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Ostukraine
Abspaltungstendenzen in Charkiw

Die Stadt Charkiw liegt nahe der russisch-ukrainischen Grenze, sie ist überwiegend russischsprachig. Das russische Außenministerium berichtete Anfang der Woche von angeblichen Exzessen Rechtsextremer in der Region und auch in Charkiw. Ein Lagebericht.

Von Gesine Dornblüth |
    Vor einem Gebäude in der ukrainischen Stadt Charkiv stehen Wachen.
    Die Gebietsverwaltung in Charkiv wird bewacht, nachdem das Gebäude am 1. März gestürmt worden war (dpa / Sharifulin Valery)
    Über den Freiheitsplatz von Charkiw dröhnt die Reklame eines kommerziellen Radiosenders. Die meisten Werbespots sind in russischer Sprache, einige ukrainisch. Der russische Föderationsrat hat sein Ja zu einem Militäreinsatz in der Ukraine damit begründet, die russischsprachige Bevölkerung vor allem in den östlichen Landesteilen schützen zu müssen. Olja und Anja studieren Computerwissenschaften. Zwischen den Vorlesungen schlendern sie durch das Stadtzentrum. Sie wollen nicht von russischem Militär beschützt werden.
    "Mein Vater stammt aus Russland. Deswegen spreche ich in der Familie Russisch, aber ich habe Freunde, die sprechen Ukrainisch, und das stört überhaupt nicht."
    "Putin dringt hier ein, in unser Land, in unser Haus, und sagt uns, was wir machen sollen. Das ist ja wohl nicht in Ordnung."
    Ob sie Angst haben vor rechten Banden, vor ukrainischen Nationalisten, von denen im russischen Staatsfernsehen die Rede ist? Die beiden Studentinnen schütteln den Kopf.
    "Wir haben Angst, dass die Ukraine auseinanderbricht. Dass die Krim verloren geht. Dass es hier Unruhen gibt wie in Kiew. Dass unsere Freunde in einem Krieg getötet werden."
    "Bösartigkeit und Despotismus von russischer Seite"
    Ein Stück weiter sitzt der Jurist Nikolaj auf einer Bank.
    "Ich spreche zwar Russisch, aber ich bin Ukrainer. Ich habe keine Angst vor Rechtsextremen. Ich habe auch keine Angst vor russischem Militär. Mich stört, wie sich Russland unserem Staat gegenüber verhält. Es gibt Gesetze, es gibt internationale Vereinbarungen. Demnach darf man Truppen nur zu Friedenseinsätzen in ein fremdes Land schicken, wenn es dort Unruhen gibt. Hier sehe ich keine Unruhen. Nur Bösartigkeit und Despotismus von russischer Seite."
    Zustimmung zu Russland und dessen Vorgehen kommt hingegen von älteren Menschen, jenen, die der Sowjetunion nachtrauern, wie die Rentnerin Larisa. Auch sie fühlt sich keineswegs bedroht von Extremisten, aber sie hofft, dass es ihr als Bürgerin Russlands besser gehen könnte.
    "Ich bin schwer krank. Ich habe einen Tumor, der Magen wurde mir entfernt, ich habe kein Geld für Medikamente. Russland ist besser für uns. Es ist uns näher. Europa kenne ich nicht. Aber es gefällt mir nicht."
    Auf Menschen wie Larisa setzen prorussische Gruppierungen in der Ostukraine wie "Welikaja Rus". Deren Chef in Charkiw, Jurij Apuchtin, hat früher beim Militär gearbeitet. In den letzten Wochen hat er diverse prorussische Demonstrationen in Charkiw organisiert. Dazu reisten Teilnehmer aus Russland an. Apuchtin befürwortet die Abspaltung der Krim und will Ähnliches auch in Charkiw erreichen.
    "Wir werden weiter demonstrieren, und wir werden das Gebietsparlament auffordern, eine Sondersitzung abzuhalten. Es soll ein Referendum beschließen, in dem die Ostukraine zunächst über mehr Selbstbestimmung abstimmen kann. Der Ukraine als Staat gebe ich keine Zukunft."
    Vorwürfe in Richtung der neuen Regierung in Russland
    Bei den Politikern in Charkiw stößt Apuchtin damit allerdings auf taube Ohren. Und zwar parteiübergreifend. Der Vorsitzende des Gebietsparlaments von Charkiw heißt Sergej Tschernow. Er gehört zur Partei der Regionen des geflüchteten Präsidenten Janukowitsch. Tschernow macht klar:
    "Ich werde das Parlament nicht einberufen. Das Gesetz der Ukraine kennt keine regionalen Referenden, sondern nur landesweite. Ich habe Charkiw immer als Bestandteil einer einheitlichen Ukraine gesehen und werde das auch immer tun."
    Die Partei der Regionen gibt sich derzeit kooperativ. In Charkiw ist sie stark. Prominente Mitglieder in Charkiw stehen jedoch unter Druck. In dieser Woche wurde der Ex-Gouverneur des Gebiets verhaftet, wegen Separatismusverdachts. Und auch der Bürgermeister von Charkiw erhielt eine Vorladung. Gegen ihn wird unter anderem wegen Mordverdachts ermittelt. Die Anhänger der beiden sprechen mittlerweile von einer Hexenjagd, die neuen Machthaber in Kiew, sagen sie, übten Rachejustiz und gefährdeten damit die nationale Einheit.