Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus wird europaweit der Ruf nach einer Wiederholung der Wahl lauter. Im Land gibt es seit Tagen massive Proteste gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko und das aktuelle Wahlergebnis, das ihn erneut zum Gewinner erklärte. Die Demonstranten werfen der Regierung Wahlbetrug vor und halten die Oppositionskandidatin Tichanowskaja für die eigentliche Gewinnerin der Präsidentenwahl.
Die EU-Außenminister beraten in einer Sondersitzung, um über den weiteren Umgang und mögliche Sanktionen gegen die Regierung in Belarus abzustimmen. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn etwa forderte im Dlf Sanktionen gegen die politisch Verantwortlichen von Belarus. Es sei von zentraler Bedeutung, dass die Europäische Union auf ihrem Außenministertreffen eine einheitliche Position gegenüber Weißrussland finde.
Russland "nun ganz genau beobachten"
Auch der Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Wilfried Jilge, sprach sich im Dlf für Sanktionen aus: Was Lukaschenko gemacht habe, habe jede rote Linie überschritten und müsse beatwortet werden.
Sanktionen müssten aber zielgerichtet und personenbezogen sein: "Sie sollten die Verantwortung des Regimes und ihrer Mitglieder für ganz konkrete Menschenrechtsverletzungen deutlich machen". Des Weiteren müsse die breite belarusische Zivilgesellschaft unterstützt werden und ihr von Seiten der EU eine Perspektive gegeben werden.
Ein wichtiges Problem aber liege nicht in Belarus selbst, so Jilge: Die EU müsse nun ganz genau beobachten, was Russland tut, und ob der Kreml "hier irgendetwas in Richtung Provokation plant" oder nicht. Sollte man sehen, dass Einmischungen geplant seien, betreffe das die Sicherheitslage der EU ". Das dürfte dann auch nicht ohne deutliche Reaktion bleiben", beispielsweise in Form von Wirtschaftssanktionen.
Ann-Kathrin Büüsker: Ist Druck aus dem Ausland tatsächlich dazu geeignet, Lukaschenko zu beeindrucken?
Wilfried Jilge: Ich denke, er ist auf jeden Fall notwendig, denn das, was Lukaschenko da gemacht hat in den letzten Tagen, das hat ja jede rote Linie überschritten und muss beantwortet werden.
Allerdings sollte man, wenn man jetzt diese Sanktionen, um auf die erste Möglichkeit zu kommen, bespricht, die sollten ganz zielgerichtet, personenbezogen sein. Und sie sollten die Verantwortung des Regimes und ihrer Mitglieder für ganz konkrete Menschenrechtsverletzungen, die Verweigerung von Wahlen und so weiter deutlich machen, möglicherweise auch auf Familien ausgeweitet werden, weil wir ja wissen - oder wir wissen es ja nicht, aber es kann durchaus sein -, dass der ein oder andere Betroffene aus dem Apparat auch seine Kinder gerne im Westen studieren lässt. Ich denke, das kann man zuerst mal machen, das wäre eine Sache.
Die zweite Sache muss aber sein, das muss eben ein breiterer Ansatz sein, es muss auch überlegt werden, wie kann in der Breite die belarussische Zivilgesellschaft unterstützt werden, Universitäten und Studenten unterstützt werden, damit eben diese Zivilgesellschaft, die sich ja jetzt in einem viel größeren Umfang bewegt, als man das gedacht hat, wie kann man ihr eine Perspektive geben von Seiten der Europäischen Union.
Und der dritte Punkt, der ist natürlich ganz, ganz wichtig, denn wir alle wissen, das Problem liegt nicht nur in Belarus, die EU muss jetzt ganz genau beobachten, was Russland tut. Sie muss genau beobachten, ob im Kreml oder in seinen angeschlossenen Vorfeldorganisationen irgendetwas in Richtung Provokation geplant ist oder nicht. Und sollte man im Zuge dieser Beobachtung sehen, dass hier solche Dinge der Einmischung auch notfalls mit hybriden und teilweise gewaltsamen Aktionen geplant sind, dann würde das natürlich die Sicherheitslage auch der EU massiv betreffen – und das dürfte dann auch nicht ohne deutliche Reaktion bleiben wie zum Beispiel auch Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland, aber nur in dem Fall, wenn es so wäre.
Nachhaltige Entwicklung "unabhängig von geopolitischen Debatten"
Büüsker: Auf Russland können wir gleich noch mal zu sprechen kommen. Ich würde gerne noch auf Ihren zweiten Punkt schauen: Sie haben gesagt, die Zivilgesellschaft muss unterstützt und gestärkt werden. Wie kann das gelingen?
Jilge: Wir haben ja bereits Programme in der östlichen Partnerschaft, die die Zivilgesellschaft unterstützen, das sind Unterstützungen, die ihre Selbstorganisation stärken, das sind Unterstützungen im Bereich der Studierenden.
Das sind auch ganz konkrete Programme auch über die wirtschaftliche Entwicklung, die im Rahmen der zivilgesellschaftlichen Formate der östlichen Partnerschaft laufen hier. Da muss man einfach gucken, wie kann man das weiter unterstützen – bis hin zu so ganz konkreten Sachen, die für die Menschen ganz wichtig sind, wo man ja auch schon etwas getan hat, zum Beispiel bei der Bewältigung der in Belarus so schwierigen Coronakrise. Die war ja auch ein Grund für die Enttäuschung, für die weitergehende Enttäuschung.
Man muss einfach den Menschen deutlich machen, ganz unabhängig von irgendwelchen geopolitischen Debatten, dass man eine nachhaltige und positive Entwicklung in Belarus stützt.
Büüsker: Nun macht Russland schon jetzt ausländische Kräfte für die Lage in Belarus mitverantwortlich. Außenminister Lawrow sagte, seine Regierung sei besorgt über die Entwicklung und es gäbe Versuche einer Einmischung von außen, um Belarus zu destabilisieren. Wenn Sie jetzt Unterstützung der Zivilgesellschaft fordern, ist das nicht genau das, was Russland nervös macht?
Jilge: Ich denke, was Russland nervös machen würde, wenn man jetzt überstürzt mit einer Delegation nach Minsk reisen würde und sagen würde, wir brauchen Neuwahlen und du musst jetzt sozusagen zurücktreten. Das wäre jetzt problematisch, vor allem, wenn es nicht mit Moskau abgestimmt wäre.
Was man aber sehr wohl tun kann und wo ja auch Russland offiziell zumindest nichts dagegen hat, wenn man die Entwicklung innerhalb von Belarus, wie gesagt, jenseits von geopolitischen Debatten, unterstützt. Das, denke ich, muss man tun. Und gleichzeitig muss man wirklich Russland deutlich spüren lassen, wir beobachten ganz genau, was ihr macht.
"Aussagen von Lawrow muss man sehr ernst nehmen"
Büüsker: Aktivistinnen und Aktivisten aus der Ukraine solidarisieren sich schon jetzt mit den Menschen in Belarus. Kann die Maidan-Bewegung ein Vorbild für die Opposition in Minsk sein?
Jilge: Also, ich denke, dass die Maidan-Bewegung, natürlich unterscheidet die sich massiv von dem, was in Belarus stattfindet. Aber was natürlich ähnlich ist, dass es hier einen enormen gesellschaftlichen Aufbruch gibt. Und wir sehen ja, wie stark sich jetzt Frauen engagieren. Frauen sind ein ganz wichtiger Faktor in dieser belarussischen Oppositionsbewegung, aber auch in den Staatsbetrieben, in den prominenten Staatsbetrieben wie beim Nutzfahrzeughersteller Belas legen jetzt die Leute die Arbeit nieder.
Das heißt, wir sehen hier – und das ist vergleichbar in der Breite – eine bemerkenswerte, ja, ein bisschen auch ein Stück Revolution der Würde. Denn die Menschen, das sagen sie ja auch öffentlich oder in Interviews, wir wollen nach unseren Regeln, wir wollen normal leben, wir wollen uns entfalten können. Und das war ja auch einer der Kerne der Maidan-Revolution. Der Unterschied liegt in den organisatorischen und politischen Konstellationen. Die Maidan-Revolution war natürlich sehr breit aufgestellt. Wir dürfen nicht unterschätzen, dass das Parlament auch unter Janukowytsch in der Ukraine noch eine ganz wichtige Funktion hatte, das war immer auch eine Basis des organisierten und legalen Widerstandes.
Es gab da immer Beziehungen zum Beispiel zu unterschiedlichen Machtnetzwerken und Oligarchen, das war in der Ukraine alles nicht eindeutig, weil es nicht so hierarchisch, sowjetisch, ost-sowjetisch war, sondern in der Ukraine die Machtgruppen horizontal konkurrierten, auch noch in der Endphase des Janukowytsch-Regimes.
Das heißt, die Opposition in der Ukraine hatte mehr Instrumente, einen Machtwechsel zu implementieren. Es gab eine viel größere Gefahr, dass auch die Sicherheitsorgane, vor allem auch die Armee, bestimmte Sachen nicht mitmachen. Das hatten wir ja auch schon bei der orangenen Revolution, da haben Teile der Armeebezirke einfach gesagt, wir folgen nicht dem Wahlfälscher und wir folgen nicht einer gewaltsamen Lösung des Konflikts. Also: Ja, einerseits ist dieser Virus der Freiheit, der Selbstorganisation, der Selbstverantwortung, sein Leben in die Hand nehmen und wirklich leben wollen, ja, dieser Kern ist auch in Weißrussland da.
Und hier kommt auch wieder Moskau ins Spiel: Egal, ob da nun EU-Fahnen sind oder nicht, Russland sieht in Belarus einen Teil der russischen Welt. Es hat eine strategische Vorfeldbedeutung par excellence für den Kreml oder aus Sicht des Kremls. Das haben wir auch 2017 beim Manöver "Sapat" gesehen, wo ja ausgeprobt wurde, wie man reagiert, wenn irgendwelche Putschisten in Belarus gleichsam die Macht übernehmen.
Also, diese Aussagen von Lawrow, die muss man sehr ernst nehmen. Farbrevolutionen, ob sie nun so heißen oder nicht, ob sie nun europäisch oder westlich konnotiert sind oder nicht, sieht der Kreml als illegitim an. Für sie ist Lukaschenko der legitime Herrscher.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.