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Ostdeutsche Identitäten
"Da ist viel altes DDR-Gefühl mit drin"

Offener Protest in der DDR war gefährlich. Gesetze wurden deshalb "mit klammheimlicher Freude hintenrum" hintergangen, sagte Annette Simon im Dlf. Die Stimmen für die AfD sieht sie als "nachgeholten Ungehorsam": 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution suchten die Ostdeutschen die Konfrontation.

Annette Simon im Gespräch mit Karin Fischer |
Psychoanalytikerin Annette Simon in ihrem Büro sitzend vor dem Schreibtisch
Psychoanalytikerin Annette Simon weiß, wie sich fremd sein im eigenen Land anfühlt (Foto: Vaughan Melzer)
Die Menschen seien heute so gespalten, wie sie schon zu DDR-Zeiten waren, sagt Annette Simon. Denn "die Ostdeutschen" seien natürlich überhaupt keine homogene Gruppe:
"Da gab es Offiziere und Wehrdienstverweigerer, es gab Stasi-Spitzel und Insassen von Stasi-Gefängnissen, es gab Parteisekretäre und Dissidenten. Also auch damals waren wir in keiner Weise homogen, konnten die Konflikte aber nicht offen austragen."
Demokratisches Verhalten sei in der DDR nicht gelernt worden, und eine gewisse Art von Subalternität habe sich breitgemacht. Gleichzeitig seien die Gesetze des Staates "mit klammheimlicher Freude hintenrum" hintergangen worden, denn offener Widerstand war zu gefährlich.
Ohnmacht als Erbe der DDR
Annette Simon macht hier "ein Erbe der DDR" aus, das als Muster immer noch vorhanden ist. Der schwierige Transformationsprozess sei dann hinzu gekommen. "Da sahen sich viele eben wieder in Strukturen, die ihnen fremd waren, in die sie sich einpassen mussten und die sie auch erstmal nicht verändern konnten, denen sie sich relativ ohnmächtig gegenüber fühlten."
Denn auch den neuen Autoritäten hatte man sich zu unterwerfen, war damals aber wieder nicht in die Konfrontation gegangen. "Jetzt, 30 Jahre später, wird diese Konfrontation gesucht."
Die DDR hat von ihren Bürgerinnen und Bürgern jederzeit Loyalität eingefordert. Heute wird diese Loyalität aufgekündigt. "Das kommt mir vor wie nachgeholter Ungehorsam. Ungehorsam oder offenen Widerstand, die man sich damals nicht getraut hat, kann man sich jetzt trauen. In dieser Wut, die da ist, ist meiner Meinung nach immer auch noch alte Wut."
Versäumte Aufarbeitung
Viele Konflikte aus der DDR-Zeit, so Annette Simon, seien damals nach der Wende überhaupt nicht bearbeitet worden. Für die DDR hat sie den Begriff der "Erziehungs-Diktatur" gefunden. Nach der Wende habe die Diskussion über die Stasi aber dominiert:
"Die Staatssicherheit wurde zum Sündenbock gemacht." Denn eigentlich waren es die Parteistrukturen gewesen, die versuchten, den sozialistischen neuen Menschen zu kreieren, eben auch mit den Mechanismen von Kritik und Selbstkritik oder totaler Kontrolle. "Gerade diese Auseinandersetzung hätten wir gebraucht."
Protest und Provokation
Die Wahl rechtsnationaler Parteien gebe es auch, weil man die "Westler" damit am meisten provozieren könne:
"Vorher gingen die Wähler eher zur PDS/Linken, heute ist die Aufwallung am größten, wenn man sich in die rechte Bewegung einordnet. Es ist ein Ausdruck des Protestes aus der Zeit der Transformation und des Noch-Nicht-Heimischseins in den bundesdeutschen Strukturen."
Diese Bewegung nach "rechts" sieht sie ansonsten in ganz Europa, nicht nur im Osten Deutschlands.