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Orthodoxes und säkulares Judentum
Tanz des Feminismus

Die israelische Choreografien Reut Shemesh inszeniert derzeit in Deutschland die Tanz-Performance "Atara". Dort treten orthodoxe und säkulare Jüdinnen gemeinsam auf. So sollen Klischees, Vorurteile und Lebensweisen hinterfragt werden.

Von Elisabeth Nehring |
Eine Szene aus dem Stück "ATARA" von der israelischen Choreografin Reut Shemesh Im Wörterbuch speichern Keine Wortliste für Deutsch -> Deutsch... Eine neue Wortliste erstellen... Kopieren
Eine Szene aus dem Stück "ATARA" von der israelischen Choreografin Reut Shemesh (Öncü Gültekin)
Ein gut sichtbar auf die Wand projiziertes Foto zeigt zwei zusammengelegte Frauenhände auf einem Tisch: Die Fingernägel sind nicht lang, aber sorgfältig lackiert – in einer unbestimmten, eher gedeckten Farbe, irgendetwas zwischen Rosé, Pink und Lila. Einen der Finger schmückt ein dicker Ring, ein kleines Brillantkettchen windet sich um das Handgelenk. Andere Bilder zeigen Alltagsszenen: einen Tisch mit Thora und einer halbvollen Plastikwasserflasche, die Auslagen eines Perückengeschäfts, die Menorah, den siebenarmigen Leuchter auf einer Fensterbank.
Perücke mit modischer Halblangfrisur
Es sind Familienfotos von Reut Shemesh. Die israelische Choreografin, die bereits seit einigen Jahren in Köln lebt, ist nicht in eine orthodoxe Familie hineingeboren worden. Die Mittdreißigerin ist säkular aufgewachsen, doch ihre Brüder haben im Erwachsenenalter zum orthodoxen Glauben gefunden. Den aus ihrer Sicht 'richtigen Weg' betreiben sie nun umso strenger.
"In Israel habe ich mich manchmal für meine Familie geschämt, für meinen Bruder und seine Frau, die so komische Sachen tragen. Unsere Weltanschauungen und Lebensweisen unterscheiden sich fundamental voneinander. Das führt oft zu Konflikten und wirft viele Fragen auf. Sie glauben, dass früher oder später der Messias kommt und alles in Ordnung bringt. Ich habe einen Goj, also einen nicht-jüdischen Freund – das ist für sie wiederum unmöglich - ein No-Go. Die Arbeit an dieser Tanzproduktion gibt mir die Möglichkeit zu sagen: Seht mal, das ist meine Familie, sie ist seltsam, aber ich bin trotzdem stolz auf sie. So stolz, dass ich in meinem Stück Bilder aus ihrem Fotoalbum zeige."
Und so lässt Reut Shemesh in ATARA die subtilen Facetten des orthodoxen Lebens tanzen.
Die drei Tänzerinnen auf der Bühne sehen sich fast zum Verwechseln ähnlich: schwarzer Rock, der über die Knie geht. Schwarze Strümpfe, flache Schuhe. Hochgeschlossenes Oberteil. Perücke mit modischer Halblangfrisur. Mit ernstem Gesicht oder strahlendem Lächeln erheben sie die Arme zum 'V' und senken sie anschließend mit energischen Gesten Richtung Boden. Trippeln auf abgezirkelten Wegen durch den Raum und stampfen dabei immer wieder wie trotzig mit den Füßen. Chassidische Volkstanzelemente und folkloristische Wucht wechseln sich ab mit mädchenhaftem Hüpfen. In der Choreografie treffen beengende Mechanik und federnde Leichtigkeit, synchroner Formationstanz und individuelle Bewegungsgestaltung aufeinander.
Die Tradition scheinen diese Tänzerinnen im Griff zu haben; eine Befreiung findet nur ganz subtil statt, etwa wenn der strenge, leicht entrückte Blick einer Tänzerin auf einmal ganz weich, fast sinnlich wird.
"Als religiöse Frau meinen eigenen Weg finden"
In ATARA verarbeitet Reut Shemesh das, was sie über das Leben orthodoxer Frauen recherchiert hat - aber auch ihre eigene Familiengeschichte.
"Die Tochter meines Bruders ist 14 und hat entschieden, dass sie nicht mehr religiös leben möchte. Eine ganze Weile war das ein großer Konflikt in der Familie. Mein Bruder und seine Frau haben es inzwischen akzeptiert, genauso, wie sie mich als säkulares Familienmitglied akzeptiert haben. Mich hat immer beschäftigt, dass ich durch ihre Entscheidung, religiös zu leben, vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Sie kamen einfach eines Tages und sagten: Wir leben ab jetzt so. Und gaben mir gleichzeitig das Gefühl: wir akzeptieren dich trotzdem. Das ärgert mich – und es macht mir zugleich Schuldgefühle. Wenn du dich einer Person gegenüber siehst, die für sich in Anspruch nimmt, alles richtig zu machen – und du machst es anders – dann fühlst du dich unweigerlich schuldig – und fragst dich: wenn sie alles richtig machen, mache ich es dann falsch?"
Fragen, die sie auch in ihrer Tanzproduktion thematisiert – und mit ihren Kolleginnen bespricht. Eine von ihnen ist die Israelin Tzipi Nir. Tänzerin und jüdisch-orthodoxen Glaubens.
"Ich fühle mich Gott sehr nah. Ich habe meinen eigenen Vertrag mit ihm und meine eigene Form des Glaubens gefunden. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, als religiöse Frau einen eigenen, inneren Weg zu finden. Das ist einfacher, wenn du mit der Religion aufgewachsen bist, als wenn du dich erst im Laufe deines Lebens dafür entscheidest – wie Reuts Bruder zum Beispiel, für den der Weg in die Orthodoxie einer Revolution gleichkam. Heute ist es so, dass streng religiöse Menschen zu mir sagen: du bist nicht orthodox. Und Nicht-Religiöse sagen: du bist sehr orthodox!"
"Du bist von Gott beschenkt"
Auch wenn das Beispiel Tzipi Nirs zeigt, dass es keine eindeutigen Kriterien dafür gibt, was jüdisch orthodox ist und was nicht – es ist ungewöhnlich, dass Frauen wie sie auf der Bühne stehen und tanzen; mehr noch, dass sie mit und vor Männern tanzen. Genau das tut Tzipi Nir, denn eine der drei weiblichen Rollen in ATARA wird von einem Mann verkörpert – und es sind Männer im Publikum zugelassen.
"Als ich begann zu tanzen, konnte ich nicht ahnen, auf welche Reise ich mich damit begebe. Für meine Eltern ist es in Ordnung, dass ich tanze. Sie haben mich nie unter Druck gesetzt. Als ich damit anfing, war ich bereits verheiratet und hatte schon Kinder und ein eigenes Leben. Meine Eltern unterstützen mich darin, weil sie verstehen, dass dies mein Weg ist. Meine Mutter sagt immer: du bist von Gott beschenkt, dagegen kann ich nichts sagen. Du tust, was du tun musst. Sie ist sehr offen – und das ist einzigartig. Denn einfach ist es nicht für sie."
Vermittlerin zwischen den Welten
Tzipi Nir lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem kleinen Dorf zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Anders als in ultra-orthodoxen Gemeinschaften, in denen die Frauen alles mit ihrem Rabbi besprechen, entscheidet Tzipi Nir vieles selbst: was sie trägt, was sie tut, wohin sie reist. Gerade hat sie in der religiösen Schule, in der sie als Lehrerin arbeitet, eine Tanzabteilung für orthodoxe Mädchen eröffnet. Auch wenn die Mädchen dabei Kleidung tragen, die ihren Körper vollständig bedeckt, nicht mit Jungen zusammen tanzen und sich auch sonst im Rahmen des Unterrichts an die religiösen Gesetze halten, fühlt sich Tzipi Nir oft als Vermittlerin zwischen verschiedenen Welten.
"Hier in Deutschland tanze ich ohne Kopfbedeckung und mit und vor Männern – in der Schule wäre das nicht erlaubt. Aber meine Studentinnen nehmen mich zum Vorbild; und zuhause können sie ohnehin machen, was sie wollen. Viele tragen sogar Shorts – und empfinden sich dennoch als orthodox. Aber wenn sie nach Jerusalem fahren, bekommen sie gesagt: So wie ihr herumlauft, könnt ihr gar nicht religiös sein!"
Orthodox und feministisch
Tzipi Nir ist nicht die einzige orthodoxe Frau in Israel, die innerhalb ihrer Familie und religiösen Gemeinschaft neue Freiheiten sucht. Bereits seit 1997 gibt es ganz offiziell die Jewish Orthodox Feminist Alliance – kurz: JOFA genannt – eine Organisation, in der sich Frauen orthodoxen Glaubens für mehr Sichtbarkeit, Gleichberechtigung und Autonomie einsetzen. Unter den tausenden von Frauen, die in der JOFA organisiert sind, gibt es viele Ansichten, aber die meisten sagen, nicht mit den Regeln der Orthodoxie brechen zu wollen, sondern nur Ungerechtigkeiten in ihrer religiösen Gemeinschaft verändern zu wollen. Eine jüngere Generation von orthodoxen Frauen geht sogar noch weiter – und bezeichnet sich selbst als feministisch. 'I'm a feminist and orthodox' – heißt eine Facebookseite, auf der orthodoxe Frauen sogar fordern, zur Armee gehen zu dürfen. Choreografin Reut Shemesh kennt die gesellschaftlichen Schwierigkeiten, denen sie ausgesetzt sind.
"Diese Frauen werden von den säkularen Feministinnen nicht akzeptiert, weil sie aus deren Sicht nicht feministisch genug sind. Und in der eigenen Gemeinschaft werden sie auch nicht akzeptiert, weil sie nicht demütig genug sind. Leider gibt es in Israel sowohl auf der säkularen als auch auf der religiösen Seite viele Vorverurteilungen. Diese Frauen sitzen also zwischen den Stühlen. Deswegen ist es so wichtig und erstaunlich, dass sie sich zusammenschließen. Und die Aufgabe der säkularen Frauen ist es, religiöse Frauen viel stärker zu akzeptieren."