"Ich war zur Sonntagsmesse gekommen, plötzlich gab es eine gewaltige Explosion. Fenster barsten, Menschen rannten davon. Ich habe viele Tote gesehen, die meisten Frauen. An den Wänden war überall Blut."
So schildert ein Augenzeuge den Anschlag auf die Kapelle neben der St.-Markus-Kathedrale in Kairo am 11. Dezember. 27 Menschen sterben. Der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi beschwört später die Einheit des Landes:
"Nicht nur die Christen, sondern alle Ägypter trauern heute. Im Leid sind wir vereint. Seit Jahren versuchen die Terroristen, uns gegenander aufzuhetzen. Und weil sie das nicht schaffen, sind sie frustriert."
Das ist keine Propaganda, kein Wunschdenken. Selbst nach Ansicht der schärfsten ägyptischen Islamkritiker wünschen sich mindestens 80 Prozent der Muslime im Land ein friedliches Miteinander mit ihren christlichen Nachbarn.
"Das ist für uns alle schwer zu ertragen, für das gesamte ägyptische Volk", sagt ein muslimischer Passant in Kairo am Tag nach dem Anschlag. "Egal ob Muslim oder Christ, wir alle lehnen solche Verbrechen ab."
Vorbehaltlos hinter Al-Sisi
Ungefähr jeder zehnte Ägypter ist Christ. Die meisten dieser rund neun Millionen Menschen sind Kopten, also orthodoxe Christen. Die Unterstützung für Präsident Sisi ist bei den Christen im Land besonders groß. Vom Präsidenten erhoffen sie Schutz. Sie haben Angst, und ihre Angst ist berechtigt. Immer wieder kommt es zu Gewaltakten gegen Kopten, verübt zumeist von Extremisten. Zu dem Anschlag vom 11. Dezember hat sich der so genannte "Islamische Staat" bekannt, eine seiner Terrorgruppen operiert im Norden der Sinai-Halbinsel.
Aber immer mehr Ägypter glauben auch, dass die Terrorgefahr für den Staat nur ein Vorwand ist, um praktisch alle Unterdrückungsmaßnahmen rechtfertigen zu können. Sie verurteilen den repressiven Polizeistaat, dessen Sicherheitskräfte seit 2013 mehr als tausend Menschen töteten.
Doch die koptische Kirche stellt sich vorbehaltlos hinter Sisi. Papst Tawadros erklärte sogar, man müsse Menschenrechte momentan zurückstellen. Der Journalist Wael Iskander kommt aus einer koptischen Familie. Er glaubt, dass die Kopten-Funktionäre auf der falschen Seite stehen und den ägyptischen Christen letztlich damit schaden.
"Schämt Euch, sage ich ihnen. Ihr behauptet, Ihr seid das Licht der Welt und das Salz der Erde, aber man ist nicht das Licht der Welt, wenn man einen Massenmörder unterstützt. Noch tiefer kann man kaum sinken. Ihr stellt Eure eigenen Interessen über die der anderen."
Der koptische Menschenrechtler Mina Thabet befürchtet, dass es dem Regime gar nicht in erster Linie um die Christen geht, sondern um Machterhalt. "Es benutzt die Religion, um die Menschen zu kontrollieren. Sisi ist kein Beschützer von Minderheiten. Wer wie er gute Beziehungen zum koptischen Papst hat, wird dadurch nicht automatisch zum Beschützer der ägyptischen Christen."
"Für einen Kopten gibt es kein ziviles Leben"
Vor allem junge Kopten haben sich in den vergangenen Jahren gegen die eigene Kirche aufgelehnt. Viele wollen eine moderne weltoffene Kirche und glauben, dass sich die Kirchenfunktionäre mit ihren erzkonservativen Ansichten zu sehr in ihre Privatsphäre einmischen. Das beklagt auch die Koptin und Psychologin Sally Toma:
"Für einen Kopten gibt es kein ziviles Leben, sondern nur eines innerhalb der Kirche. Wenn du Probleme mit Behörden hast, dann musst du die Kirche um Hilfe bitten. Das verletzt allgemeine Bürgerrechte. Die koptische Kirche dominiert das Leben der Christen."
Und damit das so bleibt, sagt Mina Thabet, sei die Kirche einen verhängnisvollen Pakt mit dem Regime eingegangen. Denn selbstbestimmte Menschen, die Bürgerrechte und eine moderne Zivilgesellschaft fordern, seien eine Bedrohung sowohl für die Machthaber, als auch für die Kirche.
"Der Staat versucht, die Christen als Mitglieder der Kirche zu behandeln, nicht als Bürger des Landes. Er drängt die Christen in die Kirche, damit er sie dort besser kontrollieren kann."
Der Staat drängt sie also genau dorthin, wo auch die Kirchenfunktionäre sie haben wollen. Beide arbeiten im Grunde Hand in Hand. Die bei dem Anschlag vom 11. Dezember zerstörte Kapelle neben der St.-Markus-Kathedrale hat das Militär in Rekordzeit wieder aufgebaut. Viele Kopten sind dankbar dafür, aber ihre Angst vor Gewaltakten ist größer geworden.
Sie befürchten mehr und mehr, dass das Regime gar nicht für ihre Sicherheit sorgen kann, wenn es dabei vor allem auf einen repressiven Polizeistaat setzt, der alle Ägypter unterdrückt, unabhängig von ihrer Religion. Inmitten eines Kampfes um Macht und Einfluss sitzen die ägyptischen Christen zwischen den Stühlen, und das bereitet vielen von ihnen Unbehagen.