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Oskar Lafontaine
"Ich wollte immer die soziale Lage der Menschen verbessern"

Oskar Lafontaine war viele Jahre in der SPD, war Bundesfinanzminister und Parteivorsitzender. Dann trat er aus und gründete mit die Partei Die Linke. Nicht erst seitdem kritisiert er die Regierungspolitik. Die Einführung des Euros sei ein Fehler gewesen, sagte Lafontaine im DLF. Er sollte die europäische Einigung befördern, "er hat das Gegenteil getan."

Oskar Lafontaine im Gespräch mit Rainer Burchhardt |
    Der Linken-Politiker Oskar Lafontaine am 17. Juni 2015 während einer Rede im saarländischen Landtag.
    Der Linken-Politiker Oskar Lafontaine am 17. Juni 2015 während einer Rede im saarländischen Landtag. (Imago/Becker&Bredel)
    Es war der wohl spektakulärste Rücktritt eines Bundesministers, den die Bundesrepublik je erlebt hatte: Knall auf Fall verließ der sozialdemokratische Finanzminister im rot-grünen Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder im März 1999 seinen Amtssitz in Bonn und ließ sich erst Tage später mit seinem kleinen Sohn auf den Schultern auf der heimischen Terrasse im Saarland ablichten. Die Rede ist von Oskar Lafontaine, Jahrgang 1943, geboren in Saarlouis, durch und durch ein Homo Politicus mit Spitzenämtern auf allen Ebenen. Er war Oberbürgermeister in Saarbrücken, Ministerpräsident des Saarlandes, Vorsitzender der SPD und kurzfristig Bundesfinanzminister. 2005 wechselte er von der SPD zur Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit, WASG, die sich später zusammen mit der PDS in die Linkspartei umbenannte. Zusammen mit Gregor Gysi führte er ab 2005 die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag und war neben Lothar Bisky auch deren Parteivorsitzender. 2009 zog er sich aus beiden Ämtern zurück. Danach konzentrierte sich Oskar Lafontaine politisch wieder auf das Saarland und führt seit 2009 die Linksfraktion im Saarbrücker Landtag. Seit Ende des letzten Jahres ist er mit der linken Politikerin Sahra Wagenknecht verheiratet.
    "Aufgewachsen bin ich eben im katholischen Arbeitermilieu. Das war eine Straße, in der Hüttenarbeiter lebten. Das hat mich geprägt."
    Heimat Saarland und das Besondere der deutsch-französischen Grenzregion.
    Rainer Burchhardt: Herr Lafontaine, Sie sind in einem, wie man landläufig sagt, bodenständigen Haushalt aufgewachsen, Jahrgang 1943, also noch mitten im Krieg. Ihr Vater, der Bäcker war, ist leider auch gefallen während des Krieges. Sie sind also sozusagen als alleinerziehendes Kind von Ihrer Mutter großgezogen worden. Welches sind Ihre Erinnerungen heute noch an die damalige Zeit als Zweijähriger? Kriegsende wird man wahrscheinlich noch nicht so sehr viel präsent haben, aber die Nachkriegszeit wird für Sie sicherlich sehr bedeutend gewesen sein damals auch in Saarlouis, wo Sie aufgewachsen sind.
    Lafontaine: Ja, die Nachkriegszeit war natürlich prägend für mich. Allerdings muss ich sagen rückblickend, auch unter Einbezug der Tatsache, dass man die Vergangenheit eben eher noch verschönt: Entbehrungen oder so habe ich nicht in Erinnerung. Zwar gab es eben keine Butter, sondern Margarine, und es gab auch nicht viel Schinken oder Wurst, sondern es gab Salzbrot oder Senfbrot oder was weiß ich, aber wir Kinder haben das nicht als irgendwie belastend empfunden. Und als es dann die ersten Würstchen und Hähnchen gab, dann ging es aufwärts. Aber aufgewachsen bin ich eben im katholischen Arbeitermilieu. Das war eine Straße, in der Hüttenarbeiter wohnten. Das hat mich geprägt. Meine Mutter war ja selbst auf der Hütte, zuerst auf der Dillinger Hütte, dann auf der Völklinger Hütte, und insofern ist das das Milieu, aus dem ich komme und das mich bis zum heutigen Tage geprägt hat.
    Burchhardt: Das Saarland war ja damals noch, mit Verlaub gesagt, französisch. Hat Sie das eigentlich auch geprägt? Bis 1955 immerhin.
    Lafontaine: Ja, sehr stark. Ich glaube, dass meine Bewunderung der französischen Kultur aus dieser Zeit rührt, weil es war die Absicht der französischen Regierung, das Saarland mehr oder weniger auch kulturell an Frankreich heranzuführen. Es traten dort berühmte Leute auf, ich erinnere mich an Edith Piaf, um einen Namen zu nennen, der heute sicher noch bekannt ist, aber auch andere Chansonniers. Und zum Beispiel hatte der saarländische Rundfunk eine Sendung, die hieß "Chansons de Paris", und das hat uns geprägt. Wir sind also nicht von deutschen Liedern oder von amerikanischen Schlagern geprägt worden, sondern eben vom französischen Chanson. Und das hält natürlich vor. Auch heute noch bin ich gerne in Paris und interessiere mich für die französische Kultur.
    Burchhardt: Es gibt ja auch Wahlkampfplakate mit Ihnen mit einer Tüte in der Hand und Baguette, was so dazugehört zum Savoir-vivre in Frankreich.
    Da gibt es jetzt Krawall. Das fanden wir spannend.
    Lafontaine: Ja, das war die französische Lebensart, die ja im Saarland dann im Zuge dieser geschichtlichen Entwicklungen entstanden ist. Man kann ja beobachten im Osten wie im Westen, dass die Leute dann zunächst einmal die Lebensgewohnheiten der Besatzungsmächte angenommen haben. Hier im Osten hat man dann Wodka getrunken, im Saarland hat man halt Burgunderwein und Bordeauxwein getrunken, das heißt, die bürgerlichen Schichten.
    Burchhardt: Soll auch gesünder sein.
    Lafontaine: Ja, soll gesünder sein. Und das war natürlich prägend und das ist auch bis zum heutigen Tage noch zu spüren.
    Burchhardt: Als es 1955 die Volksabstimmung gab, wie haben Sie als damals Zwölfjähriger das empfunden? Haben Sie gesagt, schade, jetzt sind wir plötzlich Deutsche? Oder war das eine Entwicklung, wo Sie sagten: Das ist im Grunde genommen die Seele der Saarländer?
    Lafontaine: Nein, diese beiden Fragestellungen haben mich damals noch relativ wenig beschäftigt, sondern wir haben eben nur als Jungs gesehen: Da gibt es jetzt Krawall. Das fanden wir spannend. Die Arbeiter haben Autos umgeworfen. Aber so richtig politisch verstanden, was sich da abspielte – das wäre jetzt im Nachhinein vermessen, das zu behaupten, dass ich das damals verstanden hätte.
    "Die schnelle Einführung der D-Mark wird eine Katastrophe"
    Burchhardt: Haben Sie denn damals eigentlich das Gefühl noch gehabt – aus der Historie heraus war Frankreich ja der, in Anführungsstrichen, der Erzfeind, und dann gab es die große Versöhnungsarie zwischen Adenauer und De Gaulle als Einleitung der deutsch-französischen Freundschaft, wie wir sie eigentlich bis auf den heutigen Tag haben –, haben Sie das damals empfunden?
    Lafontaine: Das habe ich schon empfunden, dass es eben die Bestrebungen gab. Das war ja auch die Politik der saarländischen Regierung direkt nach dem Kriege bis eben zur Saarabstimmung, Deutschland und Frankreich zusammenzuführen. Das habe ich empfunden. Auf der anderen Seite gab es natürlich in der Saarbevölkerung – und so ist ja auch dann die Abstimmung zu erklären – so ein dumpfes Gefühl, dass die Besatzungsmacht sich zu viel rausgenommen hatte, dass also an den führenden Positionen zu viele Franzosen noch saßen. Und es gab auch natürlich gefühlsmäßig die Bindung an Deutschland, die auch in der Zeit des Nationalsozialismus sehr stark gefördert wurde, und das geht ja von heute auf morgen nicht vorüber.
    Burchhardt: 1955 gab es eben diesen Umbruch des, ja, man kann auch sagen, Anschlusses, wenn man so will, aber es gab eben eine Volksabstimmung. Haben Sie eigentlich – und da machen wir mal einen Vorgriff –, haben Sie eigentlich darin auch widergespiegelt gefunden, was sich in der sogenannten Wiedervereinigung später abspielte in Gesamtdeutschland?
    Lafontaine: Ja, das hatte sogar ganz praktische Folgen, die leider eben nicht, will ich mal sagen, Früchte getragen haben. Ich wusste aus dieser Zeit, dass es nicht möglich ist, eine Währung von einem Tag auf den anderen umzustellen. Die damaligen Verantwortlichen waren so klug, dass sie gesagt haben: Die Saarwirtschaft bleibt noch so drei Jahre im Gebiet des französischen Franc. Das hatte den großen Vorteil: Die konnte sich langsam umstellen auf den deutschen Markt. Die war ja vorher auf den französischen Markt orientiert, dann auf den deutschen Markt. Und aus solchen Erfahrungen habe ich damals gesagt als Kanzlerkandidat der SPD: Die schnelle Einführung der D-Mark zum Kurs von eins zu eins wird eine Katastrophe, weil eben schlagartig dann der Ostmarkt für die Ostbetriebe verloren geht. Und so ist es ja auch gekommen. Also das hatte ganz praktische Folgen auch für mein späteres Leben.
     Vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin am 10.11.1989: Willy Brandt (lks.), Walter Momper (Mitte) und Helmut Kohl (rechts) 
    Lafontaine sang nicht mit: Willy Brandt (l.), Walter Momper (M.) und Helmut Kohl (r.) vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin am 10.11.1989 ( imago/Dieter Bauer)
    "Und als Sozialdemokrat interessierte mich nicht das eigene Vaterland, sondern mich interessierte: Wie geht es den Leuten?"
    Lafontaine, der Physiker, Skepsis zum Weg der deutschen Einheit und die Folgen des Attentats
    Burchhardt: Sie haben dann Physik studiert, Sie sind Diplomphysiker. Das haben Sie gewissermaßen gemeinsam mit Angela Merkel. Was bedeutet eigentlich dieses Studium für die Politik, für politische Strukturen? Frau Merkel sagt ja auch oftmals, dass sie als Physikerin natürlich auch immer das Ende bedenkt. Wie geht es Ihnen dabei?
    Lafontaine: Ich habe eher eine andere Erfahrung gemacht: dass ich etwas sicherer war, wenn es um technische Prozesse ging. Es ging ja damals beispielsweise in meinem Leben um die Frage: Kernenergie – ja oder nein? Aufgrund meiner physikalischen Ausbildung konnte ich das vielleicht anders beurteilen als Juristen oder Volkswirte, ohne das jetzt irgendwie zu qualifizieren. Aber es ist einfach so. Und wenn es dann um die Raketen ging oder so, dann fiel es mir leichter, mich mit der Technologie der Raketen zu beschäftigen, als jemandem, der vielleicht diesen Zugang nicht hatte. Das sind eher meine Erfahrungen.
    Ich glaube, ansonsten vom Ende her zu denken – das macht ja auch ein Schachspieler oder jemand, der eben einfach das Fach Logik oder wie auch immer besetzt hat. Das glaube ich nicht, dass das das Entscheidende ist. Wenn Sie gerade Frau Merkel ansprechen, nur eine Nebenbemerkung: Mir fällt eben auf, dass sie die physikalische Methode, die ja darin besteht, eben Daten zu sammeln und daraus Gesetze oder Schlussfolgerungen abzuleiten, dass sie die in der Politik nicht einsetzt, sonst könnte sie, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, nicht so argumentieren, wie sie es macht. Das heißt also, der Physiker würde heute sagen: Jetzt haben wir so lange versucht, in Griechenland eine bestimmte Politik zu machen – die ist gescheitert, also durch das Experiment ist die Theorie widerlegt. Das ist klassische Physik.
    Sozialismus ohne die christliche Kultur nicht vorstellbar
    Burchhardt: Sie sagten ja vorher, Sie sind in einem katholischen Arbeitermilieu aufgewachsen. Hat sie das auch, auch die katholische Soziallehre, für die Sozialdemokratie sozialisiert?
    Lafontaine: Ja, in jedem Fall. Das ist ja auch heute zu beobachten, wie prägend die katholische Soziallehre ist. Wenn ich jetzt mal Geißler nehme oder Blüm, oder ich nehme jetzt auch Leute wie Gauweiler oder Wimmer – also dass es erstaunlicherweise bei den Christdemokraten noch Leute gibt, die also das, ich möchte mal sagen, das Tötungsverbot so ernst nehmen und deshalb eben sich gegen den Krieg positionieren, ist für mich ein Beweis, dass die katholische Soziallehre prägend ist. Und für mich war Sozialismus oder die Sozialdemokratie immer säkularisiertes Christentum, denn die Gleichheitsidee ist ja nur dort groß geworden, wo es eben die christliche Lehre gab, denn die Christen sagen eben: Wir sind alle Kinder Gottes und in dieser Rolle sind wir gleich. Und daher ist die Gleichheitsidee eine christliche Idee. Etwas anderes ist, dass die Kirchen oft diese Idee in der praktischen Politik nicht verfolgt haben. Eine Ausnahme ist ja der heutige Papst. Aber diese Idee kommt aus der christlichen Lehre. Und für mich ist der ganze Sozialismus ohne die christliche Kultur in dieser Form nicht vorstellbar.
    Burchhardt: Aber um das Christentum mal auf den Boden zu bringen: Haben die Kreuzzüge nicht die Blaupause geliefert?
    Lafontaine: Ja, sicher. Das ist ja auch eine der Argumentationen, die wir heranziehen müssen, um die Bescheidenheit, ich sage mal, des christlichen Abendlandes einzufordern, wenn wir diese Entwicklungen beurteilen. Die Kreuzzüge und Hexenverbrennung und was da alles zu nennen ist, oder eben die Unterwerfung der Indianer in Südamerika und die grässlichen Raubzüge der Conquistadores – das sind ja alles große Verbrechen, die im Namen des Christentums begangen worden sind.
    Burchhardt: Und die Inquisition, ja.
    Lafontaine: Ja. Da haben wir also viel Grund zu sagen, Mea culpa, Mea culpa, Mea maxima culpa.
    "Deutschland eilig Vaterland"
    Burchhardt: Ja, das hat man von Ihnen ja auch erwartet, insbesondere aufgrund Ihrer, wie immer so schön gesagt wurde, ablehnenden Haltung zu einer zu schnellen deutschen Wiedervereinigung, "Deutschland eilig Vaterland" haben Sie, glaube ich, irgendwann mal gesagt. War das da unvermeidbar, war dieser Konflikt, der ja auch dahin führte, dass Sie mit Willy Brandt einfach nur Sendepause hatten zum Schluss, war das wirklich unvermeidbar?
    Lafontaine: Ob das unvermeidbar war, das kann man sicherlich so nicht sagen. Nur: Es gab unterschiedliche Lebenswelten, die aufeinander getroffen sind. Willy Brandt ist gesamtdeutsch aufgewachsen, ich bin westdeutsch aufgewachsen, wenn man so will, halb französisch aufgewachsen – wir leben ja direkt an der Grenze –, und ich hatte damals ja noch das Attentat überstanden, was natürlich mich in eine besondere Lebenssituation gebracht hat. Aber im Gegensatz zu der damaligen führenden politischen Schicht, also Kohl, Brandt will ich mal nennen, habe ich mich immer mit ökonomischen Fragen beschäftigt und habe eben gesehen, dass das große Probleme aufwerfen wird. Und als Sozialdemokrat interessierte mich nicht das einige Vaterland, sondern mich interessierte: Wie geht es den Leuten? Und interessanterweise war das ja die Grenze, die immer wieder sichtbar wurde. Die einen: einig Vaterland, einiger Staat, einiger Staat. Ich habe dann gesagt in Gesprächen: Ja, was nützt das den Leuten, wenn sie in einem Staat sind, wenn sie aber keine Arbeit haben? Was soll das Ganze? Für mich waren das immer nur Rückwärtsgefechte. Und ich sehe auch das heute noch so: Es wäre sinnvoller gewesen, sich mehr um die soziale Lage der Menschen zu kümmern, als im Glanz der Vereinigung sich zu sonnen, denn die Vereinigung war für mich immer nur lebensweltlich zu verstehen. Das heißt, ich habe das auch oft formuliert: Selbst wenn es zwei Deutschland gäbe, aber den Menschen in Dresden ginge es genauso gut wie den Menschen in Kaiserslautern oder in Hamburg – wo wäre das große Problem?
    Was ist, wenn es morgen vorbei ist?
    Burchhardt: Da Sie das Attentat erwähnten: Sie waren damals Kanzlerkandidat, das war April 1990. Was hat das für Ihr politisches Weiterleben bewirkt? Hat das Wirkungen gehabt außer von seelischer Verletzung, auch körperlicher Verletzung?
    Lafontaine: Ja, die körperliche Verletzung habe ich ja relativ schnell überwunden und Gott sei Dank eben auch so überwunden, ich denke an Wolfgang Schäuble, dass keine bleibenden Schäden zurückgeblieben sind bei mir. Aber die seelischen Folgen kann man schlecht einschätzen. Auf jeden Fall entstand ein Gefühl der Unsicherheit daraus, der Verletzbarkeit, das natürlich im Wahlkampf sich gravierend bemerkbar gemacht hat, weil ich musste den Wahlkampf ja weiterführen, weil kein Sozialdemokrat bereit war, mir diese Aufgabe abzunehmen. Und das ist dann teilweise geblieben, hat sich aber im Laufe der Jahre anders abgebaut. Und auf der anderen Seite ist es so, dass ich seit dieser Zeit immer wieder mir die Frage gestellt habe: Was ist, wenn es morgen vorbei ist? Das ist ja die existenzielle Erfahrung. Und ich habe daher versucht, so zu leben, dass ich dann sagen kann: Na ja, es war einigermaßen in Ordnung.
    Burchhardt: Haben Sie in dem Zusammenhang irgendwann mal gedacht: Ich höre mit dieser Politik auf? Das kann mich mein Leben kosten?
    Lafontaine: Nicht ... Das war auch, aber der Gedanke, ich höre mit der Politik auf, der ist ja bei jedem Politiker, der ein bisschen dem Leben zugewandt ist, häufig, weil die Politik so anspruchsvoll ist, dass man irgendwann sagt: Hältst du das auf Dauer durch oder ist es nicht besser, ein anderes Leben zu führen? Der Gedanke kommt bei jedem Politiker häufig.
    Gleisanlagen des Bahnhofes im saarländischen Völklingen, im Hintergrund das alte Stahlwerk der Arbed Saarstahl GmbH am 04.12.1982.
    "Die Stahlindustrie war in Gefahr, völlig zu verschwinden." Gleisanlagen des Bahnhofes im saarländischen Völklingen, im Hintergrund das alte Stahlwerk der Arbed Saarstahl GmbH am 04.12.1982. (picture alliance / dpa / Jörg Schmitt)
    "Ökonomische Gesetze gelten - ob man sie versteht oder nicht."
    Erfolge und Misserfolge in der Politik, Selbstkritik und frühe Warnungen vor europäischen Fehlentwicklungen
    Burchhardt: Es gibt ja keinen Bereich in der Politik, der von Ihnen ausgelassen wäre. Sie waren Juso-Vorsitzender im Saarland, Sie waren dort Landesvorsitzender, Sie waren Ministerpräsident, Sie sind im Grunde genommen erst mal in der Kommunalpolitik gewesen, dann in der Landespolitik, dann in der Bundespolitik, dann wieder zurück in die Landespolitik, heute sind Sie als Fraktionsvorsitzender der Linken im Landtag tätig. Also es ist mehr als eine Sinuskurve. Wenn Sie auf dieses bewegte politische Leben zurückschauen – vielleicht können wir uns das hier mal erlauben, obwohl Sie noch längst nicht am Ende sind, vermute ich mal ...
    Lafontaine: Hoffentlich, ja.
    Burchhardt: ... politisch meine ich das, wie sehen Sie das selber? Haben Sie sich vielleicht irgendwann auch mal verzettelt? Haben Sie gedacht, oh, jetzt bin ich aber ein bisschen wild dabei? Oder wie war das eigentlich zurückblickend?
    Lafontaine: Na, verzettelt hat man sich natürlich oder habe ich mich öfters in der Politik. Aber letztendlich muss ja das Kriterium sein, nicht nur, hast du Karriere gemacht oder was hast du für dich erreicht, sondern was hast du für andere bewirkt? So, und da beginne ich in der Kommunalpolitik, Sie haben das ja angesprochen. Das können jetzt natürlich die Saarländerinnen und Saarländer beurteilen, weil dort eben es doch gelungen ist, die Stadt Saarbrücken deutlich zu verändern im Interesse eben der Bevölkerung.
    Burchhardt: Es gab ja damals auch die Arbed Saarstahl, die große Stahlkrise, die Umstrukturierung, die Sie damals hatten.
    Lafontaine: Ja, das war dann die Landespolitik, und Sie haben jetzt einen wichtigen Punkt genannt: Die Stahlindustrie war in Gefahr, völlig zu verschwinden. Es gelang uns, das habe ich ja nie allein fertiggebracht, aber es gelang uns, das zu stoppen. Heute ist die Stahlindustrie, wenn man so will, eine sehr wettbewerbsfähige Industrie. Es ging um tausende von Arbeitsplätzen, man kann sagen, zigtausende, weil letztendlich ja es nicht um die direkten Arbeitsplätze in den Stahlwerken ging, sondern auch die Zulieferer und so weiter, und so weiter. Das sind eben dann Etappen, wo ich sagen kann: Es ist etwas für die anderen erreicht worden. Und das ist das einzige Kriterium, was für mich in der Politik relevant ist.
    Burchhardt: Damals in der Bildungspolitik gab es auch Umstrukturierungen, die eigentlich bis heute auch wirken.
    "Ich wollte immer die soziale Lage der Menschen verbessern"
    Lafontaine: Ja, wir haben die Gesamtschule beispielsweise eingeführt, wir haben eine Kunstakademie eingerichtet, um mal etwas zu sagen, was nicht so im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen steht, wir haben auch Festivals eingerichtet, etwa das berühmte Filmfestival Max Ophüls ist damals eingerichtet worden, aber natürlich die Universität umstrukturiert. Das war jetzt, wenn man so will, dann auch noch Ergebnis meiner naturwissenschaftlichen Ausbildung, dass ich einen großen Schwerpunkt auf die Informatik gelegt habe, sodass heute die Informatik dort eben doch einen sehr guten Ruf hat. Also solche Erfolge, in Anführung, hat man trotz Verzettelungen dann doch erreicht. Jetzt kommen wir aber mal zur Bundesebene. Da bin ich natürlich mit dem, was ich erreichen konnte, bei Weitem nicht so zufrieden wie mit meiner kommunalen Tätigkeit und meiner Tätigkeit als Ministerpräsident. Warum? Ich komme aus dem katholischen Arbeitermilieu und ich wollte eben immer die soziale Lage der Menschen verbessern. Und die größte Herausforderung war ja, als der Neoliberalismus aufkam und auch die deutsche Sozialdemokratie anfing, sich neoliberalen Gedanken zu öffnen. Der Höhepunkt war ja die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze.
    Burchhardt: Gab es nicht noch den Vorläufer, Schröder-Blair-Papier?
    Lafontaine: Ja.
    Burchhardt: Da hätte man ahnen können, ich glaube, Sie haben damals auch schon Kritik geübt.
    Lafontaine: Ja. Das war alles schon klar. Aber letztendlich ist ja die Frage an mich selbst: Da ist es mir eben nicht gelungen. Auch die Gründung der Partei Die Linke war ja ein Versuch, die Sozialdemokratie zur Korrektur zu zwingen, und das ist eben nicht gelungen. Also das sehe ich als ein, wenn man so will, ein Feld an, wo eben der Erfolg ausgeblieben ist, den Zerfall des Sozialstaates zu stoppen. Das war ja im Grunde genommen die überwältigende Idee bei allem. Und an der Front kämpfe ich heute noch, wenn Sie so wollen.
    Burchhardt: Ja, damit hat die Linke ja auch Probleme, weil im Grunde genommen alle anderen Parteien sagen: Agenda 2010, jetzt sehen wir den Erfolg – was habt ihr eigentlich dagegen?
    Mit der Agenda die europäische Einigung gefährdet
    Lafontaine: Ja, das Erstaunliche ist – und da komme ich jetzt noch mal zurück etwa zu Ihrer Frage nach Merkel, Physikerin –, dass man nicht erkennt, dass der Erfolg dieser Agenda darin besteht, dass Europa auseinanderfällt. Warum? Die Agenda ist die Grundlage des deutschen Lohndumpings. Jeder, der sich ein bisschen für Zahlen und Kurven interessiert, sieht, dass die Deutschen einen großen, einen riesigen Fehler in der Währungsunion gemacht haben: Sie habe ihre Löhne unterhalb der Produktivität erhöht, während viele Europäer ... Die Franzosen waren mustergültig, sie haben im Rahmen der Produktivität sich bewegt, aber die Griechen haben dann noch stärker erhöht, und dann fällt die Währungsunion auseinander. Aber das sieht man dann nicht. Wenn ich heute also wahrscheinlich etwa Schröder oder Steinmeier sagen würde, seid ihr eigentlich euch klar darüber, dass ihr mit eurer Agenda auch die europäische Einigung gefährdet habt – ich glaube, das würde nicht verstanden.
    Burchhardt: Die zeigen den Zeigefinger an den Kopf, denke ich mal.
    Lafontaine: Kann sein, ja. Tut aber nichts zur Sache. Das ist dann eben wieder Physik. Ökonomische Gesetze gelten, ob man sie versteht oder nicht.
    Burchhardt: Damals waren ja vor allen Dingen Margaret Thatcher und auch François Mitterrand gegen eine zu schnelle deutsche Einheit. Es wurde dann immer gesagt: Großdeutschland kann wieder Gefahr für Europa werden. Die Deutschen haben damals gesagt, Helmut Kohl vor allen Dingen: Wir wollen kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland. Ist nicht aber dann doch eher jetzt heute auch vor dem Hintergrund des letzten Gipfels in Bayern, ist nicht die deutsche Dominanz eigentlich das prägende Thema in Europa?
    "Angela Merkel ist die Präsidentin Europas und das war nicht gewollt"
    Lafontaine: Ja. Das ist ja eben so gekommen, wie das befürchtet worden ist von Kohl oder von Mitterrand. Andreotti war ebenfalls damals nicht begeistert von dieser Entwicklung. Die haben natürlich gesehen und das ja auch begründet, dass das große Deutschland dann ein solches Gewicht erreichen würde, das die anderen europäischen Staaten dominieren würde. Ich habe das damals auch aufgegriffen und habe gesagt: Wir müssen das deswegen, dieses vereinigte Deutschland stärker in Europa einbinden, damit dieses Gewicht nicht mehr so spürbar wird. Aber das ist ja nicht gelungen. Dann hätte man mehr machen müssen, als nur ein gemeinsames Geld einzuführen. Und deshalb haben wir jetzt die Probleme. Also wenn Sie so wollen, sind alle Überlegungen, dass die deutsche Vereinigung, wenn sie dann so vonstattengeht, wie sie vonstattengegangen ist mit all den ökonomischen, steuerpolitischen, sozialen und so weiter Zusatzentscheidungen, dass sie ein Problem für Europa wird. Das sehen wir jetzt. Und jetzt zitiere ich mal jemand anderen, weil es könnte ja nur Selbstrechtfertigung sein, wenn ich das hier vortrage: Der Soziologe Beck, der kürzlich verstorben ist, sagte, Deutschland ist der Hegemon, also die Führungsmacht in Europa, Angela Merkel ist die Präsidentin Europas und das war nicht gewollt.
    Fassungslos über so viel außenpolitischen Unverstand
    Burchhardt: Wie finden Sie denn vor diesem Hintergrund die Ausladung oder eben auch die Nicht-Einladung Putins zu all diesen Runden, die ja eigentlich, sage ich jetzt mal so, sehr wichtig wären, um im Gespräch zu bleiben? Angela Merkel hat ja wohl noch Drähte zu Putin, aber die Frage ist – und Sie haben vorhin den Papst erwähnt, der hat schon vor einem möglichen Dritten Weltkrieg gewarnt, wenn es so weitergeht –, wie beurteilen Sie die Entwicklung?
    Lafontaine: Ja, ich bin natürlich besorgt über diese Entwicklung. Ich wundere mich aber auch über die Fehlentscheidungen, die bedenkenlos getroffen werden. Sie haben den Namen Angela Merkel genannt: Manchmal frage ich mich, ob sie wirklich die Außenpolitik versteht. Ich will das begründen. Sie sagt immer wieder: Das Denken in Einflusssphären dulden wir nicht mehr. Sie hat das schon mehrfach gesagt. Und dann stelle ich mir die Frage, ob sie überhaupt die Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt, denn etwa die Führungsmacht des Westens hat 1.000 Militärstationen in aller Welt, um ihren Einfluss in der Welt verbindlich auch militärisch abzusichern, und in einer solchen Welt sagt unsere Bundeskanzlerin, das Denken in Einflusssphären ist zu Ende, und sieht allein, was richtig ist, dass die Russen natürlich auch versuchen, ihre Einflusssphäre auszuweiten. Ich bin manchmal fassungslos über so viel außenpolitischen Unverstand.
    Die Bankentürme von Frankfurt am Main scheinen kurz nach Sonnenuntergang aus vielen kleinen Eurozeichen zu bestehen.
    Lafontaine: "Die Banken machen wieder gerade, was sie wollen, und die Politiker sitzen hilflos wie Marionetten davor." (picture alliance / Daniel Reinhardt)
    Burchhardt: Um zu Ihrer Domäne noch mal zurückzukommen – Angela Merkel hat auch gesagt: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Stimmen Sie dem zu?
    Lafontaine: Ich muss mich jetzt etwas mäßigen. Wir hatten ja ... die europäische Einigung ist ja aufgebaut worden, da gab es noch keinen Euro. Der Euro war ein technisches Instrument, er sollte eben die europäische Einigung befördern. Er hat das Gegenteil getan. Offensichtlich hat die Frau Merkel das bis zum heutigen Tage noch nicht gemerkt. Man kann nicht eine Währung haben und unterschiedliche politische Entscheidungen, Entwicklungen, steuerrechtlich, sozialer Art, insbesondere die Lohnentwicklung. Die Lohnentwicklung ist der Schlüssel. Es gibt ein ökonomisches Gesetz: Wenn die Lohnstückkosten, um es ganz präzise auszudrücken, in den Ländern auseinanderlaufen – das taten sie jetzt, seit der Euro eingeführt worden ist –, dann kann die eine Währung ein Problem nicht mehr lösen, das vorher der Wechselkurs gelöst hat. Wenn das Land, das eben wirtschaftlich so stark war, konnte also aufwerten seine Währung, und das Land, das schwach war, wie Griechenland, konnte abwerten. Das ist ja immer so geschehen. Diesen Ausgleichsmechanismus, diesen zum Überleben notwendigen Ausgleichsmechanismus hat man abgeschafft, hat wahrscheinlich auch gar nicht verstanden, wie notwendig das ist, und sitzt jetzt heute in der Falle.
    Burchhardt: Es war ja damals absehbar, es haben ja viele Leute davor gewarnt, dass man Staaten in den Euroverbund reinbringt, die eigentlich wirtschaftlich sehr unterschiedliches Niveau hatten. Die haben sich ja nicht erst seit Einführung des Euros so entwickelt, es war ja vorher schon so. Hätte man da nicht eigentlich warnen müssen und sagen müssen, Leute, das geht nicht, kehrt erst mal zurück zu eurem Kerneuropa und dann sehen wir weiter?
    Lafontaine: Ja, das wäre richtig gewesen. Solche Überlegungen gab es ja auch. Aber damals haben politische Überlegungen den Ausschlag gegeben. Manchmal ist ja dann auch in der Politik der Wunsch der Vater der Entscheidung, aber mit der Realität hat das dann wenig zu tun. Der Wunsch war ja sehr respektabel, wir wollen die Völker Europas näher zusammenbringen, aber da kann ich sagen: Beim Geld hört die Gemütlichkeit auf. Das ist ein deutsches Sprichwort, und das zeigt sich jetzt eben. Und die Kanzlerin weigert sich eben, einzusehen, dass sie – kommen wir noch mal zurück – mit ihrer Griechenlandpolitik gescheitert ist. Also sie weigert sich als Physikerin zu sagen: Ich habe jetzt fünf Jahre experimentiert, das Experiment hat meine Theorie widerlegt.
    Burchhardt: Neben der wirtschaftlichen gibt es natürlich auch die politische oder auch die historische Dimension bei solchen Fragen. Ich habe das selber damals in Brüssel mitgekriegt, als Spanien, Portugal und Griechenland – alle drei kamen aus Diktaturen – in die EU oder damals noch EG aufgenommen wurden, und man jubelte nicht nur in Brüssel, sondern sagte: Jetzt gehört ihr auch, was ja auch zu relativieren ist, zur europäischen, nämlich demokratischen Völkergemeinschaft. Welche Rolle spielt eigentlich dieser Aspekt heute noch? Es gibt ja nun gerade in Deutschland genug Leute, die sagen: Griechen raus aus dem Euro!
    Die Wall Street hat den Wahlkampf des Präsidenten finanziert, Punkt.
    Lafontaine: Ja, ich weiß nicht, ob sich das etwa auf die Geschichte Griechenlands bezieht oder so. Ich glaube, das bezieht sich eher darauf, dass die Leute ja immer hören: Wir müssen die Griechen bezahlen. Und dann ist ja auch Merkel der Versuchung nicht widerstanden, im Wahlkampf ein bisschen so zu sagen, diese faulen Südländer oder so was Ähnliches. Und darüber konnte man dann so schön verbergen, dass die ganzen Milliarden ja nicht in die Taschen der griechischen Rentner geflossen sind, sondern in die Taschen der deutschen und französischen Banken. Das heißt, das Ganze, was wir Griechenlandrettung nennen – auch die Medien versagen hier völlig an dieser Stelle, ich sage das hier so ...
    Burchhardt: Vielen Dank!
    Lafontaine: ... Sie müssen das jetzt natürlich sofort mit Abscheu zurückweisen -, das ist keine Griechenlandrettung, das ist einzig eine Bankenrettung. Da kommen wir zum nächsten Problem, das mich eben beschäftigt hat, spätestens seit ich deutscher Finanzminister war: Die Ordnung der Finanzmärkte, die ist bis zum heutigen Tage nicht gelöst. Die Banken machen wieder gerade, was sie wollen, und die Politiker sitzen hilflos wie Marionetten davor.
    Burchhardt: War das denn damals auch ein Grund für Sie 1999, die Brocken hinzuwerfen ...
    Lafontaine: Ja.
    Burchhardt: ... und zu sagen: Auf mich hört ja keiner, dann macht euren Dreck alleine?
    Lafontaine: Ja. Ich habe es natürlich viel vornehmer formuliert, und ich muss auch zunächst mal mir selbst vorwerfen, dass ich mit meiner Absicht, die Finanzmärkte zu regulieren, etwas damals wollte, von dem ich hätte erkennen müssen: Die Umwelt ist gar nicht so da. Ich will Ihnen zwei Dinge erzählen. Einmal: Ich saß also dem damaligen Staatssekretär Larry Summers, der war später Finanzminister, gegenüber und trug meine Überlegungen zur Regulierung der Finanzmärkte vor, und er sagte dann – du glaubst doch nicht, dass wir das machen? Ich guckte etwas überrascht. Ja, warum, sagte ich, und er sagte – und so sind Amerikaner ja manchmal: Die Wall Street hat den Wahlkampf des Präsidenten finanziert, Punkt. So, in diesem Satz ist ja praktisch die Wirklichkeit der heutigen Welt widergespiegelt. Also deshalb sagt zum Beispiel der Schweizer Jean Ziegler: Da saßen nicht die Lenker der Welt zusammen, sondern da saßen Befehlsempfänger der Banken und Konzerne zusammen auf diesem Gipfel.
    Burchhardt: Das hat er jetzt gesagt, ja.
    Lafontaine: Ja. Also das war das eine. Das andere war, die Tragweite habe ich damals auch in vollem Umfang nicht gesehen, dass gerade zu dem Zeitpunkt auch das Gesetz geändert worden ist, das früher in den USA vorsah, dass das Investmentbanking – ist auch ein großes Lügenwort, die ganze Politik ist ja durchdrungen von Lügenwörtern –, also das Spielcasino, dass das Spielcasino getrennt war von dem ordentlichen Bankgeschäft. Das hat die Regierung Clinton aufgehoben – mit fatalen Folgen für die ganze Weltwirtschaft. Das war, wenn man so will, eine ganz, ganz wichtige Entscheidung zulasten der gesamten Weltwirtschaft. Denn jetzt können alle Banken bis eben dann auch zu den Deppen in den deutschen Landesbanken, sie könnten hingehen und könnten also unsinnige Papiere kaufen und damit im Casino spielen.
    Burchhardt: Ja, aber war das nicht der Status, dass man aus den Landesbanken Universalbanken gemacht hat? Und das ist auch wieder in ihrer Zeit geschehen beziehungsweise geduldet worden. Ist das nicht eines der Kernprobleme dann?
    Lafontaine: Ich habe es nicht geduldet. Es war eben zu einer Zeit, als ich nicht mehr politisch entscheiden konnte. Es war dann später, einige Jahre später, dass in Brüssel – das werden sie ja dann als Korrespondent erlebt haben – dieser Rechtsstatus der Sparkassen und Banken verändert worden ist mit den Folgen, die wir jetzt besprochen haben. Ich hätte mich auf jeden Fall, hätte, hätte, hätte, hätte mich dagegen gestellt, denn sonst wären meine Forderungen nach Regulierung der Finanzmärkte ja völlig unbegründet gewesen.
    Der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine spricht am Montag (30.08.2004) auf der Abschlusskundgebung der Leipziger Montagsdemonstration auf dem Augustusplatz in Leipzig. Mehrere tausend Menschen nahmen an der vierten Demonstration in Folge gegen die geplanten Einschnitte im Sozialsystem durch die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung teil.
    Lafontaine auf der Abschlusskundgebung der Leipziger Montagsdemonstration gegen Hartz IV am 30.08.2004 (picture alliance / dpa / Bernd Settnik)
    "Die SPD ist aus ihrem Programm ausgetreten. Ich bin im SPD-Programm geblieben. Ich glaube noch, was im Godesberger Programm steht."
    Zäsuren: Rücktritt, Austritt, Eintritt - Lafontaine und die Linke als neue Heimat
    Burchhardt: Als Sie 1999 die Brocken hingeworfen haben, ganz überraschend muss man sagen, fragte sich die Welt, auch die Medien: Warum? Ja, das fragt man sich eigentlich bis heute. Können Sie das erklären? Haben Sie sich vielleicht auch selber einmal gefragt: War das richtig? Hätte ich da nicht doch weitermachen können?
    Lafontaine: Das sind ja zwei Fragen jetzt. Zum Beispiel warum, wir haben jetzt gerade über die Regulierung der Finanzmärkte gesprochen: Das ist ja ein Schlüssel für diese Antwort. Ich hätte niemals ein Finanzministerium übernommen, weil ich ja das Machtspiel doch in Bonn einigermaßen überblickte, wenn ich nicht der Meinung gewesen wäre: Das ist eine Aufgabe, die ist so wichtig, da muss man schon mit der ganzen Person dahinterstehen. Und ich habe eben gesagt: Das mache ich.
    Burchhardt: Wusste Schröder das, Ihre Haltung?
    Lafontaine: Nein, der kannte das Problem ja gar nicht. Also ich habe mich aber selbst völlig übernommen, denn ich hätte sehen müssen: Wenn du da als deutscher Finanzminister den Finger hebst und sagst, und gegen den ganzen Rest anläufst – das wird also keinen Erfolg haben. Aber das war zum Beispiel ein Grund, zu sagen, ... wenn man dann erfährt, dass eben die eigene Regierung das überhaupt nicht unterstützt. Das ist der eine Punkt. Aber der andere Punkt war natürlich auch, dass ich gesehen habe: Der Kriegseintritt, den wir ausgeschlossen hatten, steht bevor. Das war ein weiterer Punkt. Und der dritte Punkt war eben, dass ein Kernvertrag zwischen Schröder und mir von Anfang an nicht hielt, der hieß: Die wichtigen Entscheidungen treffen wir gemeinsam. Das war, wenn man so will, die Absprache unter Freunden. Und da musste ich abwägen: Kann ich das noch ändern? Und dann habe ich dann eben so entschieden, wie Sie es gesagt haben, sicherlich auch eben in einem Anfall von Zorn, weil ich gesagt habe: Also das ist ja doch eine sehr, sehr traurige Entwicklung, dass man gemeinsam einen großen Erfolg errungen hat und dass der jetzt so verspielt wird. Aus meiner Sicht bis zum heutigen Tag ist der ja verspielt worden, denn die rot-grüne Koalition hat Sozialgesetze verabschiedet, die ich also alle, wenn es ginge, durch Knopfdruck sofort rückgängig machen würde. Auf der anderen Seite habe ich mir natürlich oft die Frage gestellt: Hätte ich nicht zumindest Parteivorsitzender bleiben sollen und hätte den Kampf aufnehmen sollen? Nur das sind die Hätte-hätte-Fragen, die heute nicht mehr weiterführen.
    Burchhardt: Fahrradkette, hat mal jemand dazu gesagt. Sie haben sich dann Zeit gelassen, ehe Sie dann auch die SPD verlassen haben, genau genommen sechs Jahre, und sind dann zunächst in die WASG gegangen und dann in die Linke. Was bedeutet dieser Wechsel für Sie? Man hat ja noch das Bild vor Augen, wie Sie nach Ihrem Rücktritt 1999 mit Ihrem Sohn am Gartenzaun in, ich glaube, Saarbrücken war das oder in der Nähe von Saarbrücken sind und sagen: Jetzt mache ich auf privat. Das hat Ihnen, mit Verlaub gesagt, niemand abgenommen, und so kam es dann ja auch. Aber was hat Sie dann bewogen, zu sagen: Die Linke ist für mich die Alternative?
    Die SPD zwingen, wieder sozialer zu werden
    Lafontaine: Ja, ich habe nicht für möglich gehalten, dass die deutsche Sozialdemokratie, die ja ein Teil meines politischen Lebens ja nun ausmacht, dass sie bereit wäre, in diesem Umfang Sozialabbau zu betreiben. Jetzt zitiere ich wieder jemand anderen, damit es nicht als Selbstrechtfertigung klingt: Die "Frankfurter Allgemeine" überschrieb die Hartz-Reformen und Agenda: "Größter Sozialabbau nach dem Kriege". Also dass die deutsche Sozialdemokratie verantwortlich ist für den größten Sozialabbau nach dem Kriege, das war für mich unvorstellbar, denn das ist ja ... Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Und das ging ja immer weiter, da hat sich leider bis zum heutigen Tage wenig geändert. Die Führung der deutschen Sozialdemokratie ist immer noch der Meinung, dass das alles richtig war und man diesen Weg weitergehen muss, er ist ja jetzt auf europäische Ebene übertragen worden. Und in der Zeit habe ich dann mir die Frage gestellt: Was kannst du denn machen? Was kann man überhaupt machen? Und so kam die Idee der Gründung einer neuen Partei, wobei ich wusste: Das ist sehr schwer, eine neue Partei zu gründen und man muss vielleicht eine Struktur haben, auf der man aufbauen kann. So kam die PDS mit ins Spiel. Und dann haben wir diese neue Partei gegründet, die das Ziel hatte, die SPD zu zwingen, wieder sozialer zu werden. Und das ist leider nicht gelungen.
    Burchhardt: Welchen Einfluss hat damals die Verbindung des Saarländers Erich Honecker zum Saarland – man sagt ja, es gab damals eine Menge an Aufträgen aus der DDR – für Ihre Politik im Saarland, welchen Einfluss hat das gespielt für Sie, dass man sagt, die PDS oder dann später auch eben die Linke muss eigentlich auch im Osten reformierbar sein?
    Lafontaine: Das hat mit Honecker wenig zu tun, weil Honecker ...
    Burchhardt: Aber Sie hatten einige Erfahrung.
    "Dezentralisierung der Macht ist eines der Grundprinzipien der Demokratie"
    Lafontaine: Ja. Honecker war für mich zunächst mal ein Ansprechpartner, wie für alle Ministerpräsidenten der Länder, um deutsch-deutsche Politik zu machen, vor allen Dingen für das eigene Land auch wirtschaftliche Verträge abzuschließen. Und da war ich natürlich im Vorteil, weil Honecker Saarländer war. Wir haben uns dann nachher geduzt. Er war also immer etwas emotional, angesprochen, wenn ein junger Mann aus seinem Land kam. Also das war eine bestimmte Schiene, die ich natürlich im Interesse des Saarlandes genutzt hatte. Ich kam mit ihm auch so gut zurecht, wenn ich auch nicht versäumt habe, ihn zu kritisieren, natürlich in gebotener Form. Aber ich will eines der ganz wichtigen Gespräche mal in unserem heutigen Gespräch wiederholen. Es ging um Demokratie, und er sagte mir, wieso ich glaube, dass in unserer westlichen Welt eben das besser sei als bei ihnen. Dann sage ich: Ich will dir das ganz einfach erklären. Wer bei dir in der DDR verschissen hat, der hat keine einzige Chance mehr, denn er ist eben überall von der Partei ausgegrenzt und so weiter, er hat kaum noch eine Chance, etwa in einem Betrieb oder so wieder nach oben zu kommen. In der westlichen Gesellschaft habe ich gesagt, gibt es tausende von Politbüros, und das ist der große Vorteil. Wer etwa bei Mercedes rausfliegt, kann zu Opel gehen, wenn er da rausfliegt, kann er zu VW gehen – und so weiter, und so weiter. Und deshalb ist die Dezentralisierung der Macht, habe ich dem Generalsekretär der SED gesagt, eines der Grundprinzipien der Demokratie.
    Burchhardt: Da war er bestimmt sehr begeistert.
    Lafontaine: Nein, er guckte etwas irritiert. Aber er war damals zumindest nicht in der Lage, das Argument so ohne Weiteres zu entkräften.
    Burchhardt: Wie sehen Sie es heute, Stichwort Dezentralisierung? Die Linke hat ja immer noch Probleme damit, nicht nur, dass Sie jetzt mehr oder weniger auch sich in den Ruhestand verabschieden wollen, sondern dass prinzipiell es noch einen tiefen Graben zwischen Linke Ost und Linke West gibt. Ist der unüberbrückbar? Wird der jetzt, wenn der Fraktionsvorsitz wechselt, ... Herr Gysi hat ja gerade seinen Abschied angekündigt, dass also Ihre Gattin Frau Wagenknecht und Dietmar Bartsch dann die Fraktion führen. Gibt das mehr Konflikte oder gibt das mehr Reunion?
    Lafontaine: Die unterschiedlichen Erfahrungen haben sich natürlich sehr deutlich bemerkbar gemacht, auch die unterschiedlichen politischen Sozialisationen, um das mal so zu sagen. Die PDS kam ja aus der SED, es sind dann im Laufe der Jahre auch viele dazugekommen, die nicht in der SED waren, etwa die heutige Parteivorsitzende Kipping, die war viel zu jung, um in der SED gewesen zu sein, und so sind es viele andere. Aber es gab eben ein Funktionärskader, der eben noch in der SED ...
    Burchhardt: ... der Hardliner, oder?
    Lafontaine: ... groß geworden ist und der sich eigentlich als Staatspartei verstanden hat. Auf der anderen Seite waren dann die westlichen ehemaligen Gewerkschafter, versprengten Linken, enttäuschten Sozialdemokraten, ehemaligen DKPler und so, wer da alles zusammenkam, die sich überhaupt nicht als Staatspartei verstanden haben, sondern die eben die Erfahrung in der Opposition hatte. Und das merkte man am Anfang natürlich sehr stark und merkt es bis zum heutigen Tage, aber, und das ist ja der Kern Ihrer Frage, man merkte auch: Jetzt in den letzten zehn Jahren hat sich das natürlich abgebaut und das wird sich weiter abbauen. Und das muss die Linke natürlich verstehen: Sie hat nur eine dauerhafte Chance, ihre Aufgabe zu erfüllen, wenn sie auch noch mehr westlich wird, also wenn das Übergewicht der östlichen Landesverbände weiter abgebaut wird, was ja derzeit im Gange ist, und, ganz entscheidend: Sie darf nicht auch noch Mitglied der Einheitspartei werden. Ich habe von ... Gore Vidal, das ist also ein Mitglied der Gore-Familie, ein Schriftsteller, der verstorben ist, der hat gesagt: In Amerika haben wir eine Einheitspartei mit zwei Flügeln. Ich habe mal gesagt: Wir haben in Deutschland eine Einheitspartei mit vier Flügeln, FDP, CDU, Grüne und SPD sind alle für Hartz IV, alle für Agenda 2010, alle für den europäischen Knebelvertrag, alle für Interventionskriege. Und die Linke darf nicht zu einem Mitglied dieser Einheitspartei werden, sonst ist sie überflüssig. Und das ist das große Problem, wenn es um sogenannte Koalitionsdiskussionen geht.
    "Die Linke darf nicht zu einem Mitglied dieser Einheitspartei werden"
    Burchhardt: Würden Sie denn Katja Kipping zustimmen, die gesagt hat: Seit dem letzten Wochenende und der Erklärung der Sozialdemokratie sieht sie überhaupt nicht eine Vereinigung oder eine gemeinsame Beteiligung an einer rot-rot-grünen Regierung etwa als Beispiel?
    Lafontaine: Ja, ich glaube, der Schlüssel liegt nicht bei der Linken. Der Schlüssel liegt bei der Sozialdemokratie. Der Sozialdemokrat Stegner hat in einem Interview vor ein paar Tagen gesagt: Wir brauchen gar nicht anzufangen, wenn wir nicht über 30 Prozent kommen. Da hat er völlig recht. Ich freue mich ja, wenn minimale Einsichten wieder da sind. Aber auf der anderen Seite geht es ja um politische Inhalte. Und nun will ich Ihnen mal etwas Unwiderlegbares sagen: In einer Ära, in der das Vermögen so weit auseinandergedriftet ist, die Ungleichheit so weit auseinandergedriftet ist wie niemals zuvor – der Unterschied zwischen dem Sonnenkönig und dem Bettler war viel geringer als heute der Unterschied etwa zwischen den Niedriglöhnern und den Multimilliardären –, in einer solchen Zeit sagt sich ein Mann, der SPD-Vorsitzender sich nennt, der sagt, die Vermögenssteuer ist aus – ja, wo soll denn eine Grundlage für eine sozialdemokratische Politik sein?
    Burchhardt: Wobei Sie wissen, dass die Vermögenssteuer Ländersache ist?
    Lafontaine: Ja, aber einführen kann sie zunächst mal der Bund, der Bundesrat muss zustimmen, aber die Länder können sie nicht einführen. Also ich will nur sagen, er sagt, die Vermögenssteuer ist zu Ende, und da muss ich sagen: Da bin ich nur noch fassungslos. Und da ja unser Gespräch sicherlich immer wieder auch die Frage streift, ja, warum sind Sie aus der SPD ausgetreten: Ich kann das einfach mal beantworten. Ich bin das sehr oft gefragt worden. Die SPD ist aus ihrem Programm ausgetreten und ich bin im SPD-Programm geblieben. Ich glaube noch, was im Godesberger Programm steht, erstens, dass Krieg kein Mittel der Politik ist, und zweitens, dass es Aufgabe der Sozialdemokratie ist, die sozialen Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Ich werde aus diesem ursozialdemokratischen Programm auch nicht austreten, da kann die SPD machen, was sie will.
    Burchhardt: Herr Lafontaine, zum Ende unseres Gespräches will ich jemanden zitieren, der mal gesagt hat oder die gesagt hat – es ist ja ein allfälliger Spruch: Das Politische ist privat, das Private ist politisch. Sie gehören wahrscheinlich auch zu der Masse von Menschen, Politikern, die sagen: Nein, zu Hause werden wir nicht über Politik reden, da haben wir private Sachen. Das glaubt natürlich auch niemand. Also die andere Frage oder dieselbe Frage, die Sie ...
    Lafontaine: Nein, das würde ich auch nie sagen. Sahra Wagenknecht und ich, wenn wir uns zu Hause unterhalten, reden wir selbstverständlich über Politik, aber nicht nur.
    Burchhardt: Welch ein Geständnis!
    Lafontaine: Sonst wäre das ja ein armseliges Verhältnis.
    Burchhardt: Maggie Thatcher hat ja, als sie zurücktrat und John Major kam als Prime Minister in Großbritannien, gesagt, sie sei nicht weg vom Fenster, sie habe jetzt eine Rolle als Back Seat Driver. Sehen Sie sich auch so, dass Sie vom Rücksitz gewissermaßen mit die politische Agenda bestimmen?
    Rückzug ist ein langsamer Prozess
    Lafontaine: Nein. Ich versuche, noch etwas mitzumachen, ich nehme Anfragen etwa für Talkshows noch an oder zu Radiosendungen, oder ich halte auch mal einen Vortrag und so weiter, und ich führe noch die Fraktion der Linken, aber es ist ja eine kleine Fraktion im saarländischen Landtag. Aber ich weiß eben, dass das eine ... Das ist ja auch besser: Ich habe eine viel geringere Belastung als zu den Zeiten, in denen ich eben, wenn man so will, rund um die Uhr beschäftigt war. Das ist alles nicht mehr. Insofern muss ich nicht unbedingt mich noch wichtig machen, ich sitze aber hinten und sage denen noch, wie sie fahren sollen – dann muss man ja wissen: Die würden sowieso nicht auf den da hinten hören. Die sind ja froh, dass sie selber mal am Steuer sitzen.
    Burchhardt: Aber Gregor Gysi geht jetzt. Kommen Sie noch wieder?
    Lafontaine: Gregor Gysi hat jetzt mal erklärt, dass er demnächst seinen Vorsitz niederlegt. Aber bei ihm wird das eine ähnliche Entwicklung nehmen, wie es sie bei mir genommen hat, dass das ein langsamer Prozess ist, dass man natürlich sich langsam zurückzieht. Das geht nicht von heute auf morgen. Das wäre auch jetzt eben wieder geheuchelt. Aber man zieht sich doch langsam zurück. Ich habe das getan und das wird ihm genauso ergehen, schätze ich mal.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.