"Picasso kam 1911 nach Ceret. Denn er hatte hier Künstlerfreunde wie Pierre Brune. Es gefiel ihm hier auch, weil es hier ein ganz besonderes Licht gibt. Und dieser Pierre Brune bat seine Freunde um Bilder, wodurch dann hier das Museum für moderne Kunst entstand."
Erzählt mir Jiselle Ferres vom Tourismusbüro des kleinen Dorfes, während wir durch den Ort schlendern. Am Horizont ist das Mittelmeer erkennbar. Blickt man in die entgegen gesetzte Richtung, erheben sich die jetzt im Frühjahr noch schneebedeckten imposanten Gipfel der Pyrenäen. Dann bleiben wir vor einem eher unscheinbaren Haus stehen. Jiselle lacht und zeigt auf das Klingelbrett:
"Hier ist das Haus, in dem Picasso und Braque gewohnt haben. Und sehen Sie, die Namen sind immer noch an der Tür. Braque. Picasso."
Ansonsten erinnert erst mal nichts an die Künstler. Das Privathaus stehe meisten leer, meint Jiselle. Nur das Klingelschild zeigt, dass hier im wahrsten Sinne Kunstgeschichte geschrieben wurde. Pablo Picasso lebte im ersten, Georges Braque im zweiten Stock. Ein paar Meter weiter steht ein Rahmen mit der Kopie eines Bildes von George Braque. Auf dem Bild die Fenster des Hauses, vor dem wir stehen. Hier also, genau hier muss er damals mit seiner Staffelei gestanden haben. Und so wie hier stehen überall im Ort solche Kopien, erklärt mir Jiselle Ferres:
"Die Stadt Ceret und das Tourismusbüro wollten einen Weg der Künstler von Ceret einrichten. Man sieht hier Reproduktionen, genau da wo die Künstler sie auch gemalt haben. So sieht man gleichzeitig die heutige Landschaft und wie die Künstler sie sahen."
Und viele dieser Bilder kann man dann im Original im örtlichen Kunstmuseum bewundern, wo ich mich mit Peggy Merchese verabredet habe.
"Ceret war eine Inspiration eine sehr starke Inspiration für die Artisten und sie hatten unsere Stadt wie eine wunderbare Frau gemalt."
Eine sensationelle Sammlung mit Picassos und Chagalls
Das Museum, 1950 eröffnet, bietet eine beeindruckende Sammlung. Über fünfzig Bilder von Picasso, zehn von Chagall. Für ein Museum eines winzigen Dorfes wie Ceret mitten im Nirgendwo eine sensationelle Sammlung. Dann führt mich Peggy Merchese in einen weiteren Raum.
"Hier ist ein Saal, wo man kann nur originale Keramik von Picasso sehen."
Die bemalten Tonschalen, erzählt sie, habe Picasso extra für den Ort gemalt und dem Museum 1953 geschenkt.
"Wir haben hier ein wunderbares Geschenk von Picasso und das ist diese 28 Keramik und das ist über ein sehr wichtiges Thema von uns, das ist der Stierkampf, weil wir haben jedes Jahr Stierkampf in unserer Stadt in der Arena in Ceret und das ist ein Teil von unserer Identität."
Ceret und Picassos Stierkämpfer lasse ich hinter mir und fahre etwa 30 Kilometer bis an die Mittelmeerküste nach Collioure. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein kleines Fischerdorf, bis auch hier Künstler einzogen.
"Collioure war immer ein Hafen. Schon seit den Römern und Griechen. Während des Königreichs von Aragon und Mallorca wurden wir zur Handelsstadt. Als Matisse hierher kam, war es ein Fischerdorf."
Erklärt mir Anne Carrère, die mich durch den Ort führt und von den Künstlern erzählt, die auch hier den Ort mit ihrer Kunst veränderten.
"Im Mai 1905 kam Matisse hierher nach Collioure. Das, was ihn hier faszinierte, war das Treiben im Hafen. Stellen Sie sich dutzende kleine Fischerboote und deren weiße Segel vor dem blauen Meer vor. Und das sieht man eben auch in den Bildern mit Fischernetzen am Strand."
Die Fischer und ihre Segelboote sind in Collioure von heute allerdings längst verschwunden. Die kann man nur noch auf den Bildern entdecken, die auch hier, ähnlich wie in Ceret, im ganzen Ort als Kopien zu sehen sind, erklärt mir Anne Carrère, als wir mit Blick über den Hafen und die mit alten roten Schindeln gedeckten Dächer vor einem dieser Bilder stehen:
"Das sind nicht einfach nur Reproduktionen, denn die Originale sind ja über die ganze Welt verstreut. Besonders die Bilder von Matisse wurden von Sammlern überall auf der Welt gekauft, nur nicht in Frankreich. Deswegen findet man Matisse, hier zum Beispiel 'Die Dächer von Collioure' in der Eremitage in St. Petersburg. Der Besucher kann sich über diese Kopien besser an Matisse und Derain annähern."
Überall hängen Bilder
Es war dieses unglaublich intensive Licht und die Farbspiele hier am Meer, die die Künstler damals faszinierten. Heute ist es eher diesig.
Überhaupt scheint der Ort jetzt wenige Tage vor Ostern nur langsam aus dem Winterschlaf zu erwachen. Überall wird in den Geschäften geputzt und geräumt. Erst in ein paar Tagen werden die Boutiquen wieder öffnen, darunter alleine 40 Kunstgalerien. Heute aber versucht nur ein einsamer Saxofonspieler am Strand, die wenigen Touristen, die jetzt schon hier sind, auf sich aufmerksam zu machen.
Von der Musik begleitet schlendere ich am Hafen weiter bis zum Hotel les Templiers, dem bekanntesten, in jedem Fall dem künstlerisch bekanntesten Hotel in Collioure, wo mich der Besitzer Jean Michelle Pous schon erwartet:
"Das Haus hier war die Dorfkneipe, die damals von meiner Urgroßmutter geführt wurde."
Wir sitzen in der gemütlichen, etwas schummrigen Bar mit typisch französischem Flair. Mit dem Blick auf die Bilder, die hier überall hängen, spricht Jean Michelle von seinem Vater:
"Er hat mir erzählt, dass Matisse meinem Großvater ein Bild geschenkt hat. Damals hing hier an den Wänden nur Werbung für Wein und Aperitif. Und Matisse meinte, das Bild wird dann weitere anziehen."
Und tatsächlich: Alle Wände sind bis an die Decke über und über mit Zeichnungen und Gemälden behängt. Sein Vater und sein Großvater, erzählt Jean Michelle Pous, hatten nach dem Krieg einen Kunstpreis ins Leben gerufen. Der Preis war nicht Geld, sondern einen Monat Kost und Logis in ihrem Hotel. Und die Ergebnisse hängen jetzt hier an den Wänden:
"Mein Vater mochte es nicht, wenn man sagte, dass die Maler für den Aufenthalt mit ihren Bildern bezahlt hätten. Denn das stimmte nicht. Die Künstler waren eingeladen und zu nichts verpflichtet. Dass sie dann Bilder hier ließen, das war einfach nur weil sie sich hier wohlfühlten und Vater und Großvater sich so gut mit ihnen verstanden."
Hinter der Bar zeigt Jean Michelle Pous auf ein altes, schon etwas verblichenes Schwarz-Weiß-Foto mit einem fröhlich lachenden Picasso:
"Da sieht man meinen Großvater zusammen mit Picasso. Das war 1951. Da drunter ist eine Skizze einer nackten Frau von Picasso mit der Widmung: für meinen Freund Rene Pous."
Erlebnis moderner Kunst
Längst ist aus der Bar ein Restaurant und Hotel geworden. Auch hier sind in allen Treppenhäusern und Etagen sämtliche Wände bis zur Decke mit Kunstwerken gefüllt. Die meisten, aber nicht alle hier sind Originale. Vor etlichen Jahren hatte ein Hotelgast nachts zur Selbstbedienung gegriffen. Unter anderem verschwanden sieben Zeichnungen von Picasso, die nie wieder auftauchten. - Aber selbst ohne diese Bilder erwartet den Hotelbesucher ein Erlebnis moderner Kunst, wie sie im Pariser Louvre kaum spektakulärer sein könnte.
Ein letztes Mal genieße ich den Blick aufs Meer und fahre dann ins Landesinnere nach Perpignan. Den besten Blick über die mittelalterliche Stadt bekomme man vom Turm der Kathedrale, hat man mir erzählt. Also habe ich mich mit Lorent Pie verabredet, dem Glockenspieler von Perpignan.
Mit einem großen eisernen Schlüssel öffnet er die Tür vom Glockenturm. Dann geht es zusammen mit dem Glockenspieler über enge, schmale Steintreppen immer weiter hinauf.
"Seit meinem Beginn hier 1996 ist es für mich jedes Mal, wenn ich hier rauf laufe ein wunderbares Erlebnis. Und gleichzeitig ist es eine große Verantwortung, denn wenn ich hier spiele, hört es die ganze Stadt."
Dann stehen wir oberhalb der Stadt mitten zwischen vielen kleinen und großen Glocken.
"Wir sind jetzt im Glockenraum mit viel Holz und Bronze. Das Holz muss das Gewicht der Glocken tragen. Ein Gewicht von über acht Tonnen für 46 Glocken."
Wir sind mitten in einem Carillon, einem Turmglockenspiel, wo die Glocken über Seilzüge, ähnlich wie bei einer Orgel von einem Spieltisch angeschlagen werden, erklärt mir Lorent Pie.
"Hier hat man erst mal die Pedale für die Füße. Und um das Carillion zu spielen, schlägt man mit der geballten Faust. Womit man aber auch sehr leise spielen kann. - Ich hab eine Partitur heraus gesucht, die ich jetzt mal im Gedanken an Ostern anspiele."
Danach stehen wir noch eine Weile auf dem Turm. Während Vögel den Turm umkreisen, erklärt mir Lorent Pie den fantastischen Blick aus luftiger Höhe.
"Hier vom Glockenzimmer aus sieht man zuerst die roten Ziegel der Kathedrale. Dann dort vorne sieht man die Häuser der mittelalterlichen Stadt, die sich ganz eng aneinanderschmiegen und dort drüben sehen wir das Palais de Majorca, der alte Regierungspalast, und da hinten auf der linken Seite sieht man die Kirche St. Jacques, wo die Prozession nachher startet."
Im Herzen vielleicht mehr Katalane als Franzose
Die Karfreitagsprozession, darauf hat sich die ganze Stadt schon seit Tagen, seit Wochen vorbereitet. Doch dazu später mehr. Jetzt muss ich erst mal all die Stufen wieder herunter und treffe dann in der Altstadt die Stadtführerin Audre Avaredo. Was denn die Bedeutung dieser gelb-roten Fahnen sei, die jetzt an fast jedem Haus wehen, will ich wissen und werde gleich berichtigt.
"Das ist die katalanische Flagge, aber die ist nicht gelb-rot. Für die Menschen hier symbolisiert das Gold und Blut. Das geht zurück auf die Legende eines katalanischen Fürsten, der im 9. Jahrhundert bei einer Schlacht starb. Als er verwundet war legte der König ihm seine Hand in die Wunde und das Blut hinterließ auf seinem goldenen Schild vier Abdrücke. Seitdem sind Blut auf Gold die Farben der katalanischen Flagge."
Auf dem Rathaus weht einsam die französische Trikolore, neben Hunderten katalanischen Fahnen. Natürlich, meint Audre Avaredo, seien alle Franzosen, aber im Herzen eben auch und vielleicht noch mehr Katalanen. Die Geschichte sei hier schon immer etwas komplizierter gewesen. Ursprünglich gehörte Perpignan zum Königreich von Aragon.
"1276 starb Jack der Eroberer, König von Aragon, der sein Königreich an seine beiden Söhne vermachte. Der größere Teil von Aragon ging an seinen erstgeborenen Sohn und für den jüngeren schuf er das neue Königreich von Mallorca. Es bestand aus den Balearen-Inseln, Perpignan und Montpellier und Perpignan wurde die neue Hauptstadt."
Das Königreich existierte nur 68 Jahre. Dann gehörte es wieder zu Aragon, später zu Spanien. 1659 schließlich heiratete Louis XIV., der französische Sonnenkönig, die spanische Prinzessin Maria Therese. Anlässlich der Heirat schloss man den Pyrenäenvertrag. Alles östlich der Pyrenäen wurde französisch.
"Und für lange Zeit wurde die Sprache und die kulturelle Tradition von den Franzosen verboten. Erst in den 1960er Jahren gab es dann eine kulturelle Wende. Und gerade diese Zeit der Karwoche ist für die Katalanen besonders wichtig. Da ist die katalanische Seele wirklich spürbar."
Überall in der Innenstadt sind Lautsprecher aufgehängt. Schon Stunden vor Beginn der Prozession schallen Gebete und Gesänge durch die kleinen Gassen der Innenstadt. Um genau fünfzehn Uhr beginnt dann das Spektakel.
Martialisch aussehende Tradition
An der Kirche St. Jacques am anderen Ende der Altstadt macht die Prozession sich langsam auf den Weg. Vorweg marschieren Trommler. Dann folgen Männer in bodenlangen Kutten, die meisten in Schwarz, einige wenige in Rot. Die Mitglieder der "Confrérie de la Sanch", der Brüder des Blutes, tragen alle die Capatrutxa, eine hohe furchterregende Spitzkappe mit nur einem winzigen Sehschlitz. Sofort denkt man an den amerikanischen Ku-Klux-Klan. Mit dem rassistischen Gedankengut der amerikanischen Südstaaten aber hat das hier gar nichts zu tun. André Payree, der Präsident der Bruderschaft, ein freundlicher älterer Herr Mitte 60, erklärt mir die Geschichte dieser so martialisch aussehenden Tradition.
"Wir erinnern uns an fast 600 Jahre Geschichte, denn unsere Bruderschaft wurde 1416 gegründet. Und zwar am 11. Oktober 1416. Also in zwei Jahren werden es genau 600 Jahre sein, dass der später heiliggesprochene Dominikanerpater Vincent Ferrier die Bruderschaft ins Leben rief. Sie begleiteten die zum Tode verurteilten zum Schafott, um sie davor zu schützen, dass die aufgebrachte Menge sie nicht schon vorher lyncht."
Anfangs gab es diese Osterprozession noch nicht, erklärt mir André Payree. Die Bruderschaft, damals ausschließlich Männer, verbrachten die letzte Nacht betend mit den zum Tode Verurteilten.
"Es waren immer Laien. Die Bruderschaft des Blutes bestand anfangs aus Bauern und Webern aus Perpignan, die von Anfang an diese Kapuzen trugen, weil sie ja dieselben Kleider tragen mussten, wie die zum Tode verurteilten, damit man die nicht erkennen konnte und sie nicht gesteinigt wurden."
Langsam, sehr langsam schreiten die Büßer durch die Stadt. Als die Todesstrafe Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde, entschied die Bruderschaft sich dafür, mit dieser Prozession an das Leid Christi zu erinnern. Mittlerweile sind von den etwa zwölfhundert Teilnehmern knapp ein Drittel Frauen, die allerdings keine Spitzhüte, sondern schwarze Schleier tragen. Von kräftigen Männern werden wie auf Bahren über dreißig sogenannte Mysterien, riesige mit Blumen geschmückte Skulpturen, durch die Straßen getragen. Als die Prozession dann die Kathedrale erreicht, verbeugt sich der ganz in Rot gewandete Zugführer vor dem Kreuz, das aus der Kirche herausgebracht wurde.
Reges Treiben an Karfreitag
Diese Karfreitagsprozession sei natürlich jedes Jahr der Höhepunkt ihrer Bruderschaft, meint André Payree. Trotzdem seien sie das ganze Jahr über aktiv.
"Heute werden von der Bruderschaft auch Gefangene in Gefängnissen besucht. Außerdem begleiten wir die Hinterbliebenen bei Beerdigungen, die nicht von der Kirche durchgeführt werden, und begleiten Trauernde auf den Friedhof und zwei unserer Mitbrüder stehen den Angehörigen bei der Einäscherung im Krematorium bei."
Nach einigen Ansprachen marschieren die Teilnehmer der Prozession langsam und bedächtig durch die kleinen Gassen weiter zum nächsten Halt. Am Rande Tausende Zuschauer, die jedes Jahr am Karfreitag hierher kommen, um diese mittelalterlich katalanische Tradition zu erleben. Noch stundenlang hört man die Gesänge und Gebete in den kleinen Gassen der Altstadt durch die Lautsprecher. Aber schon bald normalisiert sich das Leben in Perpignan. Während in Deutschland am Karfreitag alle Geschäfte geschlossen bleiben, erlebt man hier ein reges Treiben. Nur ein paar Straßen weiter, zeigt mir Audre Avaredo wo die Einheimischen sich mit den kulinarischen Leckerbissen für das Osterfest eindecken.
"Hier sind wir jetzt im Wohnviertel der Stadt, wo man hinkommt, um ganz im mediterranen Flair einzukaufen. Mit allem was es so gibt, Gewürze, Oliven, getrockneter Fisch, eben alles, was man für das Ostermahl braucht. Besonders ein getrockneter Fisch, den wir La Morue nennen und den man am Tag vorher entsalzen muss und dann mit in Öl eingelegtem Knoblauch zubereitet wird."
- "Hier ist wirklich was los."
Wo noch vor ein paar Stunden Hunderte martialisch aussehende, ans Mittelalter erinnernde Gestalten durch die Stadt liefen, haben jetzt die Marktfrauen die Regie übernommen. Und eine ältere Sängerin, am Rande des Marktes, sorgt dafür, dass auch die letzten Besorgungen für den Osterschmaus mit südfranzösischem Flair erledigt werden können.