach zu kurz. Denn bei den Heimen bleiben die Stufen I und II unverändert, nur die Stufe III steigt von derzeit 1432 auf 1550 Euro. Festgehalten wird auch an einem Grundübel der Pflegeversicherung: Die Einteilung von Menschen in drei Pflegestufen. Die Pflegebedürftigkeit ist dabei ausschließlich körperlich definiert, erklärt Christine Riesner vom Dialogzentrum Demenz am Institut für Pflegewissenschaften an der Universität Witten-Herdecke.
"Das ist für Menschen mit Demenz insbesondere ein sehr großes Problem, weil die körperliche Funktionsfähigkeit oft gar nicht eingeschränkt ist, sondern dass es Probleme gibt, weil der Inhalt verloren gegangen ist. Die Person weiß nicht mehr, wie sie sich angemessen kleiden soll. Aber sie könnte es körperlich sehr wohl umsetzen. Wenn der Medizinische Dienst der Kassen den traditionellen Pflegebegriff anwendet, dann bekommt die Person mit Demenz keine Pflegestufe, weil sie körperlich in der Lage wären sich anzuziehen, weil die Problematik dann von er Pflegeversicherung nicht erfasst werden kann."
Viele Menschen mit Demenz haben deshalb keine Pflegestufe oder Pflegestufe I. Ambulant sollen sie künftig auch Pflegeleistungen erhalten. Doch viele Altersverwirrte leben mit der niedrigsten Stufe in Heimen. Das ist ein finanzielles Problem für die Einrichtungen. Denn altersverwirrte Menschen sind oft unruhig, haben mit Ängsten zu kämpfen und brauchen deshalb besonders viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Das kostet Zeit, die von der Pflegekasse nicht bezahlt wird. Deshalb hatte Hilde Mattheis, in der SPD-Bundestagsfraktion zuständig für die Pflege, noch kürzlich gefordert.
"Die Grundlage jeder Reform wäre eine andere Definition des Pflegebegriffs, der festhält, was brauchen die Menschen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können?"
Das ist nun erst einmal verschoben worden. Doch gut Ding braucht Weile, meint die SPD-Politikern.
"Es geht jetzt schon darum zu überlegen, wie kann man ambulante vor stationären Strukturen unterstützen? Es geht jetzt schon darum zu sagen, wie kann man eine Dynamisierung hinbekommen in welchen Schüben? Es geht jetzt schon darum zu sagen, wie bekommen Menschen, die ausschließlich an Demenz leiden, auch Leistungen aus der Pflegeversicherung? Aber es geht ein Stück weiter, wenn wir sagen, wir wollen eine Reform des Pflegebegriffs."
Weihnachten hat Frau H. noch das Klavierspiel von Herrn K. mit der Mundharmonika begleitet. Jetzt will sie immer öfter am liebsten in Ruhe gelassen werden, einfach am Tisch sitzen und die Augen zumachen, so wie heute. Gestern war sie munter und kam schon morgens früh von allein zum Frühstück in die Küche ihrer betreuten Wohngemeinschaft. 2004 sind die ersten Bewohner in die ungewöhnliche Hausgemeinschaft in Köln eingezogen. Kirsten Weller leitet die insgesamt drei Wohngemeinschaften.
"Es sind jeweils acht Einzelzimmer in den Wohngruppen so im Rundlauf angeordnet, dass die Bewohner immer hier das Zentrum, wo wir gerade drinstehen, die Wohnküche finden. Kleiner Wohnzimmerbereich, eingerichtet im Stil der älteren Leute, nichts Modernes, sondern so, wie sie leben würden, wenn sie zu Hause wären. Und sie sind ja jetzt hier zu Hause. Unser Konzept ist, den Alltag gestalten, was man zu Hause machen würde, das ganze mal acht. Also Frühstück zusammen, Frühstückstisch decken, soweit das möglich ist, wieder abräumen."
Den Alltag gemeinsam gestalten, das ist das ebenso einfache, wie anspruchsvolle Konzept der drei Wohngemeinschaften unter der Trägerschaft der Alexianer. Die Brüdergemeinschaft ist seit vielen Jahren Vorreiter, wenn es darum geht, neue Konzepte für die Begleitung dementer Menschen zu entwickeln. Sie haben eine der ersten ambulanten Wohngemeinschaften in Münster gegründet. Sie ist ein Vorzeigeprojekt für das Kuratorium Deutscher Altershilfe. Mit großer Unterstützung der Stadt Köln wagten die Alexianer vor drei Jahren das Experiment einer ersten stationären Wohngemeinschaft. Es ist ein Heim und doch keines, erklärt Elke Feuster, Leiterin der Pflegeeinrichtungen der Alexianer.
"Es gibt zurzeit in NRW eine s genannte Ausstiegs- oder Experimentierklausel, wo man mit den einzelnen Heimaufsichten, wenn man einen guten Kontakt hat, Möglichkeiten schaffen kann, dass innovative Projekte noch unter ein Heim fallen, auch mit den ganzen Richtlinien, aber mit ein paar Besonderheiten."
Unter dem Stichwort Entbürokratisierung hat der Bund die Heimgesetzgebung zur Reform an die einzelnen Bundesländer abgegeben. Hier sollen nun Rahmenbedingungen gefunden werden, die eine Vielfalt von Wohnformen möglich machen unter dem Dach der Heimaufsicht. Bisher sind Altenheime streng reglementiert: Brandschutz, Hygieneverordnung, Lebensmittelverordnung, Berufsgenossenschaft. Alle reden mit, wenn es darum geht, das Leben in einem Heim zu gestalten.
"Wer fasst denn das rohe Ei an, oder wer fasst denn den Braten an, wenn hier gekocht wird? Und das war schwierig, denen beizubringen, dass hier Menschen wohnen und dass wir das zwar schon als Einrichtung sehen, aber die Tagestruktur als normalen Alltag organisieren wollen."
Es ist ein Zuhause, das versucht, sich an den Bedürfnissen der Bewohner zu orientieren und nicht an den Vorschriften. So wird auch gemeinsam gebacken und gekocht, obwohl die Hygieneverordnung überall Ansteckungsgefahren wittert. Das macht Bewohner und Mitarbeiter zufriedener, meint Altenpflegerin Kerstin Gregoire.
"Das ist Altenpflege, wie ich sie gelernt habe und wie ich sie eigentlich immer ausüben wollte. Nach 20 Jahren habe ich sie hier gefunden."
Der Koalitionsausschuss hat mit seiner jetzigen Reform der Pflegeversicherung solchen stationären Modellen eine klare Absage erteilt. Traditionelle Altenheime und alternative stationäre Angebote bekommen künftig eher weniger als mehr Geld - denn hier wird es nicht einmal einen Inflationsausgleich geben. Die Pflegewissenschaftlerin Sabine Bartholomeyczik sieht darin ein Problem.
"Stationäre Altenhilfe halte ich nach wie vor für wichtig und nicht ersetzbar. Und ich halte es auch für ein Problem, wenn sie reduziert wird, wobei ich nichts dagegen zu sagen habe, dass Pflegebedürftige natürlich so lange wie möglich zu Hause bleiben sollen. Das ist ganz klar."
Wenn ambulant vor stationär tatsächlich breit greifen soll, dann braucht es nach Ansicht der Pflegefachleute eine entschiedenere Reform, sagt Christine Riesner von der Universität Witten-Herdecke.
"Wir erhoffen uns aus der Sicht der Pflegewissenschaft, dass der breite Ansatz von Pflege, Betreuung, Begleitung auch im Gesundheitssystem einen höheren Stellenwert bekommt. In der praktischen Alltagsarbeit sind diese pflegerischen Ansätze im Grund die zukunftsweisenden. Es ist so, dass die medizinische Betreuung wichtig ist, aber die Alltagsbegleitung ist ein größerer Aspekt dessen, was nötig ist in der Demenz."
Integrierte, vernetzte Systeme innerhalb des Gesundheitswesens könnten auch zu Einsparungen führen und zu einer besseren Versorgung der Betroffenen, meint die Pflegewissenschaftlerin. Das gelte auch für den Ausbau von Prävention.
"Da gibt es zum Beispiel Konzepte eines Quartiersmanagers, es gibt Konzepte präventiver Hausbesuche, wo in Stadtteilen Pflegemitarbeiter die Menschen zu Hause besuchen, unabhängig davon, ob sie ein Problem haben oder nicht. Also erstmal Kontakt knüpfen, um zu schauen, um die häusliche Situation stabil zu halten. Es gibt viele gelungene Unterstützungsmöglichkeiten und emotionale, psychosoziale Begleitmaßnahmen, die die Zufriedenheit der Person sehr stabil hält."
Und wer zufrieden ist, der bleibt auch länger gesund - so wie Herr K, der Mann mit Hut am Klavier.