Die angeblich beste aller Welten war grausam. Im Frühjahr 1950, zwei Jahre vor den Schauprozessen gegen Rudolf Slánský und andere kommunistische Politiker, wurde die tschechische Frauenrechtlerin und Nazi-Gegnerin Milada Horáková von einem Prager Gericht zum Tod verurteilt - wegen angeblicher antisowjetischer Konspiration. Milada Horáková hatte die kommunistische Diktatur in ihrer Heimat abgelehnt und wurde daraufhin beschuldigt, einen neuen Weltkrieg gegen das eigene Land herbeizuführen. Die stalinistischen Exzesse in der Tschechoslowakei waren die schlimmsten in den sowjetischen Satellitenstaaten in Ost- und Mitteleuropa, sagt die Historikerin Marci Shore. Ausgerechnet in dem Land, das noch in den 30er-Jahren als stabile Demokratie galt und dann - am Vorabend des Zweiten Weltkriegs - von den englischen und französischen Verbündeten im Stich gelassen wurde. Dass der Stalinismus in Prag und Bratislava so wirkmächtig werden konnte, hängt auch damit zusammen: Das Münchner Abkommen von 1938 galt in der Tschechoslowakei als Verrat.
"Für die Einstellung der jungen Generation war das ein Schlüsselmoment. In ihren Augen hatte der Westen die Tschechoslowakei in München verkauft. Sie erlebten, wie ihr Land von den Deutschen besetzt und später dann von der Roten Armee befreit wurde. Diese Erfahrung darf man mit Blick auf die Menschen, die in den späten 40er-Jahren erwachsen wurden, nicht unterschätzen."
Essayistisches Tagebuch
Der Schauprozess gegen Milada Horáková ist eine von vielen Episoden, die Marci Shore in ihrem Buch über das Nachleben des Totalitarismus in Ost- und Mitteleuropa aufgreift. Sie hat keine streng analytische, wissenschaftliche Studie geschrieben, kein Buch mit einer zentralen These. Es ist vielmehr eine Art essayistisches Tagebuch, ein persönlich gestaltetes Resümee einer Vielzahl von Reisen, Studien- und Forschungsaufenthalten. Als Leser folgt man einer von der welthistorischen Zäsur des Jahres 1989 enorm begeisterten jungen Amerikanerin nach Tschechien, in die Slowakei, nach Polen und Rumänien. Und man hört sie selbst erzählen:
"In diesem Sommer 1996 verließ ich Krakau Richtung Prag, und dort brachte mir der Archivar des Filmarchivs die Mitschnitte von Milada Horákovás Schauprozess. Die Gerichtsprotokolle fand ich schnell, sie waren zur damaligen Zeit schließlich in mehreren Zeitungen erschienen. Aber das reichte mir nicht. (…) Ich wollte die Inszenierung sehen, die Kleider, die Gesten, die Minen. Ich wollte den Rhythmus beim Sprechen hören und den Klang der Stimmen."
"Es gibt da etwas ganz Essentielles, etwas zutiefst Menschliches, das man in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht wirklich festhalten kann. Eine ganz eigene Authentizität, die man nur in einer eher persönlichen Darstellung vermitteln und wiedergeben kann. Also habe ich mich entschieden, diese Geschichte so anschaulich wie möglich zu erzählen."
Lektüre verlangt Geduld
Auf den ersten Blick wirkt Marci Shores Buch daher wie ein Erinnerungs-Flickenteppich. Hier Eindrücke aus der tschechischen Provinz, wo Marci Shore in den frühen 90er-Jahren als Lehrerin arbeitete. Dort Schilderungen aus Rumänien, Beobachtungen über die nationalistische Umdeutung der Geschichte nach 1989, festgehalten am Rande einer Recherche im Auftrag einer amerikanischen Stiftung. Dann wieder Impressionen von Studienaufenthalten in Krakau, Blicke auf den neuen Antisemitismus in Polen. Eine stringente Logik des Erzählens fehlt - auch deshalb verlangt die Lektüre immer wieder Geduld. Trotzdem entfaltet die individuelle Perspektive durchaus eine ganz eigene Kraft.
"In Bratislava war es bewölkt. Auf einer von tschechoslowakischen Emigranten organisierten Konferenz hielt ich einen Vortrag über Milada Horákovás Schauprozess und die Briefe, die sie vor ihrer Hinrichtung geschrieben hatte. Immer noch dachte ich über denjenigen nach, der diese Briefe gerettet, sie vielleicht gelesen und als „fürs Archiv“ gekennzeichnet hatte. Das war Lenins Erbe: eine geradezu abartige Leidenschaft fürs Aufbewahren. Die Zuhörer interessierte jedoch etwas anderes. In meinem Vortrag erwähnte ich, dass während des Prozesses mehrere tausend Petitionen an das Justizministerium ergangen waren, in denen die sofortige Hinrichtung der Angeklagten gefordert wurde. (…) Eine Frau berichtete mir, dass in den Fünfzigerjahren Lehrer ihre Schüler aufforderten, Galgen zu zeichnen, an denen die Angeklagten baumelten."
Marci Shore berichtet von vielen Menschen aus Ost- und Mitteleuropa, deren Biografien durch die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts gezeichnet wurden. Da ist die Tschechin Jarmuna, der Shore als Studentin an einem Militärcollege in Vermont begegnete: Sie hatte die Charta 77 unterzeichnet, eine Petition der Bürgerrechtsbewegung gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes in der damaligen Tschechoslowakei und war von den eigenen Eltern an die Geheimpolizei verraten worden. Marci Shore zeigt anhand solcher Biografien, wie sich der Totalitarismus bis heute auf die Menschen auswirkt. So auch bei Pani Jadwiga, einer alte Dame aus Warschau:
"Pani Jadwiga wurde im Zweiten Weltkrieg von polnischen Freunden ihrer Eltern versteckt und so vor der Ermordung durch die Deutschen bewahrt. Ihr ganzes Leben lang litt sie unter einem Trauma: Sie wusste nicht, wie die Menschen reagieren würden, wenn sie erfahren, dass sie Jüdin ist. Sie verschwieg das."
"Mehr Fragen stellen als beantworten"
Mit der bewusst unsystematischen Perspektive ruft Marci Shores Buch ein gemischtes Gefühl hervor. Einerseits steht es in der Tradition einer erzählenden, persönlich reflektierenden Zeitgeschichtsschreibung - man denke etwa an Bücher von Tony Judt, Timothy Garton Ash oder auch von Karl Schlögel - und wirkt in seiner Form immer wieder berührend, bewegend, beeindruckend. Andererseits stellt sich beständig auch die Frage nach dem eigentlichen Erkenntnisgewinn. Die Antwort fällt, mit Blick auf das große Thema - das Nachleben des Totalitarismus - nicht immer zufriedenstellend aus. Marci Shore selbst sagt über ihr Buch, sie habe darin mehr Fragen stellen als beantworten wollen. Diese Unentschiedenheit mag mit Blick auf die noch nicht abgeschlossene Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit in Ost- und Mitteleuropa sympathisch sein. Sie führt allerdings auch dazu, dass Marci Shores Buch am Ende nur eine Momentaufnahme ist. Eine wichtige. Aber auch nicht mehr.
Marci Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa, Verlag C.H. Beck, 376 Seiten, 26,95 Euro