"Die Suppe bestand aus etwas Roggengrütze und zur Feier des Tages wurden drei Kartoffeln hineingerieben, der höchste Trick zur Verdickung einer Wassersuppe. Etwas Paprika und gedörrter Porree gaben Farbe und Geschmack. Der zweite Gang: Babka aus Kartoffelschalen. Das ist schon was Besonderes."
"Der Chronist hat Geburtstag" heißt der Artikel, den Oskar Singer am 24. Februar 1944 für die Chronik des Ghettos Lodz verfasst. Dort hat die SS Zehntausende Menschen unter unwürdigsten Bedingungen eingesperrt; Hunger, Verzweiflung und Tod sind allgegenwärtig. Im Gegensatz zum Ghetto von Warschau ist das von Lodz vollkommen von der Außenwelt abgeriegelt. Oskar Singer, deutschsprachiger Journalist aus Prag, wird an diesem Tag 51 Jahre alt.
"Man muss sich das wirklich so vorstellen, dass Tag für Tag eine Redaktion einen solchen Chronikeintrag verfasst hat." Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur an der Universität Gießen: "Es ist eigentlich eine Tageszeitung, aber ohne Leser. Denn im Ghetto war das geheim. Und die Redakteure, die Chronisten, haben ihre Chronik konsequent auf Leser der Zukunft ausgerichtet."
Chronik wird noch journalistischer
1941 hatten mehrere Mitarbeiter des Archivs der jüdischen Ghetto-Verwaltung begonnen, ohne Wissen der Deutschen eine tägliche Chronik zu verfassen. Anfänglich vor allem auf Polnisch, doch der Tod durch Hunger und Krankheit macht natürlich auch vor dem Archiv nicht halt.
"Ab 43 ist das eine rein deutsche Unternehmung. Den deutschen Teil gestalten vor allen Dingen Dr. Oskar Singer aus Prag und Dr. Oskar Rosenfeld aus Wien, beide sehr, sehr erfahrene Journalisten, die diese Chronik auch nochmal journalistischer machen, auch feuilletonistischer machen. Sie führen Rubriken ein wie ‚Man hört - man spricht‘, das sind dann Gerüchte, die aufgezeichnet werden. Dann den ‚Kleinen Ghetto-Spiegel‘, das sind eigentlich literarische Miniaturen, wo man versucht zu erklären, was es bedeutet, in diesem Ghetto zu sein. Dann machen sie eine Rubrik für Ghetto-Humor, etwas, das man gar nicht meint, dass es existiert, das tat es aber doch."
Konsequent Zeitung gemacht
Oskar Singer hat in seinem Leben vor der Deportation ins Ghetto für verschiedene Prager Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, wie das "Prager Tagblatt", den "Prager Montag", um nach der Besetzung der Stadt durch die Deutschen das "Jüdische Nachrichtenblatt" zu verantworten. Früh ein hellsichtiger Nazigegner gewesen, muss er dort mit Adolf Eichmann zusammenarbeiten.
Oskar Rosenfeld aus Wien wiederum kommt aus der zionistischen Publizistik. Er hat sein Handwerk bei Theodor Herzl, dem Gründer des Zionismus, gelernt, hat u.a. bei der "Wiener Morgenzeitung" und der Zeitschrift "Die neue Welt" gearbeitet, aber auch für den "Jewish Telegraph" in London, sogar als Korrespondent in Budapest. Ein auch international erfahrener Journalist also.
"Und das Spannende ist wirklich, dass sie konsequent eine Zeitung machen, die es uns erlaubt, heute auch den Kenntnisstand der Chronisten zum jeweiligen Zeitpunkt nachzuvollziehen. Das bedeutet, wenn sie sich irren, wenn sie neue Informationen bekommen, dann wird nicht der alte Chronikeintrag überarbeitet, sondern in dem neuen wird geschrieben: Unsere gestrige Meldung bezüglich dieses oder jenes Sachverhaltes ist nicht richtig, wir korrigieren das. Das heißt, Sie haben eine Dynamik in diesem Text, die wirklich, was solche Dokumente angeht, einmalig ist. Und wir haben wirklich das Gefühl, wir können diesen Menschen zuschauen."
Hoffnung nach Nazi-Finte
Aus der Chronik: "Frohe Nachricht fürs Getto. Postkarten aus Leipzig. Von Personen [,] die im Zuge der letzten Aussiedlung zur Arbeit außerhalb des Gettos abgereist sind, sind heute die ersten Nachrichten im Getto eingetroffen. Es kamen 31 Postkarten, die durchwegs den Poststempel vom 19. Juli 1944 tragen. Aus diesen Karten geht erfreulicherweise hervor, dass es den Leuten gut geht und hauptsächlich, dass die Familien beisammen sind."
Sascha Feuchert; "Das Problem ist, dass diese Karten gefälscht waren. Die Nazis hatten gespürt, dass es Unruhe gibt in der Bevölkerung und haben dort zu einem dieser Tricks gegriffen, haben also in großer Anzahl Postkarten im Ghetto zirkulieren lassen, die entweder vordatiert waren oder man hat Menschen gezwungen, sie zu schreiben, und sie waren einfach eine Fälschung. Und das greift mich schon sehr an, wenn ich sehe, wie plötzlich dieser sehr nüchterne Singer dann doch noch einmal Hoffnung schöpft."
Unterschied zwischen privatem und professionellem Schreiben
Sowohl von Singer als auch von Rosenfeld sind zudem private Aufzeichnungen aus dem Ghetto überliefert. Texte, anhand derer man erkennt, wie sehr sie sich beim Verfassen ihrer Chronik journalistisch professionell verhalten haben, meint der Germanist Sascha Feuchert:
"1942 gab es diese Deportationen, und es kommen irgendwann relativ klare Gerüchte zurück ins Ghetto, was da passiert. Und Rosenfeld bekommt diese Gerüchte mit und ist vollkommen schockiert. Und in seinem Tagebuch ist er eigentlich nur noch in der Lage, zu stammeln und zu stottern. Er schreibt keine kohärenten Sätze mehr. Offenbar ist er nur noch in der Lage, kohärent und zusammenhängend zu schreiben in seiner offiziellen Funktion als Journalist, als Ghetto-Journalist, privat kann er das nicht mehr, weil ihn das so unglaublich mitnimmt."
"Der gewissenhafte Publizist lässt sich vom Sturme der Gefühle nicht mitreißen", schreibt Oskar Singer in einer Privatnotiz. Doch dem Sturm, den der Vernichtungswille der Nazis entfachte, können weder er noch Oskar Rosenfeld entkommen. Rosenfeld stirbt in Auschwitz, Singer wird bis ins bayerische KZ Kaufering verschleppt, wo er vermutlich auf einem Hungermarsch ums Leben kommt.
Dieser Artikel ist Teil unserer Reihe über "Vergessene Journalistinnen und Journalisten der Weimarer Zeit".