Archiv

Ostfront des Zweiten Weltkriegs
Brutalität gegen Zivilisten auf allen Seiten

Die Zivilbevölkerung "massiv zu verringern" - also zu ermorden - gehörte von Beginn an zur Strategie des Angriffskrieges der Deutschen auf Osteuropa. Aber auch Russen und Ukrainer verübten Gewalttaten gegen Zivilisten. Ein trilaterales Forschungsprojekt versucht, die Details der Verbrechen zu klären.

Von Uli Hufen |
"Wer in Deutschland kennt Malyj Trostenez bei Minsk, wo zwischen 1942 und 1944 mindestens 60.000 Menschen ermordet worden sind? Oder das Dörfchen Chatyn, das im Frühling 1943 dem Erdboden gleichgemacht und wo sämtliche Einwohner getötet wurden, die Hälfte von ihnen Kinder?"
Am 18. Juni hielt Bundespräsident Steinmeier eine Rede aus Anlass des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Zentrales Thema war die mörderische Gewalt, die sich in diesem Krieg mehr als jemals zuvor oder danach gegen Zivilisten richtete. Der deutsche Feldzug, so bemerkte Steinmeier, war getrieben von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion, von Antisemitismus und Antibolschewismus. Ergebnis: Unter den 27 Millionen sowjetischen Toten waren 14 Millionen Zivilisten.
"Wer weiß von Korjukiwka in der Nordukraine, wo innerhalb von zwei Tagen 6.700 Männer, Frauen und Kinder der größten und brutalsten Strafaktion des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fielen?"

Massaker von Korjukiwka in Deutschland weitgehend unbekannt

Die Massaker von Lidice in Böhmen und Oradour in Frankreich stehen seit langer Zeit für deutsche Verbrechen an Zivilisten - in West- und Mitteleuropa. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil solche Verbrechen hier vergleichsweise rar waren. Von dem Städtchen Korjukiwka allerdings hat in Deutschland tatsächlich kaum jemand je gehört. Dabei gab es in Weißrussland und Russland, in den baltischen Staaten und in der Ukraine Tausende Orte, die niedergebrannt wurden, an denen Frauen und Kinder, Greise und Kranke ermordet wurden, Orte unaussprechlicher Gewalt. In den westlichen Teilen der Sowjetunion gab es kaum eine Familie, die nicht betroffen war.
"Meine Großmutter mütterlicherseits lebte im Gebiet Zhitomir, wo 1939 die sogenannte Cherson-Linie verlief. Das heißt, die Grenze der Sowjetunion mit Polen, die 1921 nach dem sowjetisch-polnischen Krieg festgelegt wurde in Riga. In diesem Gebiet gibt es viel Wald und Sumpf und dort agierten sowjetische Partisanen."
Der Historiker Valeryi Vasiliev ist Leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der Ukraine und steht dort der Abteilung für historisch-enzyklopädische Forschungen vor. "Meine Großmutter konnte sich mit drei kleinen Kindern ins sowjetische Hinterland retten. Als sie heimkehrte, begann sie nach ihren Verwandten in dem kleinen Dorf Usowo herumzufragen. Sie waren alle verbrannt worden. Man sperrte sie in ein Bauernhaus ein und zündete es an."

Archivöffnung macht historische Aufarbeitung erst möglich

Valeryi Vasiliev ist einer der Historiker, die seit 2016 am deutsch-russisch-ukrainischen Forschungsprojekt "Violence against Civilians on the Eastern Front of World War II" beteiligt sind. Das von der Volkswagenstiftung finanzierte Projekt läuft mittlerweile in der zweiten Förderungsphase und bringt Historiker der Universität Heidelberg zusammen mit Kollegen von der Kiewer Nationalen Akademie der Wissenschaften und russischen Forschern von der Moskauer Hochschule für Ökonomie, einer der angesehensten Universitäten Russlands. Ausgangspunkt waren politische und geschichtswissenschaftliche Entwicklungen.
Tanja Penter, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg: "Zum einen muss man hier die Archivrevolution in der Ukraine erwähnen, die Öffnung der ehemaligen Geheimdienst-Archive seit 2015, die gigantische Berge von Materialien uns zugänglich gemacht hat. Zum anderen sieht man auch in der Historiografie ein wachsendes Interesse an zivilen Opfergruppen des Zweiten Weltkriegs, und auch die Erkenntnis, dass einige dieser zivilen Opfergruppen nach der Befreiung der besetzten Gebiete auch erneut Opfer der Repressionen des Stalinismus wurden."
Die Historiker studieren Gewalt als bewusst gewählte Herrschaftsmethode und die Verbindung von Gewalt und Ideologie. Es geht um deutsche Verbrechen, um die Gewalt nationalistischer Formationen wie der Ukrainischen Aufstandsarmee UPA, um Zusammenhänge zwischen dem Holocaust und anderen Gewaltformen und um die Gewalt, die die Rote Armee nach der Befreiung der besetzten Gebiete ausübte.

Vernichtungskrieg als Mittel einer rassistischen Kolonialpolitik

Neben den Detailforschungen stehen die großen Fragen nach den Motiven und Gründen für die beispiellose Brutalität. Penter: "Das fängt an mit einer selektiven Hungerstrategie, die gegenüber der Bevölkerung in den besetzten Gebieten betrieben wird. Dass man die Bevölkerung per se, wenn sie nicht für die deutsche Kriegswirtschaft arbeitet, als unnütze Esser versteht, die einfach nicht verpflegt werden sollen. All das zeichnete den Vernichtungskrieg im Osten ja aus. Wo man auch ein großes Gefälle sieht zwischen der Besatzungspolitik in Frankreich oder eben in den besetzten Ostgebieten."
Valeryi Vasiliev: "Die Vorstellung einer rassischen Überlegenheit führte zu einer Enthumanisierung. Das war ohne Zweifel die Fortsetzung der europäischen Kolonialpolitik. Schon 1918 stand die deutsche Armee auf ukrainischem Gebiet und schon damals entwickelte man Ideen zur massenhaften Beschlagnahmung von Lebensmitteln und Pläne für künftige deutsche Siedlungen. Ab 1941 passierte das wieder. Die Führung des Dritten Reichs wollte ja nicht nur die Juden vollständig ausrotten, sie wollten auch die Bevölkerung in den europäischen Territorien der Sowjetunion bis zum Ural um etwa 20-30 Millionen Menschen verringern - mit verschiedenen Methoden. Und die übrigen Eingeborenen sollten die neuen deutschen Herren der fruchtbarsten ukrainischen Gebiete bedienen."
Die Opferzahlen für die Ukraine schlüsselt Valeryi Vasiliev so auf: "Das Institut für Demografie der Ukraine sagt, dass die Bevölkerung der Ukraine sich von 1941 bis 1945 um 10,4 Millionen Menschen verringerte. Die Demografen gehen von 5,2 Millionen toten Zivilisten aus, wovon drei Millionen ermordet wurden. Die anderen 2,2 Millionen sind die Folge der kriegsbedingt gestiegenen Sterblichkeit."
Ukrainische Soldaten stehen vor der Gedenkstätte Babi Jar in Kiew
75. Jahrestag von Babi Jar
In der Schlucht von Babi Jar in der Nähe von Kiew begann am 29. September 1941 eine der größten Massenexekutionen des Zweiten Weltkrieges. Einsatzgruppen der SS trieben die jüdischen Einwohner aus der Stadt und erschossen sie. Mehr als 30.000 Juden kamen bei der Vernichtungsaktion ums Leben.

Vielfalt von Einzelprojekten soll historische Details erforschen

Während die grundsätzlichen Dimension unstrittig sind, gibt es im Detail noch viele Unklarheiten. Tanja Penter: "Für uns ist ganz wichtig, den Fokus auf diese noch wenig untersuchten Opfergruppen zu richten, wie diese Bewohner der vernichteten Ortschaften, wie verfolgte Roma, wie ermordete kranke und behinderte Menschen. Auch ein wichtiges Thema für die besetzten Gebiete, wo man bisher nur die annähernde Zahl von mindestens 20.000 hat und wo ich jetzt schon sagen würde: Es waren mit Sicherheit sehr viel mehr, nach den ersten Auswertungen der neuen Aktenbestände, die in der Ukraine zugänglich sind."
Die Vielfalt der Projekte im Rahmen von "Violence against Civilians" ist beeindruckend. Die renommierten russischen Stalinismusforscher Oleg Budnitzkij und Oleg Chlewnjuk untersuchen sowjetische Gewalt gegen die eigenen Bürger: Es geht um den Gulag im Krieg und um staatliche Repressionen im sowjetischen Hinterland nach dem Einmarsch der Deutschen. Valeryi Vasiliev editiert Sammelbände der in Kiew neu zugänglichen Dokumente aus sowjetischen Geheimdienstarchiven. Andere Projekte kreisen um lokale Kollaborateure der Deutschen auf der Krim, um die Shoah in der Südwestukraine und um sowjetische Strafverfahren gegen Funktionäre von Judenräten in den Ghettos.

Ermordung von behinderten Kindern im ukrainischen Preslaw

Tanja Penters Forschungsinteresse richtet sich auf die Ermordung von Behinderten und Kranken. Ein Beispiel: eine kleine Kolonie für behinderte Kinder in der südostukrainischen Ortschaft Preslaw am Asowschen Meer. Hier wurden im Oktober 1941 und im März 1943 144 Kinder erschossen.
"Das erste, was mich nicht überrascht, aber doch schockiert hat, war, dass dieses Verbrechen niemals in der Bundesrepublik untersucht worden ist. Dass dort Täter niemals zur Rechenschaft gezogen wurden, dass es niemals thematisiert wurde. Das zweite: die unterschiedlichen Tätergruppen, die in das Verbrechen involviert waren. Sie haben am Anfang bei der Ermordung der jüdischen und der nichtarbeitsfähigen behinderten Menschen die bekannte Tätergruppe der Einsatzkommandos, die aus ideologischen, rassistischen Gründen agieren. Aber wir haben in einem zweiten Schritt bei der Ermordung der restlichen behinderten Menschen ganz andere Täter, die quasi situativ zu Tätern werden, die einem Landwirtschaftskommando der Wirtschaftsinspektion angehören. Und wir haben die Beteiligung der ukrainischen Kollaborateur:innen."
Tanja Penter zeigt, was genau sich in Preslaw abgespielt hat, wer die Täter waren und welche Motive sie hatten. Es geht aber auch um die juristische Aufarbeitung solcher Fälle in Deutschland und der Sowjetunion. Und um die schwierige Erinnerung zum Beispiel in Preslaw:
"Das ist kein Einzelfall, sondern es gibt noch viele dieser Massengräber, die jetzt in einer neuen Welle seit Anfang der 2000er-Jahre auch aus Initiative der lokalen Anwohner exhumiert werden und wo das Bedürfnis besteht, die Orte dieser Verbrechen doch endlich zu kennzeichnen und daraus Gedenkorte zu machen. Und das ist dann im Falle der Ermordung dieser behinderten Menschen erst Anfang des 21. Jahrhunderts, 2007/8 passiert, dass das Massengrab exhumiert und nun als ein Gedenkort gestaltet worden ist."

Aktuelle politische Spannungen erschweren historische Forschung

Die Grundlage für Penters mikrogeschichtliche Studie war eine sowjetische Gerichtsakte, die ihr ukrainische Kollegen zugänglich gemacht hatten. Ein gutes Beispiel für die Synergieeffekte der parallelen Recherchen in russischen, ukrainischen und deutschen Archiven. Allerdings: Die politischen Spannungen zwischen Russland, der Ukraine und Deutschland seit 2014 waren nicht nur ein Anlass für das trilaterale Forschungsprojekt, sie prägen es auch. Auf allen Seiten wird die freundschaftliche, kollegiale Atmosphäre betont, Valery Vasiliev lobt das gute Verhältnis zu den Moskauer Kollegen. Allerdings:
"Die ukrainischen Historiker können nicht in den russischen Archiven arbeiten oder unsere Kollegen dort auf Konferenzen treffen, weil wir einfach Angst haben dorthin zu fahren. Wir wissen nicht, wie man uns empfängt, wir wissen nicht, welche unserer Artikel oder Bücher irgendwem nicht gefallen in Russland."
Das vielleicht noch größere Problem ergibt sich aus den überall in Osteuropa zunehmenden Versuchen, Geschichte zu politisieren. Tanja Penter: "Also wir sehen, dass seit 2013/14 gerade die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ein hochgradig vermintes Territorium geworden ist, dass es für unabhängige Historikerinnen und Historiker in der Ukraine und Russland auch immer schwieriger wird, zu diesen Themen zu arbeiten."
Das ukrainische Parlament während einer Abstimmung.
Ukrainische Regierung irritiert mit neuen Gesetzen
Das ukrainische Parlament hat einige Gesetze verabschiedet, die an alte nationalistische Ideen anknüpfen. Sowjetische Symbole jeglicher Art sollen ebenso wie nationalsozialistische Symbole verboten werden. Nicht nur in den Nachbarländern sorgen diese neuen Gesetze für Verwunderung.

Heftige geschichtspolitische Kämpfe auch in der Ukraine

Über den patriotischen Turn in Russland wird im Westen häufig berichtet. Präsident Putin legt seine fragwürdigen Ansichten zur Geschichte regelmäßig in Reden und Texten dar. Weit seltener werden bei uns die heftigen geschichtspolitischen Kämpfe in der Ukraine thematisiert. Penter:
"Auch in der Ukraine sind Geschichtsgesetze verabschiedet worden, wir hatten damals auch in der Historiker:innen-Gemeinschaft dagegen protestiert und einen Brief an Poroschenko geschrieben, dass er das doch bitte nicht unterzeichnen soll. Und diese Geschichtsgesetze sind auch sehr problematisch, sie sehen zum Beispiel vor, dass das Ansehen der Organisation Ukrainischer Nationalisten und der Ukrainischen Aufstandsarmee nicht beschädigt werden darf. Das bedeutet de facto, dass man sich auch nicht mit ihrer Verwicklung in NS-Verbrechen beschäftigen darf."
Aus Sicht des Ukrainischen Staates waren die Kämpfer der Ukrainischen Aufstandsarmee Patrioten, die für die ukrainische Unabhängigkeit kämpften. Unabhängige Historiker betonen dagegen, dass die UPA mit den deutschen Besatzern kollaborierte, am Holocaust beteiligt war und außerdem verantwortlich ist für Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung.
Valeryi Vasiliev mag in den ukrainischen Geschichtsgesetzen kein großes Problem erkennen und betont die fraglos existierenden Unterschiede zu Russland: "Ungeachtet dessen, was auf staatlicher Ebene vielleicht gesagt wird, gibt es in der Ukraine ein sehr breites Spektrum von Meinungen zu allen historischen Ereignissen. Der Staat sagt seine Meinung, versucht sie aber nicht aufzuzwingen, wie in Russland durch allerlei Kommissionen zur ‚Verhinderung der Entstellung des historischen Gedenkens‘."

Russische Geheimdienstarchive bleiben verschlossen

Ein Unterschied ist unbestritten: Im Gegensatz zu den russischen Geheimdienstarchiven sind die ukrainischen seit 2015 zugänglich. Und alles spricht dafür, dass hier noch viele Schätze zu heben sind. Offene Fragen gibt es in Hülle und Fülle. Vasiliev:
"Was ist mit den Kriegsgefangenen passiert? Hunderttausende sind in der Lagern umgekommen, auch in der Ukraine, aber es ist kaum erforscht. Die Arbeit der Einsatzgruppen C und D auf dem Gebiet der Ukraine ist nicht erschöpfend erforscht. Über die Fortsetzung der Aktion T4 auf dem Gebiet der Ukraine ist sehr wenig bekannt, die verbrannten Dörfer. Die Morde in den Gefängnissen - es gibt darüber fast nichts."
Eine entscheidende Frage können die Historiker allein nicht beantworten. Wie gelangen ihre neuen Erkenntnisse in die Öffentlichkeit und in die Köpfe der Bevölkerung? Kann auch und gerade in Deutschland das Desinteresse am Leid in Osteuropa je besiegt werden? Bundespräsident Steinmeier formulierte im Juni eher Sorgen als Hoffnungen:
"Der Krieg bleibt spürbar – wie eine Narbe, über die man mit den Fingern streicht. Doch tun wir Deutsche das? Schauen wir überhaupt dorthin, in den viel zu unbekannten Osten unseres Kontinents?"