Michael Köhler: Der Philosoph und Remigrant Theodor W. Adorno begann 1945 ein Buch zu schreiben, das 1950 erschien und sich mit dem "autoritären Charakter" befasste. Autoritätshörigkeit, Unterwürfigkeit, starre Konventionen , Zynismus und vieles anderes beschrieben darin den faschistischen Charakter. Im Gespräch mit der Schriftstellerin Ines Geipel geht es nun um das Fortwirken des autoritären Charakters im Nachwende-Deutschland. Ines Geipel hat gerade einen neuen Roman veröffentlicht. Er heißt "Tochter des Diktators" und befasst sich mit der Adoptivtochter von Walter Ulbricht und dem Einbruch autoritärer Strukturen in menschliche Seelen.
Sachsens Ministerpräsident Tillich hat gerade seinen Rückzug angekündigt, nicht weil die sächsische CDU in der letzten Bundestagswahl so erfolgreich war, sondern auch, weil er viel Stimmen an die AfD verloren hat. Die Rede von den ostdeutschen "Abgehängten", den Modernisierungsverlierern, die stimmte nie, oder?
Ines Geipel: Sie stimmte nie. Allerdings gehört zu der Geschichte des Ostens, dass es nach '89 einen sehr rabiaten Umbruch gegeben hat. Jetzt scheint es mir aber mittlerweile so eine Ersatzdiskussion geworden zu sein. Wir haben viel zu wenig angeschaut, die 50-jährige Diktaturgeschichte des Ostens und darin auch die Opfer- und Tätergeschichten. Wenn der Osten über seine Opfer nicht spricht, gibt es auch keine Täter mehr, und dann gibt es wieder einen Ausgleich - und das war ja die Geschichte nach '89 - zwischen Ost und West. Möglichst sollte es wenig Differenz geben zwischen den Systemen und im größeren Bogen ist das natürlich auch eine Erzählung, wie Ost und West 27 Jahre lang mit dieser sehr langen und brachialen Diktaturerfahrung des Ostens umgegangen ist.
Köhler: Was ist an diesen Geschichten, die wir bisher kennen, unerzählt?
Geipel: Die Härtesubstanz des Ostens ist unerzählt. Die Akkuratesse der Brutalität, wie sie in den Leben eingeschlagen haben, wie sie transgenerationell weitergegeben werden. Und da nützt die Ironie nichts, da nützt der Sarkasmus nichts, und ich glaube, dass da eine Generation von Schriftstellern, die nach '45 gearbeitet hat, ein gutes Modell für uns wäre. Ich denke an Bachmann, die diese Schadensbilanz in den Seelen, diese Seelenverhärtung sehr ernst genommen haben und sehr nahe an den Menschen und in die Menschen versucht haben, auch ein Stück weit hineinzuschreiben, für sie zu schreiben. Gerade wenn wir jetzt Böll mit seinen 100 Jahren vor Augen haben, dann ist er ja derjenige, der ganz nahe versucht hat, dieses tiefe Loch in den Seelen anzuschauen und es mit Sprache auch ein Stück weit zu heben. Ich glaube, da sind diese Stimmen immer noch wichtig.
Nachgeschichte des autoritären Denkens
Köhler: Ich liebe die Rede von hässlichen Deutschen und von Dunkeldeutschland wahrscheinlich genauso wenig wie Sie. Was ist - ich benutze Ihre Worte - aus den Fackelträgern und Glückskindern geworden?
Geipel: Zumindest ist die Bilanz hoch ambivalent. Es gibt sicherlich viele aus der Babyboomer-Generation Ost, die im neuen System angekommen sind, auch bei den Einheitskindern. Aber es gibt mindestens genauso viele - und da würde ich schon den Begriff "autoritäres Denken" bringen. Autoritärer Charakter ja, aber was uns ja jetzt in Sachen AfD, aber eben auch bei den Linken sehr in Atem hält, ist der Nachklapp, die Nachgeschichte des autoritären Denkens und damit natürlich auch Radikalisierungen, die uns - ich glaube, das ist allen klar - noch ziemlich beschäftigen werden.
Köhler: Irgendwo ist mir in Erinnerung geblieben, dass Sie gegen Ende eines größeren Beitrags für die "Welt am Sonntag" geschrieben haben, erinnerungspolitisch sei der Osten ungefähr im Jahr 1972.
Geipel: Ja! Wenn man die Messlatte 1945 anlegt und damit den Zusammenbruch einer Diktatur in Deutschland, dann würde das von der Zeitschiene her dort doch stimmen. Natürlich setzt sich das anders zusammen und natürlich bin ich absolut die Verfechterin dafür, dass beide Diktatursysteme je eigene Vokabulare brauchen, und das ist ja auch die Arbeit, denke ich, derer, die mit Sprache umgehen, dass wir dort noch einen richtig schweren Weg zu gehen haben.
Köhler: Sie haben eben beiläufig ein wichtiges Wort fallen lassen, was in Ihrer Arbeit und in Ihrer Beobachtung und Wahrnehmung wichtig ist. Sie haben vom Transgenerationellen gesprochen, der Weitergabe. Sie haben irgendwo mal die Formulierung gewählt, wir haben es mit Kriegskind-Eltern und Mauer-Paralyse zu tun. Was heißt das und wie wirkt sich das aus?
Geipel: Na ja. Zumindest ist die Kriegskinder-Generation ja diejenige, die das DDR-System aufgebaut haben, aufgebaut hat. Ich denke da natürlich auch an meine Eltern und an ihre Irrwege im System selber, an ihre Belastungen, und darunter lag natürlich immer auch die Belastung des Nationalsozialismus und der Holocaust, der im Osten ja nach gerade wie auf Eis liegt. Ich glaube, die Schlüsselerzählung des Ostens könnte sein, wir kommen, was die politische Landschaft ist, möglicherweise ein Stück weit näher, wenn wir es schaffen, die Opfer des Holocaust wirklich in der Krypta des Ostens tatsächlich zu bergen und diese Leben und diese Geschichten mit Empathie anzuschauen. Mir scheint es, dass es für den Osten - und das hat mit diesem roten Antifaschismus sehr zu tun - wie ein Problem der Rollen-Trance gibt.
Das ist eine Frage nach der Identitätsgeschichte des Ostens. Ich glaube, dass hier tatsächlich viel möglich wäre mit einer echten Demokratiebildung, mit richtigen Basisinformationen in den Schulen, in den Bildungseinrichtungen, in der politischen Bildung. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass es so was wie eine "Zukunftswerkstatt Ost" geben könnte, möglicherweise angehängt bei der Ostbeauftragten, oder die Bundesregierung nimmt das ernst, wo kluge Leute, die sich mit dem Osten viel beschäftigt haben, wirklich mal in die Zukunft projektieren, was soll da passieren. Denn wir können diese Gewaltgeschichte, die da läuft und die ja signifikant ist, nicht weiter verlängern. Wir müssen das, glaube ich, in einer anderen Weise ernst nehmen, und hier geht es wirklich auch um Schadensbegrenzung.
Der verleugnete Osten
Köhler: Das haben Sie ja auch deutlich gesagt. Es geht um eine Gewaltgeschichte und, damit zusammenhängend, auch um deren Verleugnung.
Geipel: Absolut! Unser Thema ist der verleugnete Osten, die verleugnete Diktaturerfahrung und die Frage, wie autoritäres Denken über so lange Zeit einen Schredder-Kosmos ergibt, wo wir uns ja wirklich fragen müssen in den Argumenten, die da von Seiten der AfD jetzt kommen, oder Pegida, oder eben auch auf der linken Achse: Moment mal! Aber das ist ja Irrsinn!
Köhler: Dass die Linke erledigt ist und die AfD jetzt so groß, ist ja kein Zufall, dieser Zusammenhang.
Geipel: Nein, nein. Das sind die Amplituden, in denen wir vieles wegmoderiert haben, und ich glaube, es ist ein richtiger Moment, eine Aufarbeitung im Grunde der Aufarbeitung zu starten.
Köhler: Lassen Sie uns zum Schluss vielleicht noch mal vom Großen noch mal ins Kleine gucken, in die Familien und so weiter hinein. Es gibt auch so etwas: das Fortwirken eines, sagen wir altmodisch, Patriarchats.
Geipel: Absolut. Ich glaube, das ist dran, über das Patriarchats des Ostens zu sprechen, über das, was in den Familien über sehr, sehr lange Zeit geschehen ist. Klar: Als Schriftstellerin ist man ja in dem polyphonen Gespräch und nach jeder Veranstaltung kommen die Mütter aus den NVA-Familien, den Stasi-Familien und so weiter. Und als Vorsitzende der Doping-Opferhilfe, alleine was dort an Gewaltgeschichte zusammenkommt, an wirklich auch struktureller Gewalt, muss man, glaube ich, sehr genau sein zwischen struktureller Gewalt und Familiengewalt. Aber es nützt ja nichts: Ein privater Diktator ist ein privater Diktator und der hat eine lange Nachwirkung in den Folgegenerationen, und wir können uns nicht mehr darum schummeln.
Köhler: Die Kinder von gewalttätigen Vätern, die Kinder von alkoholsüchtigen Vätern, die Kinder von depressiven Vätern, die stecken das nicht ins Hemd, die stecken das nicht einfach so weg.
Sehnsucht nach Leitfiguren
Geipel: Ja! Und die Geschichte ist schon auch immer wieder neu, egal wo man sich befindet im Osten, die Frage nach dem guten Modell, also nach Personen, die glaubwürdig in einer Stadt ein Stück Bürgerkultur aufbauen können, nach Personen, die glaubwürdige Politik im Osten machen, ja! Und natürlich: Es ist die Sehnsucht nach Leitfiguren, die aber dieses Autoritäre nicht bedienen, sondern es ist ein Tabula rasa, im Osten nach wie vor, und es ist jetzt ein bisschen wie so eine schief gewachsene, sehr seltsam gewachsene, zusammengebaute Pflanze und die schlägt jetzt um sich und da braucht es miteinander viel Energien, um das ernsthaft zu korrigieren.
Köhler: Große Frage zum Schluss. Wie wird man den autoritären Charakter los?
Geipel: Man wird ihn los, dächte ich, mit Reflektion, mit Welt, die hereinkommt, die das Autoritäre ersetzt mit guten Büchern.
Köhler: Welt, die hereinkommt, ist schön. Sie haben irgendwo auch mal gesagt: "Es ist doch sonderbar, dass die Flüchtlingsgesellschaft DDR so flüchtlingsfeindlich ist"
Geipel: Ja, sie ist es. Sie ist es nach wie vor, ich glaube eher stärker denn weniger. Und natürlich wissen wir, das. Die Lebenshaut des Ostens hatte sich nach '89 nun gerade so ein bisschen wieder geformt, konsolidiert, und dann gab es mit 2015 diesen Schock im Grunde. Es war ja eine Aufkündigung, eine Schutzgeschichte des Sozialstaates. Das war es ja im Kern von Frau Merkel. Und da gab es jetzt diesen sehr vehementen Ausschlag. Ich glaube, in dem Moment, wo das andere Realität ist, da ist im Leben, werden auch die Ostdeutschen ein anderes Verhältnis dazu haben. Aber das wird nicht gehen, wenn man praktisch so lange schreit, bis jeder Fremde sich nicht mehr traut, an den Grenzen in irgendeiner Form überhaupt nur aufzuscheinen. Ich finde es vollkommen selbstverständlich und normal, dass wir anderes integrieren und diesen autoritären Kern endlich aufbrechen. Das ist mehr als dran.
Köhler: Ich habe so den Eindruck nach unserem Gespräch, da liegt noch ein neues Kapitel Aufarbeitungsgeschichte vor uns.
Geipel: Auf alle Fälle! Aber wie gesagt: Ich glaube, es ist nicht nur die Aufarbeitung im Osten, sondern dem Westen ist es schon gelungen, über lange Zeit sich den Schmerz des Ostens fremd zu halten, und insofern glaube ich, es braucht einen Neustart.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.