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OSZE hält die Lage in der Ukraine für kritisch

Klaus Remme: Am Telefon ist jetzt Geert Ahrens, OSZE-Botschafter für die Wahlen in der Ukraine. Guten Morgen Herr Ahrens.

Moderation: Klaus Remme |
    Geert Ahrens: Guten Morgen Herr Remme.

    Remme: Herr Ahrens, wir haben gehört, in der Nacht ist es ruhig geblieben in Kiew, Gott sei Dank. Wir haben aber auch gehört über Militärpräsenz. Für wie gefährlich, wie brisant halten Sie die Lage?

    Ahrens: Also es ist schon eine sehr ernste Lage hier, denn im Moment sind beide Seiten nicht wirklich bereit, miteinander zu sprechen. Die regionale Spaltung vertieft sich auch: der Westen sehr stark hinter Juschtschenko und im Osten ist eben Janukowitsch relativ stark. Es ist auch so schwer, aus diesem Wahldurcheinander wieder herauszukommen, denn die Lage ist so, dass die Wahlkommission gestern endgültig die Wahlergebnisse verkündet hat, obwohl wir seit Tagen hier die lebhaftesten Proteste gegen die Vorankündigung haben, und damit ist die Wahl nach dem Wahlgesetz abgeschlossen.

    Remme: Sie haben gesagt oder wir haben die Bilder gesehen der Demonstranten auf dem Platz der Unabhängigkeit. Es hat bisher fast den Eindruck eines Volksfestes, eines Happenings. Kann das kippen?

    Ahrens: Das kann kippen. Zunächst sind wir sehr stark von der demokratischen Substanz hier beeindruckt, schon im Vorfeld: die Nicht-Regierungs-Organisationen, dann Journalisten, die gegen die Bevormundung aufbegehrt haben und damit ihre Jobs riskiert haben, dann die hohe Wahlbeteiligung und jetzt diese ganz überwiegend fröhlichen Demonstranten, die bei Minus zehn Grad - so viel habe ich hier jedenfalls bei mir vor dem Fenster - dort ausharren und weiter demonstrieren. Aber es gibt Gruppen - gestern ist noch an mir eine vorbeigelaufen, so ungefähr fünf, zehn etwas wild aussehende Männer um die 30 -, die den rechten Arm zum Hitler-Gruß hoben und ganz laut "Sieg heil" schrieen auf Deutsch. Solche Gruppen dazwischen, die insinuieren sollen, dass Herr Juschtschenko der Rechten nahe steht, können natürlich so eine Situation zum Kippen bringen.

    Remme: Wir, die wir nun nicht täglich mit der Ukraine zu tun haben, haben den Eindruck, dass diese Politisierung der Gesellschaft, von der Sie gesprochen haben, sehr plötzlich kam. Stimmt das, oder haben wir etwas übersehen?

    Ahrens: Also ich kann das so genau nicht sagen, weil ich selbst ja mit der Wahlbeobachtungsmission erst seit drei Monaten im Lande bin. Aber wir waren überrascht über die demokratische Substanz, die hier herrscht und vor allen Dingen unter jungen Leuten der Enthusiasmus. Es wäre wirklich schade, wenn das jetzt hier unterdrückt würde. Wie man da rauskommt weiß ich nicht, aber ich habe hier mehr demokratische Substanz gesehen als in manchen anderen osteuropäischen Ländern, in denen ich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus tätig war, ohne dass ich die jetzt mit Namen nennen wollte.

    Remme: Herr Ahrens, da spielen wir doch mal zwei Möglichkeiten durch. Sie haben die Wahlen beobachtet. Nehmen wir mal an es gibt eine Neuauszählung. Würde das etwas bringen?

    Ahrens: Nein! Der Wahlbetrug ist davor geschehen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Hier gibt es statt der Briefwahl so genannte Abwesenheitszeugnisse. Das können Sie sich bei Ihrem Wahlamt holen und damit können Sie dann in irgend einem anderen Wahllokal wählen. Sie werden in Ihrer Heimat dann aus der Wählerliste gestrichen. Mit diesem Abwesenheitszeugnis gehen Sie in das Wahllokal. Die Wahlkommissionen hier sind sehr groß und von den Parteien zusammengesetzt. Sie gehen zu Ihrer Vertrauensperson dort hin. Die gibt Ihnen einen Wahlzettel. Sie stimmen ab, behalten aber ihr Abwesenheitszertifikat und gehen dann in das nächste Wahllokal. Wir nennen das hier Karussell fahren. Dann kann also eine Person so einige Male hier abstimmen. Diese ganzen Wahlzettel sind in den Urnen drin. Wollen Sie die jetzt abzählen? Damit wird das nichts. Ebenso im Osten, also in der Dornetsk-Region mit über vier Millionen Einwohnern. Dort hat sich die Zahl der Wähler oder derer, die gewählt haben, zwischen dem ersten Wahlgang und dem zweiten, also in drei Wochen, um ungefähr 700.000 vermehrt.

    Remme: Anderes Szenario, Herr Ahrens: Neuwahlen!

    Ahrens: Wie das rechtlich zu Stande kommen könnte, sehe ich im Moment nicht. Nach dem Wahlgesetz können nur die Wahlergebnisse einzelner Wahllokale anoliert werden und davon gibt es hier etwa 32.500 im ganzen Land. Aber es wäre vielleicht möglich, dass der Verfassungsgerichtshof doch zu irgendeiner Lösung dabei kommt. Es ist juristisch schwierig und inwieweit da auf das Verfassungsgericht oder eher auf den obersten Gerichtshof Verlass ist weiß ich nicht. Bisher hat der oberste Gerichtshof relativ unabhängig entschieden und eigentlich einen ganz guten Eindruck hinterlassen, aber das Vertrauen in diese Gerichte ist auch nicht sehr groß hier, wie mir Juschtschenko noch selbst persönlich gesagt hat.

    Remme: Herr Ahrens, Sie haben gerade verschiedene Beispiele von Wahlfälschungen gegeben. Hat die OSZE einen Eindruck gewonnen, in welchem Ausmaß das stattgefunden hat? War es wo möglich gar keine knappe Wahl?

    Ahrens: Es ist recht schwierig, das jetzt zu beziffern. Ich war gestern bei der zentralen Wahlkommission; ich werde heute Morgen hoffentlich noch mal dort hingehen können. Wir haben denen eine Liste von über zwei Seiten an Fragen vorgelegt, wo wir gesagt haben wie viele solcher Abwesenheitszertifikate sind ausgegeben worden, wie viele Leute haben damit gewählt, um wie viel mehr Wähler sind auf der Wählerliste erschienen, also eine ganze Menge solcher Fragen, die dann erst einen Eindruck davon ermöglichen, wie viel wirklich passiert ist. Aber nach der ersten Runde lagen ja die beiden Kandidaten nur ein halbes Prozent auseinander mit Juschtschenko vorne und die bei der ersten Runde ausgeschiedenen Kandidaten haben sich überwiegend für Juschtschenko erklärt. Jetzt haben wir bloß drei Prozent ungefähr für Janukowitsch. Das sind Zahlen, die sich in Größenordnungen bewegen, die natürlich leicht kippen können.

    Remme: Sie haben eben gesagt, die Wahl ist mit der Entscheidung der Kommission gestern eigentlich abgeschlossen. Damit auch die Arbeit der OSZE, oder machen Sie weiter?

    Ahrens: Nach dem Wahlgesetz sind ausländische Wahlbeobachtungsmissionen nur so lange zugelassen wie die Wahl noch andauert, so dass im Grunde unsere Tätigkeit beendet wäre. Wir hatten eine Verständigung mit der Wahlkommission, dass unsere Juristen und Wahlanalytiker, die wir hier ja haben, weitermachen können bis auch die letzte Wahlbeschwerde in Gerichten entschieden ist. Ich nehme an, dass es dabei wohl bleiben wird, aber genau darüber möchte ich heute mit der zentralen Wahlkommission sprechen. Wenn wir da jetzt nicht weiterkommen, werde ich dann erst mal ins Außenministerium gehen.

    Remme: Wir wissen, Herr Ahrens, dass natürlich Moskau vitales Interesse hat an diesem Wahlausgang. Ist für Sie als OSZE-Botschafter eine Einflussnahme Moskaus auf das Wahlergebnis zu erkennen?

    Ahrens: Das wird ja heute das Thema auf dem EU-Russland-Gipfel in Den Haag das Thema sein. Wir werden das dort besprechen. Natürlich hat Russland ein sehr starkes Interesse an diesem Land und wir hatten zwei Besuche von Putin hier. Ich möchte das nicht weiter kommentieren.

    Remme: Es gibt also möglicherweise Indizien?

    Ahrens: Na ja, ich meine sicherlich, ja.

    Remme: Geert Ahrens war das, OSZE-Botschafter für die Wahlen in der Ukraine. Herr Ahrens, vielen Dank für das Gespräch!

    Ahrens: Bitte schön!