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Ortstermin im Krisengebiet

Ein knappes halbes Jahr nach Erdbeben und Tsunami in Japan: Chaos und Hilflosigkeit bei AKW-Betreiber, Regierung und Behörden auf der einen Seite - Wut und Misstrauen bei den Evakuierten auf der anderen. Und Nachrichten von radioaktiv belastetem Tee und Rindfleisch verunsichern die Verbraucher überall im Land. Wie groß ist die Gefahr für die Menschen, und wie soll es weitergehen? Wissenschaftsreporterin Dagmar Röhrlich war vor Ort und sprach mit Forschern, Ingenieuren und Politikern in Tokio, und sie reiste ins Sperrgebiet.

Von Dagmar Röhrlich |
    Mitsko Kurosu sah das Wasser kommen. Erst sank der Fluss ab, an dessen Mündung ihr Haus stand. Dann brandete es heran, das schwarze Wasser, das wie ein Berg auf sie zurollte. Die Nachbarin hatte sie gewarnt: Ein Tsunami kommt. Aber fliehen konnte sie nicht. Die 84jährige besitzt kein Auto, und ihr Mann ist an Alzheimer erkrankt. Sie schleppte ihn in die erste Etage - und wartete. Dann spülte das Wasser die Möbel auf sie zu…

    Der 11. März war ein schwarzer Tag für Japan. Ein Beben der Stärke 9 erschütterte Honshu, löste einen Tsunami aus, der bis zu zehn Kilometer tief ins Landesinnere eindrang und sich in manchen Buchten hochhaushoch auftürmte. Er tötete mehr als 15.000 Menschen. Tausende gelten als vermisst, Hunderttausende waren obdachlos. Der Tsunami traf auch Iwaki, die Heimat von Mitsko Kurosu. Es kam noch schlimmer: Die Mega-Welle zerstörte auch wichtige Teil des Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Es kam dort zum GAU. Und plötzlich lag die modern-gesichtslose Industriestadt an der Grenze zu einer Evakuierungszone. 60.000 Menschen mussten vor der gefährlichen radioaktiven Strahlung fliehen.

    Ein Tag im August. Es ist schwülheiss. In der Übergangssiedlung gibt es keine schattenspendenden Bäume. Nur eilig erbaute Fertighäuser auf einem Schotterfeld. Ein paar Kinder radeln auf dem Parkplatz. Ein Dutzend Frauen holen heißes Gebäck bei einem fliegenden Händler. Drei Journalisten und ihr Dolmetscher drängen sich im Wohnzimmer von Mitsko Kurosu. Von hier aus sieht man alles, was sie besitzt: eine spartanisch eingerichtete Küche, ein Bett, Tisch, ein paar Sitzmatten und ein Regal, auf dem ein großer Flachbildfernseher thront: alles Spenden großer Unternehmen. Sie und ihre neue Nachbarin Yoshida Sato zeigen dem Dolmetscher Bilder der Zerstörung Iwakis, erklären ihm temperamentvoll, was darauf zu sehen ist. Dann erzählt Yoshida Sato ihre Geschichte:

    Sie beschreibt, wie sie sich während des Bebens festklammerte. Wie sie das Glas wegräumen wollte, als der Tsunamialarm kam und ihre Familie sie ins Auto packte und fortfuhr.

    Yoshida Sato hatte Glück. Im lähmenden Schrecken der ersten Tage blieb für sie wie für die meisten anderen Japaner die zweite Katastrophe zunächst unbeachtet: In Fukushima Daiichi gerieten drei Reaktoren und vier Abklingbecken außer Kontrolle. Erst Kernschmelzen, in den nächsten Tagen Explosionen. Am 11. März begann ein GAU, der Monate dauern sollte und mehr als 80.000 Menschen vertrieb.

    "Die Tsunami-Opfer haben nichts mehr. Ihre Häuser sind zertrümmert und weggespült worden. Es ist schrecklich, wenn wir die Tsunami-Gebiete so sehen. Aber wir wissen nicht, wie lange unser radioaktive Tsunami dauert, von dem wir überschwemmt werden."

    Nagadoro ist ein Weiler in der Nähe des Dorfs Iitate, etwa 40 Kilometer von Fukushima entfernt. Dort sind wir mit Yoshimoto Shigihara verabredet. Bis April war der 60jährige Nebenerwerbslandwirt, baute Reis an und züchtete Iitate-Rinder, die in Japan als Delikatesse gelten. Jetzt ist der Stall leer. Seinen Job hat er verloren: Durch das Chaos nach Beben, Tsunami und Havarie entließ sein Betrieb viele Mitarbeiter. Geblieben ist ihm die Position als Ortsvorsteher von Nagadoro - allerdings ein Ortsvorsteher ohne Bürger. Die 1400 Bewohner sind evakuiert.

    "Man hat uns gesagt, dass wir mehr als 30 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt lebten und dass uns nichts passieren kann. Wir hätten nie gedacht, dass wir evakuiert werden müssten und dass wir verstrahlt werden könnten. Davon, welche Krankheiten wir bekommen könnten, war kaum die Rede. Deswegen hatte bei uns auch niemand große Angst."

    In den ersten Tagen nach dem 11. März gab es kein klares Bild der Belastung. Das entstand erst ab dem 17. März, als Spezialeinheiten des US-amerikanischen Energieministeriums DOE - offiziell zum Schutz eines Stützpunkts - die Federführung übernahmen. Sie vermaßen die Belastung systematisch aus der Luft heraus. Bis dahin war die Lage unübersichtlich: Beben und Tsunami hatten Mess-Stationen zerstört, Fukushima-Betreiber Tepco hielt Daten zurück, niemand wusste, was in den Reaktoren passiert und wieviel von welchen Radionukliden freigesetzt wird. Evakuiert wurde aufgrund der Kriterien, die 1980 für einen angenommenen Unfall mit Kühlmittelverlust festgelegt worden waren. Fünf Stunden nach dem Tsunami ließ die Notfalleinsatzzentrale der Präfektur Fukushima einen Radius von zwei Kilometern um Reaktorblock 1 räumen. Eine halbe Stunde später erweiterte ihn Premierminister Naoto Kan auf drei, am nächsten Morgen auf zehn und am Abend auf 20 Kilometer. Messtrupps fuhren durch die Gegend, aber die Messungen waren keineswegs fehlerfrei.

    Diese Messtrupps kamen auch nach Nagadoro, erinnert sich Yoshimoto Shigihara. Im März habe er sich als Ortsvorsteher vergebens darum bemüht, von den Behörden Informationen über die Belastung zu bekommen. Die gab es zunächst nur aus dem Internet:

    "Als hier 91 Mikrosievert pro Stunde gemessen worden sind, ahnten wir nichts davon. Männer mit Masken und in weißen Schutzanzügen kamen hierher, haben gemessen und nichts gesagt, sie sind einfach weggegangen."

    Wahrscheinlich habe der Staat den Männern verboten, mit ihnen zu reden, glaubt er. Ihn empört immer noch, dass sich die Messtrupps schützten, während die Bewohner in normalen Kleidern herumliefen. Er erzählt, wie es dann am 19. März hieß, dass die Bewohner freiwillig gehen sollten. Wer freiwillig geht, muss nicht unterstützt werden. Trotzdem zogen 30 der 70 Familien fort, darunter sein Sohn mit Frau und Enkelkindern.

    "Eine Woche später, etwa am 25. oder 26. März, ist ein Wissenschaftler aus Nagasaki gekommen und hat uns gesagt, dass jetzt wieder alles in Ordnung ist. Der Messwert betrug da 17 Mikrosievert pro Stunde, und er sagte, dass das nicht sofort schädlich ist, wir sollten nur im Haus bleiben."

    Er erinnert sich, wie der Professor seinen Vortrag hielt. Er beruhigte die Bewohner, auch ihn. Nun steht Yoshimoto Shigihara verloren vor seinem Haus, das mit seinen weit geöffneten Schiebetüren so wirkt, als käme die Familie gerade von einem Spaziergang zurück. Aber gleich wird er wieder fortfahren, sagt er. Bleiben kann er nicht.

    Iitate liegt außerhalb der Evakuierungszone um das Kernkraftwerk. Trotzdem ist die Belastung hier höher als an manchen Stellen in der 20-Kilometer-Sperrzone. Als die Tepco-Arbeiter in den ersten Tagen immer wieder zur Druckentlastung hochkontaminierte Luft aus dem Reaktordruckbehälter ablassen mussten und eine Anlage nach der anderen explodierte, hatte der Wind die radioaktive Wolke nicht nur aufs Meer hinaus getrieben, sondern immer wieder auch bis zu 100 Kilometer weit ins Land hinein. In Iitate schneite es damals - und mit dem Schnee rieselten die Radionuklide zu Boden. Am 30. März bat die Internationale Atomenergieorganisation IAEO die japanischen Regierung, wegen der hohen Messwerte zu prüfen, was mit den Menschen von Iitate geschehen solle. Erst am 22. April kam die Armee und brachte die Bewohner mit Lastwagen fort.

    Die Firmenzentrale von Fukushima-Betreiber Tepco, der Tokyo Electric Power Company. Zum Zeichen der Solidarität mit den Rettungsarbeitern haben sich die Pressesprecher in die blauen Anzüge der Tepco-Arbeiter geworfen. Ansonsten tragen die Angestellten anscheinend den von der Regierung verordneten "Post-Fukushima-Look": kurzärmelige Hemden und leichte Hosen statt Anzug und Krawatte. Der Grund: Die Tokioter sollen trotz des heißen Sommers die Klimaanlagen möglichst abstellen. Ohne Energiesparen bräche die Stromversorgung zusammen. Seit Monaten liegen drei Viertel aller 54 japanischen Atomreaktoren still. Die meisten wegen Sicherheitschecks oder zur Wartung.

    Pressesprecher Yoshimi Hitosugi stellt den Fahrplan vor, mit dem seine Firma Fukushima Daiichi unter Kontrolle bringen möchte. Die Lage sei heute schon viel besser als im März: Es folgen Erläuterungen zur Kühlung der Reaktoren und Abklingbecken, in denen mehr oder weniger heiße Brennelemente stehen. Dann zur Dekontamination von 120.000 Tonnen hochbelasteten Wassers, das sich durch Monate der Notkühlung mit Meerwasser angesammelt hat.

    "Pro Tag können wir 1200 Tonnen belasteten Wassers dekontaminieren, um es als Kühlwasser in unseren behelfsmäßigen Kühlkreislauf einzusetzen. Dazu müssen wir das Öl abtrennen, das Meersalz und das Cäsium mit Hilfe des Minerals Zeolith herausholen."

    Yoshimi Hitosugi erzählt nichts von den Problemen der komplizierten Anlage, die eher stockend läuft. Eine neue, einfachere ans Laufen zu bringen, ist schwieriger als erwartet: Die Flut an hochkontaminierten Wasser, das im Keller der Turbinengebäude dümpelt, alle Lagerbehälter füllt und die Rettungsarbeiten behindert, lässt sich nur langsam eindämmen. So langsam, dass sich die fürs Jahresende anvisierte Stabilisierung des Kernkraftwerks ins nächste Jahr verzögern wird. Aber das wird Tepco erst eine Woche später bekanntgeben. Jetzt gibt es eine Siegesmeldung:

    "Für Reaktorblock 1 haben wir den sogenannten cold shut down erreicht, und wir setzen unsere Bemühungen fort, das auch für Block 2 und 3 zu schaffen."

    Die Kaltabschaltung, der cold shut down, ist das große Ziel: Dann liegt die Temperatur im Reaktor unter 95 Grad Celsius, so dass kein Kühlwasser mehr verdampft, die Lage stabil ist. Auf die erstaunten Nachfragen schaltet sich der zweite Pressesprecher ein, Yoshikazi Nagai:

    "Mein Kollege hat Ihnen erklärt, dass wir für Block 1 die Kaltabschaltung erreicht haben. Das hängt allerdings von der Definition ab. Laut Fahrplan muss die Temperatur im Reaktor unter 100 Grad Celsius und das Strahlungsniveau sehr niedrig sein. Was die Temperatur angeht, das haben wir in Block 1 geschafft, allerdings ist die Strahlung zu hoch, so dass wir nicht sagen können, dass wir die Kaltabschaltung erreicht haben."

    "Guten Tag, ich heiße Morikuni Makino, Nisa."

    Die Kaltabschaltung ist auch Thema beim Treffen mit Vertretern der japanischen Atomaufsicht Nisa - und zwar als Ziel, das es erst noch zu erreichen gilt.

    "Was die Kühlung betrifft, sind wir bei den Reaktoren und Abklingbecken erfolgreich, aber noch nicht perfekt. Das große Ziel der nun beginnenden Phase 2 ist die Kaltabschaltung. Bitte schauen Sie in Ihre Unterlagen. Auf Seite 2 sehen Sie, wie die Reaktorkerne gekühlt werden. Auf Seite 7 sehen Sie, wie das kontaminierte Wasser, das sich angesammelt hat, behandelt wird. Das ist besonders wichtig. Ob es stabil läuft? Im Moment schon, glaube ich, aber das zu erreichen gehört zu den Zielen von Phase 2."

    Das Treffen findet im Außenministerium statt, der Besprechungsräume wegen, hatte es geheißen. Dieser hier ist kahl. Die Vertreter der Nisa, des Außenministeriums und der Nuklearen Sicherheitskommission NSC, der im Lauf des Gesprächs lediglich ein Organigramm seiner Behörde vorlegen sollte, sitzen den Journalisten gegenüber. Nach Landesart gehen wir Stapel von Papieren durch: Tabellen, Grafiken, Zeichnungen, Pläne... Morikuni Makino schlägt die Kurzfassung des Berichts auf, den die japanischen Regierung an die IAEO gesandt hat:

    "Ich möchte Ihnen erklären, was wir aus dem Unfall gelernt haben. Bitte schauen Sie in die Unterlagen…"

    Er sagt, dass man die Katastrophenvorsorge verbessern müsse, die Vorbereitung auf Mehrfach-Desaster wie Erdbeben und Tsunami. Japanische Kernkraftwerke sind mangelhaft auf Tsunami vorbereitet. Das war im Juni auf einer Tagung der Internationalen Atomenergieagentur in Wien offiziell bestätigt worden. Damals erklärte Mike Weightman von der britischen Atomaufsicht, der im Auftrag der IAEO eine Untersuchungskommission für Fukushima leitete:

    "Sie unterschätzten die Schwere des Tsunami, obwohl bekannt war, das es dort mehrfach ähnliche Ereignisse gegeben hat. Unterschätzt wurde auch seine Gewalt und die für Bauten zerstörerische Wirkung des Schutts, den er mitschleppt."

    Geologen hatten 1990 erkannt, dass im Lauf der Jahrtausende mehrfach schwere Tsunami die Küste dort überrollt hatten. Aber die Leitwarten von Fukushima Daiichi waren nicht an das Tsunami-Warnsystem angeschlossen. Die Betriebsmannschaften ahnten nicht, was auf sie zurollte. Zu dieser Sorglosigkeit hatte sich in Wien Japans damaliger Wirtschaftsminister Banri Kaieda geäußert:

    "Wir haben solche schweren Ereignisse nicht in unsere Sicherheitsrichtlinien aufgenommen, weil wir in Japan an einen Sicherheitsmythos glaubten. Wir waren über die Maßen davon überzeugt, dass unsere Nukleartechnik sicher ist. Auch unsere Experten glaubten an diesen Mythos."

    In einer der Übergangssiedlung von Iwaki. Masao Yukimori ist 74 Jahre alt, arbeitete früher als Wächter in Fukushima Daiichi. Sein Haus in Hironomachi, einem Ort innerhalb der 20- bis 30-Kilometer-Zone, musste er gegen ein paar Quadratmeter hier eintauschen. In dieser äußeren Zone wohnten rund 60.000 Menschen. Ab dem 15. März, 11 Uhr, sollten sie im Hause bleiben. Am 22. März wurde für sie eine flexible Regelung eingeführt, nach der je nach Lage vor Ort entschieden wird, wer bleiben darf und wer gehen muss. Am 25. März riet ihnen die Regierung, freiwillig zu gehen - wegen Versorgungsengpässen. Yukimori:

    "Niemals hätte ich gedacht, dass so etwas passiert. Man hat uns erklärt, dass das Kraftwerk immer sicher ist. Nichts kann passieren, niemals. Dann sahen wir diese Bilder im Fernsehen. Zunächst fand ich das nicht weiter beunruhigend, hatte keine Angst. Aber jetzt wissen wir nicht, wann wir zurück nach Hause und die Strahlung beseitigen können. Wir schauen Fernsehen, lesen Zeitungen, erfahren die Meinungen der Spezialisten."

    Und dann erzählt Masao Yukimori, dass er nicht mehr wisse, wem er glauben könnte: seiner alten Firma, der Atomaufsicht, der Regierung? Er ist nicht der einzige, der so etwas sagt, so denken anscheinend alle hier. Sehr zum Missfallen der meisten Betroffenen hat der für die Atomunfälle zuständige Minister Goshi Hosono verkündet, dass das Land - wo immer es geht - flächendeckend dekontaminiert werden soll, damit die Menschen so schnell wie möglich zurückkehren können. Dabei wünscht sich die Regierung, dass die zusätzliche Belastung ein Millisievert pro Jahr nicht übersteigen soll. Das entspricht in Deutschland dem Grenzwert, der sich für jeden von uns aus allen Tätigkeiten beim Umgang mit künstlich erzeugten radioaktiven Stoffen ergibt. Das heißt: Die japanische Regierung möchte, dass es nach der Katastrophe so ist, als wäre nie etwas geschehen. Viele Strahlenschützer halten ein anderes Vorgehen für pragmatischer: Wenn die Krise vorbei ist, könnte die neue Normalität fürs erste beispielsweise bei vier oder fünf Millisievert pro Jahr beginnen. Dieser Bezugswert sollte dann im Abstand von ein oder zwei Jahren durch Dekontaminieren schrittweise gesenkt werden - bis man bei dem einen Millisievert angekommen ist. Der Vorteil: Die zusätzliche Strahlung läge nicht über Werten, die es anderswo auf der Welt natürlicherweise gibt, das Risiko wäre also gering - und man müsste nicht einen großen Teil Japans für zehn oder 20 Jahren "stilllegen", mit allen Folgen für Arbeitslosigkeit und Sozialsysteme.

    Solche Debatten verunsichern die Betroffenen, deren Misstrauen ohnehin schon groß ist. Und es wächst, wann immer der nächste Skandal enthüllt wird. Wenn beispielsweise herauskommt, dass das Wirtschaftsministerium die Atomaufsicht Nisa am Gängelband hielt und die Nisa deshalb längst nicht so unabhängig war, wie sie sein sollte. Und dass die IAEO das schon vor Jahren moniert hatte, ohne dass etwas passierte. Nicht nur Tepco ist durch Verschweigen, Beschönigen, Lavieren und Vertuschen in Misskredit geraten:

    "Nach Hause zurückzugehen, kann ich mir im Moment nicht vorstellen. In der Zeitungen lese ich, wie schwierig Radioaktivität wieder zu beseitigen ist, und das betroffene Gebiet ist groß. Würden Sie mich fragen, ob es sicher ist, in meiner Heimatstadt zu leben, Sie brächten mich in Verlegenheit."

    Auch Mikio Igari gehört zu den Evakuierten aus Hironomachi. Auch er ist alt, möchte in seinen Garten zurück - aber er fürchtet, sich nicht frei bewegen, nie mehr ohne Angst leben zu können.

    "Wenn jeder von uns einen Geigerzähler haben und wir selbst messen könnten, wo es sicher ist und wo nicht, dann wäre das vielleicht etwas anderes. Wir können die Radioaktivität nicht sehen, so dass niemand weiß, wo etwas wie stark strahlt."

    Seine Frau, die sehr gastfreundlich Tee und Süßigkeiten serviert, meldet sich zu Wort: "Mein Mann möchte Ihnen Folgendes sagen…"

    "...als das Kernkraftwerk explodierte, hat die Regierung erklärt, dass es kein größeres Problem sei. Sie versuchten, alles zu verbergen. Wie sollen wir da einfach in unsere Heimatstadt zurückgehen, wenn man uns sagt, dass es nicht gefährlich ist. Wir trauen der Regierung nicht mehr."

    Immerhin hat Minister Hosono bekannt gegeben, welche Orte dauerhaft gesperrt bleiben werden: die, deren Gesamtdosis, die für die Zukunft erwartet wird, mehr als 100 Millisievert beträgt, sind auf Jahrzehnte unbewohnbar. Das betrifft weite Bereiche der 20-Kilometer-Sperrzone um Fukushima Daiichi und auch von Iitate. Wo die Werte niedriger sind, wird man versuchen, mit aufwendigen, flächendeckenden Dekontaminierungen erst einmal unter 20 Millisievert pro Jahr zu kommen, den Grenzwert für die Evakuierungen. Wird der unterschritten, geht es um das große Ziel - die Belastung immer weiter zu drücken, bis man ein Millisievert pro Jahr erreicht hat. Die Frage ist, ob die, die zurückkehren könnten, dieses Vorgehen akzeptieren. Besonders, wenn sie Kinder haben. Und die Frage ist, ob sie sich bereits jetzt schon Sorgen um ihre Gesundheit machen müssen? Diese Frage kann das Nirs beantworten, das "Nationale Institut der radiologischen Wissenschaften" in Chiba bei Tokio. Das Interview beginnt mit bürokratischen Hürden: Mikrofone sind nicht erlaubt. Möglich sind nur Aufnahmen als elektronischer Stenoblock:

    Die Evakuierung begann wahrscheinlich am Tag nach dem Tsunami vom 11. März. Ich glaube nicht, dass dieser Zeitpunkt zu spät gewählt war, weil die meisten Radionuklide bei den Explosionen vom 13. und 15. März freigesetzt worden sind. Bei 180 Anwohnern der am schlimmsten kontaminierten Orten haben wir die Dosis bestimmt, die sie in ihre Körper aufgenommen haben. Zum Glück war sie nur klein. Wir gehen davon aus, dass das bei 99 Prozent der Anwohner der Fall sein wird. Es kam zu keiner nennenswerten Belastung. Auch bei 1000 Kindern haben wir Ende März die Schilddrüsendosis gemessen.

    Die sei ebenfalls nicht signifikant erhöht gewesen. Sprich: Nirs geht nicht davon aus, dass eine Welle von Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern auf Japan zurollt. Allerdings ist den Experten klar, dass Misstrauen und Verunsicherung derzeit weit verbreitet sind. Nachdem im Handel mit Radiocäsium belastete Lebensmittel aufgetaucht sind, fühlen sich viele Menschen auch außerhalb der Evakuierungsgebiete bedroht. Sie machten sich viel zu große Sorgen, heißt es:

    Das Problem sind die Massenmedien. Sie verbreiten unterschiedliche und missverständliche Informationen. Deshalb wissen viele nicht, was sie denken sollen. Manche Mütter lassen ihre Kinder aus Angst vor Strahlung nicht mehr draußen spielen, schließen alle Fenster und tragen Masken, das ist einfach zu viel.

    Auch die Eltern der 60 Kinder, die zur Tominare-Grundschule in Date gehen, lassen ihre Kleinen lieber in der Turnhalle spielen:

    "Zuerst nahmen wir das Ganze nicht so ernst. Nach dem 11. März glaubte ich, wir würden damit fertig werden. Heute können wir einfach immer noch nicht glauben, dass wir uns in einer so ungewöhnlichen Situation befinden."

    Katsumi Satsuki ist die ehemalige Rektorin der Tominare-Schule. Sie wurde jetzt mit dreimonatiger Verspätung pensioniert: Die Havarie hatte die Übergabe an ihre Nachfolgerin verzögert. An den Tagen Mitte März fiel hier, in Date, 60 Kilometer von den Reaktoren entfernt, Schneeregen. Aber nicht viel. Deshalb ist die Kontaminierung nicht so schlimm wie in Iitate. Date musste nicht evakuiert werden. Satzuki:

    "Wir erfuhren von den Lehrern der naturwissenschaftlichen Fächer einiges über Radioaktivität, aber die meisten Informationen kamen aus dem Internet. Dort gibt es viele verschiedene Erklärungen und Standpunkte, so dass wir nicht wussten, was richtig ist und was falsch. In der Lehrerschaft gab es zwei Meinungen: Die einen hielten alles für sicher, die anderen für unsicher."

    Um Panik zu vermeiden, zwang sie sich zur Ruhe, wollte glauben, dass alles in Ordnung ist. Dann, Mitte April, die Hiobsbotschaft:

    "Die Zeitungen riefen uns an und die Eltern. Wir erfuhren, dass unsere Schule wegen der hohen Strahlungsbelastung als 'gefährlich' eingestuft worden war."

    Ihre Tominare-Grundschule sei ein Hotspot, zähle zu den am höchsten belasteten des Landes, hörte sie von den Behörden. Satzuki:

    "Ich glaube, es war Mitte April, als wir die erste offizielle Aufklärung erhielten. Es gab ein Treffen für die Lehrer und eines für die Eltern, in denen erklärt wurde, was Strahlung ist und wie sich die Lage entwickeln wird, dass die Kinder drinnen bleiben müssten, bis die Umgebung dekontaminiert sei, warum wir im Freien Masken tragen sollten und langärmelige Kleidung und so weiter."

    Selbst bei mehr als 30 Grad im Schatten. Im April hatte die japanische Regierung verfügt, dass in der Region Fukushima die Schulen öffnen sollten, wenn die erwartete Strahlendosis für die Kinder unter 20 Millisievert pro Jahr liegen würde. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die natürliche Radioaktivität meist zwischen zwei und fünf Millisievert pro Jahr. Die Aufregung war nicht nur in Date groß: Kinder reagieren sehr viel empfindlicher auf Strahlung als Erwachsene. Jetzt, am Ende der Sommerferien, hat die Regierung ein Zeichen gesetzt, den angestrebten Referenzwert für Schulen auf ein Millisievert pro Jahr gesenkt - und der soll durch Dekontaminierungen so schnell wie möglich erreicht werden..

    Im April war an der Tominare-Grundschule nicht viel passiert. Die Erde vom Spielplatz wurde abgetragen und vergraben, die Behörden spendierten Klimaanlagen, damit sie die Fenster nicht öffnen mussten. Aber sicher fühlten sie sich nicht. Im Juni kam Jun Ichiro Tada, Direktor des Radiation Safety Forum, einer japanischen Nichtregierungsorganisation. Der emeritierte Strahlenforscher und seine Kollegen reinigen mit Hilfe von Spendengeldern exemplarisch Gebäude, um Techniken zu erarbeiten und das Wissen zu verbreiten.

    "Es gibt nun einmal keine Heinzelmännchen, die die Dekontaminierung übernehmen, das müssten die Menschen schon selbst machen."

    Er maß die aktuelle Belastung der Luft: Die Kinder konnten Mundschutz und Pulli ablegen. Das Radiocäsium klebte jedoch auf den Oberflächen, musste entfernt werden. Tada:

    "Wir setzten dabei eine Maschine ein, die mit Stahlbürsten die obersten zwei Millimeter von Asphalt, Beton oder Ziegeln abhobelt."

    Er erzählt, wie er und ein Team aus Lehrern und freiwilligen Helfern die Risse auskratzten, die sich durch das Beben im Asphalt gebildet hatten. Sie entfernten Gras und Moos, sammelten das Laub ein, reinigten die Dachrinnen und dekontaminierten sogar den Pool, indem sie Rohre austauschten und das Wasser in große Taschen mit Zeolith und Chemikalien leiteten. Nach einer halben Stunde war es sauber. Tada:

    "Am 19. Juli hat die Schule den Pool wieder eröffnet und zwei Drittel der Kinder sind geschwommen. Aber seitdem wird er nicht benutzt, weil die Eltern ängstlich sind."

    Zurück auf dem Hof von Yoshimoto Shigihara, dem Ortsvorsteher von Nagadoro. Wer hier her kommt, muss sich mit Mückenspray einnebeln. Seit die Kühe weg sind, fallen Stechfliegen über jedes warmblütige Wesen her, das sie erwischen können. Aber nicht deshalb sind Bauernhöfe schwierig zu dekontaminieren. Eines der besonderen Probleme sind die Felder. Um sie zu reinigen hat einer der Kollegen Tadas einen Stoff aus der Eiscremeproduktion zweckentfremdet:

    "Es lässt sich also sicher auf einem Bauernhof einsetzen. Wir sprühten es auf den Boden, es verfestigte die oberste Schicht, und wir konnte sie abschälen. Wir haben im Labor untersucht, in welcher Tiefe sich das Cäsium im Boden befindet: Es steckt in den obersten zwei oder drei Zentimetern. Es reicht also, wenn diese obersten Zentimeter abschälen."

    Auch den Bauernhof hat Tadas Gruppe so gut es ging dekontaminiert. Aber ein Problem blieb: der Wald hinter dem Haus. Der hatte sehr viele Radionuklide abgefangen , die nun regelrecht auf den japanischen Zedern kleben. Sie sind immergrün, müssten also gefällt werden. Durch die Dekontaminierungsarbeiten entsteht in allen betroffenen Gebieten ein neues Problem: ein Berg von strahlendem Abfall. Bei Yoshimoto Shigihara liegen im Wald hinter dem Haus 20 bis 30 Tonnen Atommüll, in Plastiksäcken verpackt, unter einer blauen Plane und mit rotem Absperrband gesichert. 21,1 Mikrosievert pro Stunde misst Tada. Die belastete Erde wegzubringen, war bis vor kurzem illegal. Seit Juli sieht eine Richtlinie der Atomaufsicht vor, dass Gemeinden weniger stark kontaminierten Müll entsorgen dürfen. Bleibt jedoch die Frage, wohin. Und so liegt er auch an der Tominare-Grundschule vorläufig unter blauen Planen - hinter der Turnhalle - und strahlt: Jun Ichiro Tada:

    "Dort haben wir alle kontaminierten Feststoffe gesammelt: das Gras und Laub und Moos, das Abgekratzte vom Asphalt und Beton, das Mineral Zeolith, mit dem wir das Radiocäsium aus dem Pool geholt haben, belastete Rohre. Insgesamt mehr als 50 Tonnen."

    An einer Stelle ist die blaue Folie zur Seite gerutscht. Dort misst Jun Ichiro Tada:

    "Elf Mikrosievert pro Stunde. Das ist pro Stunde etwas mehr als eine Röntgenaufnahme der Zähne."

    Diese 50 Tonnen sind nur ein verschwindend winziger Teil der vielen Millionen Tonnen Müll, die untergebracht werden müssen. So war es eine der letzten Amtshandlungen des abgetretenen Regierungschefs Naoto Kan, den Gouverneur von Fukushima um ein Atommüllzwischenlager zu bitten: für die Abfälle der flächendeckenden Dekontamination und die von Fukushima Daiichi. Derweil soll die Stadtregierung von Fukushima laut Zeitungsberichten zur Selbsthilfe gegriffen haben, heißt es: In der Nähe ihrer Mülldeponie soll sie Leinensäcke mit kontaminierten Böden vergraben - heimlich.
    Und Yoshimoto Shigihara - ob er je auf seinen Hof zurückkehrt, ist fraglich: Die Kontamination in Nagadoro ist so hoch, dass es nach dem Wunsch der Regierung für Jahrzehnte unbewohnt bleibt. Es wird berichtet, dass sie Land aufkauft - und dann wartet, bis die Radionuklide von selbst zerfallen.