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Ostukraine
Zerrissene Heimat - zerrissene Menschen

Seit 2014 herrscht Krieg im Osten der Ukraine. Seit 2015 gibt es eine Friedensregelung, an die sich keiner hält. Weite Gebiete, die auch als Donbass oder Donezbecken bekannt sind, sind territorial zerrissen. Viele der früheren Bewohner wurden zu Umsiedlern, die meisten sind tief enttäuscht. Eine Reportage aus Kramatorsk.

Von Florian Kellermann |
    Nach dem Einschlag einer Rakete in der Stadt Kramatorsk versammeln sich viele Zivilisten um den Krater.
    Alltag in Kramatorsk: Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen im Norden des Donezbeckens. (afp / Volodimir Shuwajew)
    Der 12-jährige Kirill blüht auf. Er zeigt auf eine kleine Landschaft aus Legobausteinen, drei Figuren, ein Haus und ein Pferd:
    "Wir haben das Märchen vom Rettich genommen und nur ein bisschen verändert. Ein altes Ehepaar hat den Enkel bei sich aufgenommen, der eine Behinderung hat und nicht richtig gehen kann. Eines Tages pflanzen sie einen Rettich, der so riesig wird, dass sie ihn nicht aus der Erde ziehen können. Aber als die Eheleute einmal für kurze Zeit aus dem Haus gehen, schafft es der Enkel."
    Auf die Szene ist eine Kamera auf einem Stativ gerichtet, Kirill verrückt eine Figur einen halben Zentimeter und drückt ab. So entsteht ein Trickfilm zum Thema Integration und soziale Gerechtigkeit.
    Die Wunden sind längst nicht verheilt
    Kirill versteht, dass das auch sein Thema ist. Er wohnt in Kramatorsk, im Norden des Donezbeckens. Aber er stammt aus Donezk, 90 Kilometer weiter südlich. Von dort ist seine Familie geflohen, als eine Granate im Hof explodierte, das war vor drei Jahren. Jeden Tag denkt Kirill an seine Heimat:
    "Ich bin froh, dass sonst niemand aus meiner Klasse hier ist. Die Atmosphäre da ist sehr schlecht, alle hassen einander. In Donezk war alles viel besser. Kramatorsk, das ist überhaupt eine nicht besonders entwickelte Stadt. Schon das Warenangebot hier, es gibt ja fast nichts zu kaufen."
    Der 12-jährige Kirill aus Kramatorsk.
    Der 12-jährige Kirill aus Kramatorsk (Mitte). (Deutschlandradio/F. Kellermann)
    Der Krieg in der Ostukraine ist nicht Thema bei diesem Kindernachmittag, bei dem es um Trickfilme geht, und doch beschäftigt er fast alle. Auch in Kramatorsk gab es vor drei Jahren Separatisten. Die ukrainische Armee hat sie vertrieben, aber die Wunden sind längst nicht verheilt. Auch nicht bei Olena Kutscheruk, Leiterin des Jugendklubs "FreeUA", wo der Workshop stattfindet. Viele seien damals mit fliegenden Fahnen zu den Separatisten übergelaufen, erinnert sie sich:
    "Wir alle fühlen uns, als steckten wir in einem Sumpf, schon damals war das so. Dann kommt da jemand und sagt: Ich zieh dich da raus. Und schon greifen die Menschen zu. Das waren keine echten Anhänger der Separatisten. Die meisten haben sich schnell wieder davon losgesagt."
    Der Workshop bringt Kramatorsker und Flüchtlinge zusammen
    Olena war damals Lehrerin an einem technischen Institut. Sie hat gekündigt, weil sie sich, wie sie sagt, für ihre Kollegen geschämt hat.
    "Wenn wir alle aktiver gewesen wären und mehr Stolz gehabt hätten, dann hätten wir das ganze im Keim ersticken können, hier in Kramatorsk und in Slowjansk. Das war keine so mächtige Bewegung. Aber die Menschen haben keine Perspektiven für sich gesehen, und für die Jugendlichen war das, was bei den Separatisten passiert ist, etwas Aufregendes, Lebendiges."
    Eine andere Kindergruppe stellt ihre Szenen aus Obst nach, aus einer Banane haben sie ein dünnes Männchen geformt. Die Geschichte hier: Ein Immigrant kommt die Ukraine und arbeitet auf einer Baustelle. Die anderen helfen ihm, als er oben auf einem Gebäude Höhenangst bekommt.
    Das Projekt wird vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen finanziert, aus Kiew ist extra ein junger Regisseur angereist. "Gibt es noch ein Stativ?", ruft einer. Die Kinder verstehen schnell, dass es bei Trickfilmen auf Präzision ankommt. Olena hebt hervor, dass der Workshop angestammte Kramatorsker und Flüchtlinge zusammenbringt.
    "Es gibt viele Programme von Hilfsorganisationen, die nur Umsiedlern offenstehen. Das führt zu noch mehr Konflikten, denn jeder fragt doch: Wo bleibe ich? Und in Kramatorsk ist eben nicht viel geboten. Für Verdruss sorgt auch, dass einige Umsiedler so eine Anspruchshaltung haben, sie glauben, alle wären ihnen etwas schuldig. Meine Tante ist so, die wir bei meinen Eltern untergebracht haben. Das ist schon anstrengend."
    Für Autisten gibt es keine Angebote in Kramatorsk
    Aber es gibt auch die umgekehrte Sicht. Eine Kollegin von Olena, die aus Donezk stammt, erzählt von den Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden. Viele Vermieter winken sofort ab, wenn sich eine Familie aus den Separatistengebieten bewirbt.
    Am Rand des kleinen Saals sitzt eine Rentnerin. Sie ist mit ihrem Enkel gekommen, der eine autistische Störung hat.
    "Auf unser Viertel sind Bomben gefallen. Seitdem lebt er in Angst. Immer, wenn er ein Flugzeug hört oder wenn etwas kracht in der Nähe oder ein Schlag zu hören ist, verkriecht er sich. Das wird jetzt erst langsam besser. Er beruhigt sich langsam."
    Die Oma ist froh, dass ihr Enkel heute mit anderen spielen darf. Denn für Autisten gibt es keine Angebote in Kramatorsk.
    "Selbst Sportvereine nehmen ihn nicht auf. Wir bräuchten ein Zentrum für solche Menschen, wo sie auch einen Beruf erlernen und später Arbeit finden können. Unter ihnen sind ja auch sehr Begabte."
    Kritik an der Ukraine sei gefährlich, beklagt die Rentnerin
    Ljuba heißt die Rentnerin, ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Denn Kritik an der Ukraine sei gefährlich, beklagt sie. Sie erinnert an die Plakate, die vor einiger Zeit überall in Kramatorsk hingen. Separatismus sei eine Straftat, war da zu lesen, auf die mindestens sieben Jahre Gefängnis steht. Deshalb werde sie ihre Meinung nicht mehr sagen, erklärt Ljubow.
    Die von der Ukraine enttäuschte Rentnerin, die Klubdirektorin, die sich für ihre Ex-Kollegen schämt, der zwölfjährige Kirill, der seiner verlorenen Kindheit nachtrauert: Das Donezbecken ist nicht nur territorial zerrissen, auch die Menschen selber sind es. Und das werde noch lange so bleiben, meint Kirill:
    "Wenn alles vorbei ist, wird es noch mindestens 30 Jahre dauern. Allein, bis wir wieder alles aufgebaut haben, den schönen Flughafen in Donezk, den Bahnhof. Auch meine Zukunft sehe ich nicht besonders rosig. In Donezk hatte ich lauter Einser, hier eher Zweier und Dreier."