Nur zu sagen, der andere müsse mit Provokationen aufhören, sei absurd. Beide Seiten müssten deeskalieren und bereit zu Gesprächen sein, sagte Neu. Er kritisierte, in dieser Frage seien auch die Nato-Staaten bisher nicht sonderlich aktiv. Mit Blick auf das derzeit in Norwegen stattfindende NATO-Manöver betonte Neu, solche Übungen seien immer auch eine Machtdemonstration. Russland habe zuvor ähnliche Übungen abgehalten. Zwar wollten beide Seiten keinen Krieg, doch gebe es eine Vielzahl an Aufrüstungsmaßnahmen. Man könne eine permanente Verschlechterung der Beziehungen beobachten.
Das NATO-Manöver "Trident Juncture" ist das größte seit Ende des Kalten Krieges. Es soll noch bis nächste Woche dauern. Insgesamt nehmen daran rund 50.000 Soldaten teil. Russland beobachtet die Übung mit Argwohn.
Das Interview in voller Länge:
Jörg Münchenberg: Die NATO übt derzeit in Norwegen im großen Stil, rund 50.000 Soldaten aus 31 Ländern nehmen daran teil, darunter auch 8.000 Soldaten aus Deutschland. Trident Juncture heißt die Übung, es ist die größte der NATO seit dem Ende des Kalten Krieges, und sorgt damit natürlich auch für Misstrauen und Argwohn in Russland. Dass russische Außenministerium sprach gar von einer eindeutig antirussischen Machtdemonstration, was die NATO wiederum zurückweist. Doch die russische Antwort: Raketentests in internationalen Gewässern, aber unmittelbar in Nähe der NATO-Übung. Was ist dran an den russischen Vorwürfen in Richtung Westen? Am Telefon ist nun der Außenpolitiker der Linkspartei, Alexander Neu. Herr Neu, einen schönen guten Morgen!
Alexander S. Neu: Schönen guten Tag!
Münchenberg: Herr Neu, ist Trident Juncture also eine Machtdemonstration der NATO, die sich klar gegen Russland richtet?
Neu: Selbstverständlich sind alle Militärmanöver Machtdemonstrationen. Das ist neben des Übens der Fähigkeiten immer auch eine Demonstration der eigenen Fähigkeiten gegenüber einem potenziellen Gegner. Insofern ist die Unterstellung der russischen Seite nicht unrichtig. Auf der anderen Seite ist auch die russische Seite nicht unbedingt kleinlich, wenn es um Militärmanöver geht. Also beide Seiten nehmen sich da nicht sehr viel.
Münchenberg: Die NATO sagt, das Manöver richte sich gegen keinen bestimmten Angreifer, sie weist diesen Vorwurf ja klar zurück.
Neu: Das ist absurd. Natürlich ist der imaginäre Gegner die russische Föderation. Das ist völlig absurd zu sagen, es hätte keinen konkreten Gegner. Da ist natürlich die russische Seite im Recht, dass sie sagt, es richtet sich gegen uns, umgekehrt sind auch die Manöver, die die russische Seite macht, immer – also zum Beispiel Wostok oder Sapad – auch gegen die NATO gerichtet.
"Wir haben keine empirischen Belege"
Münchenberg: Sie haben dieses Manöver angesprochen, erst im September gab es ja ein solches russisches Großmanöver mit rund 300.000 Soldaten, das war das größte in der Geschichte Russlands. Da war ja auch schon der Eindruck hier im Westen, das wiederum sei eine eindeutige Machtdemonstration in jedem Fall in Richtung Westen.
Neu: Ja, ja, wie der Name schon sagt, Wostock, hat das im Osten Russlands stattgefunden, also in Sibirien und Fernost unter Beteiligung der Mongolei und ich glaube auch China. Das heißt, es wurde dort auch die Verlegefähigkeit getestet und geübt. Es war in meinen Augen beides eben viele Tausend Kilometer von der Westgrenze entfernt, war nicht unbedingt direkt eine Machtdemonstration gegen die NATO, aber indirekt schon.
Münchenberg: Es gab ja auch immer wieder Luftraumverletzungen, zum Beispiel im Baltikum. Auch das, muss man sagen, haben die Anrainerstaaten Russlands ja auch als gezielte Provokation verstanden.
Neu: Das habe ich auch gehört, dass es diese gegeben haben soll, die russische Föderation wiederum behauptet, dass es ähnliche Vorfälle auch seitens der NATO-Mitgliedsstaaten gegeben habe. Das Problem ist eben, dass man auch als Politiker den Angaben der russischen Seite, aber auch von NATO-Staaten einfach ausgeliefert ist, weil wir keine empirischen Belege haben. Wir sitzen nicht mit an Bord (unverständlich, Anm. d. Redaktion), wir können es nicht überprüfen. Wir sind genauso wie jeder Bürger in Deutschland den Aussagen, Propaganda der jeweiligen Seite ausgeliefert.
Münchenberg: Also Sie würden da schon sagen, das könnte auch Propaganda jetzt sein, zum Beispiel aus dem Baltikum, wenn es um diese Luftraumverletzung geht.
Neu: Es könnte auch Propaganda sein. Wir wissen ja, dass die baltischen Länder und Polen ein besonderes Verhältnis zu Russland pflegen, um es ironisch auszudrücken, das könnte auch sein, das will ich gar nicht ausschließen.
Münchenberg: Nun veranstaltet Moskau ja jetzt auch Raketentests unmittelbar in Nähe des NATO-Übungsgebietes da in Norwegen, also da gewinnt man ja schon den Eindruck, da lässt auch Moskau jetzt doch deutlich die Muskeln spielen.
Neu: Ja, selbstverständlich. Moskau will wiederum zeigen, dass sie in der Lage sind, einen eventuellen Angriff der NATO etwas entgegensetzen zu können. Das ist ein Muskelspiel, eine Eskalation, die wir absolut kritisieren. Wir sehen schon seit geraumer Zeit, ein Eskalationsspiel spätestens seit 2014, Eskalationsspiel auf beiden Seiten, an dessen Ende nichts Gutes stehen mag. Wir fordern von beiden Seiten eine Deeskalation. Die Begriffe von Entspannungspolitik, von gemeinsamer Sicherheit, also Begriffe, die auch unter Egon Bahr und Brandt eine konkrete Rolle in der deutschen Politik gespielt haben, spielen heutzutage leider überhaupt keine Rolle mehr. Das Vokabular als auch die Taten sind in eine Richtung, die wir uns alle im Endergebnis nicht wünschen möchten.
"Da sollten beide Seiten relativ zeitgleich in Gespräche treten"
Münchenberg: Nun ist ja trotzdem die Frage, wer muss da zuerst reagieren. Aus dem Westen heißt es ja schon, es sei vor allen Dingen Russland, das provoziere. Es gibt ja auch viele andere Fälle – versuchte Wahlkampfeinmischung im Westen jetzt zum Beispiel, dann eben diese Luftraumverletzungen –, wo Sie sagen, gut, wir wissen nicht, ob die wirklich stattgefunden haben, aber der Westen hat sich ja doch relativ klar da positioniert und sagt, da müsse ja auch von Russland ein erster Schritt kommen.
Neu: Das ist wie bei kleinen Kindern, jedes Kind behauptet, der andere habe angefangen. Ich glaube, da sollten beide Seiten relativ zeitgleich in Gespräche treten. Zu sagen, die andere Seite muss damit aufhören, ist natürlich absurd. Das heißt, man muss in Gespräche eintreten, man muss vertrauensbildende Maßnahmen einleiten, und da muss ich leider auch den NATO-Staaten attestieren, dass sie in dieser Frage nicht sonderlich aktiv sind. Also der NATO-Russland-Rat findet, wenn überhaupt, unregelmäßig statt und das auf Botschafterebene statt, das heißt, die können nur das sagen, was die jeweiligen Regierungen ihnen auftragen, den Botschaftern. Wir fordern, dass der NATO-Russland-Rat wiederbelebt wird, und zwar auf der Ebene mindestens der Außenverteidigungsminister, und dass auf dieser Ebene konkret über vertrauensbildende Maßnahmen diskutiert wird und nicht einfach nur, die andere Seite muss aufhören. Übrigens Wahlmanipulationen, wenn es die gegeben haben soll, auch da gibt es ja unterschiedliche Positionen. Da hat der Westen, insbesondere die USA, glaube ich, eine führende Rolle weltweit. Spätestens 1996 hat sich die USA massiv in den russischen Wahlkampf um Präsident Jelzin und Sjuganow, dem damaligen Kandidaten der KP eingemischt, und das massiv. Also man sollte mit solchen Argumenten vorsichtig sein, wenn im eigenen Keller ganz viele Leichen liegen.
Münchenberg: Aber Herr Neu, dass der NATO-Russland-Rat auch ausgesetzt worden ist, hatte ja einen konkreten Grund, nämlich die Annexion der Krim, also insofern gab es ja durchaus eine Aggression hier von Russland. Man wirft Russland ja auch vor, im Ukraine-Konflikt die Separatisten zu unterstützen. Also da gibt es ja kein klares Signal, dass Russland hier an einem Ausgleich interessiert ist.
Neu: Na ja, der Konflikt hat ja nicht mit der Krim angefangen, sondern der Konflikt hat ja mindestens einige Woche vorher angefangen mit dem Putsch in Kiew, in dem das nicht antirussische Regime von Janukowitsch gestürzt worden ist, und das unter Mitwirkung westlicher Staaten. Es war auch der deutsche Außenminister, der damals auf dem Maidan aufgetaucht ist, es war der französische Außenminister und der polnische Außenminister, die gemeinsam mit dem deutschen Außenminister und dem Präsidenten der Ukraine, Janukowitsch, ein Abkommen geschlossen haben, was über Bord geworfen wurde nicht mit Janukowitsch, sondern durch die Aufstände des Maidan, und die drei Außenminister der EU haben das ziemlich lang geschluckt und letztendlich unterstützt. Da hat der Konflikt erst wirklich angefangen. Die Krim-Frage kam sozusagen im Anschluss. Das ist keine Entschuldigung dafür, aber man muss natürlich den gesamten Konflikt darstellen und nicht dort anfangen, wo es einem passt in der Darstellung des Konfliktes.
"Der Kalte Krieg hat nie wirklich aufgehört"
Münchenberg: Sie haben vorhin gesagt, das sei wie so zwei kleine Kinder quasi, jeder sagt, der andere müsse einen ersten Schritt machen. Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass man sich hier weiterbewegt in Richtung Neubelebung des Kalten Krieges?
Neu: Ich glaube, der Kalte Krieg hat nie wirklich aufgehört, es war vielmehr eine Pause in den 90er-Jahren, als die russische Föderation ökonomisch und sozial noch militärisch am Boden war. Wir erinnern uns, dass Präsident Putin Anfang der Nullerjahre eine Rede im Deutschen Bundestag gehalten hat, da hat er die Hand ausgestreckt, und das wurde nicht sonderlich angenommen, und Schröder hat gewissermaßen angenommen. Wir erinnern uns daran, dass Russland, Frankreich und Deutschland hier sich gemeinsam gegen den Krieg der USA gegenüber dem Irak ausgesprochen haben und alles getan haben, das zu verhindern. Nach der damaligen Bundestagswahl mit dem Ende von Schröder wurden die Fronten wieder verhärtet, und seitdem sehen wir eine permanente Verschlechterung der Beziehungen. Ich sehe nicht unbedingt, dass die NATO einen Krieg will, ich sehe auch nicht, dass Russland einen Krieg will, was wir aber sehen, sind eine Vielzahl von Aufrüstungsmaßnahmen und eine Vielzahl von Manöverübungen. Übrigens, das Verhältnis russische Manöver gegenüber NATO-Manöver ist vier zu eins, also die NATO hat mittlerweile viermal mehr Manöver absolviert als die russische Föderation.
Münchenberg: Herr Neu, jetzt muss ich Sie leider unterbrechen, die Zeit läuft davon. Auf jeden Fall war das der Experte der Linkspartei, Alexander Neu. Herr Neu, vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen!
Neu: Ja, bitte, auf Wiederhören!
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