Es sei ein Kippeffekt entstanden, Risse gingen durch die EU und Ost und West spalten sich wieder, beobachtet die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann im Dlf-Interview. Das sei bereits in dem Begriff Erweiterung angelegt, denn dieser zeige, dass dies kein symmetrischer Prozess gewesen sei. Es lägen auch ganz unterschiedlicher Geschichtserfahrungen darunter, die nun wieder zum Vorschein kämen und auch nie wirklich zusammen gewachsen seien.
Polen zum Beispiel habe seinen Nationalstaat in der Geschichte bisher noch nie richtig ausleben können. Es hätte die EU zunächst als Garant für seinen Nationalstaat gebraucht. Aber inzwischen sei der Nationalstaat so stark geworden, dass er sich auch mit einer neuen Form von Stolz ausrüste. Die EU sei so vom Garanten zum Feind der Nation geworden. Denn in der EU stehe das Plädoyer für Diversität im Mittelpunkt. Genau das werde in Polen gerade nicht gewünscht, man optiere für eine homogene Gesellschaft.
Unterschiedliches Geschichtsbewusstsein
Der Westen habe die Verbindung sehr stark in der transnationalen Erinnerung des Holocausts gesehen, während die osteuropäischen Staaten mit der Erfahrung der Besatzung eine andere Verbindung hätten. Auch auf dieser Ebene hätten sich die Risse wieder vertieft. Dabei käme wieder das Gefühl des gekränkten Stolzes, der Demütigung an die Oberfläche.
Auch durch die Abwanderung aus Osteuropa entstehe ein Gefühl des Abgehängt seins. Man müsse auch anerkennen, dass hier etwas zu verändern sei. Es müsse eine neue Vertrauensgrundlage gelegt werden. Der Osten selbst habe die Kräfte mobilisiert, um die Mauer einzureißen. Dieses Narrativ würde weiterhelfen.
Was im Moment im Vordergrund stehe, seien die Emotionen und Frustrationen, der gekränkte Stolz, die Demütigung. Das müsse man erst mal anerkennen und akzeptieren. Das seien Signale, die politisch wichtig seien. Man solle sich darauf besinnen, was man gemeinsam habe, sagte Assmann.
Modell Putin als Vorbild
Sie vermute, dass sich die osteuropäischen Staaten derzeit sehr stark dem Modell Putin zuwenden würden. Der Krieg werde nämlich als entscheidendes, verbindendes Element der Gesellschaft wieder mobilisiert. Eine Anerkennung der gesamten Geschichte auch anderer Länder werde so nicht mehr möglich.
Die osteuropäischen Staaten würden sich derzeit gegen den Neoliberalismus und den Liberalismus stellen, also auch dagegen, dass die Achtung der Menschenrechte und nicht der heiligen Nation in den Mittelpunkt gestellt würden. Auch die liberale Demokratie sei ein Feindbild. Um das zu überwinden, benötige man eine neue Form der Solidarisierung in der EU. Die Länder müssten ihre Geschichte besser kennen lernen.
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