Außerdem ermögliche die hohe Zahl an Mitgliedestaaten, über die großen Probleme in der Welt zu sprechen. Der SPD-Politiker ergänzte, dass sich die 57 Länder nicht auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigen konnten, sei keine Überraschung. Nur weil es keinen Konsens gebe, heiße das aber nicht, dass nichts gemacht werde. Wichtiger sei, dass das Treffen zu Gesprächen über den Ukraine-Konflikt und auch über Syrien genutzt worden seien.
Erler ergänzte, die OSZE spiele eine wichtige Rolle zur Beilegung des Ukraine-Konflikts. Die Organisation habe in diesem Jahr dazu beigetragen, im Südkaukasus und Transnistrien politische Lösungen zu finden.
Das Interview in voller Länge:
Stefan Heinlein: Über den Gipfel möchte ich jetzt sprechen mit dem SPD-Politiker Gernot Erler, im vergangenen Jahr der OSZE-Sonderbeauftragte der Bundesregierung. Guten Morgen, Herr Erler!
Gernot Erler: Guten Morgen, Herr Heinlein!
Heinlein: Viel Aufwand, wenig Ertrag, lässt sich so der Gipfel und die vergangenen zwölf Monate des deutschen OSZE-Vorsitzes zusammenfassen?
Erler: Nein, das wäre, glaube ich, nicht ganz gerecht gegenüber dem, was gemacht worden ist. Man darf ja nicht vergessen, dass bei einem der schlimmsten Konflikte in Europa, bei dem es jede Woche noch Opfer gibt, die OSZE eine ganz entscheidende Rolle dabei gespielt hat bei den Bemühungen, den nicht weiter ausufern zu lassen, den zu begrenzen, auch den Menschen vor Ort zu helfen und eben diesen politischen Prozess zur Lösung dieses Konflikts in der Ukraine voranzubringen. Das Gleiche gilt für den Südkaukasus. Hier hatten wir im April einen Ausbruch von Gewalt zwischen Armenien und Aserbaidschan mit offiziell 155 Toten, wahrscheinlich in Wirklichkeit deutlich mehr. Da ist es auch gelungen, einen Waffenstillstand einzurichten und wieder stärker sich zuzuwenden den Bemühungen um eine politische Lösung dieses Konfliktes, das ist auch in Transnistrien gelungen, dort wieder den Verhandlungsprozess aufzunehmen, das wird alles dazugehören zur Bilanz der OSZE im vergangenen Jahr.
"OSZE ist unverzichtbar"
Heinlein: Bleiben wir beim Stichwort Ukraine, sicherlich der wichtigste Konflikt hier in Europa. Da sagen Sie, es gibt Fortschritte, aber gestern hat man ja nicht einmal geschafft, eine gemeinsame Erklärung aller OSZE-Staaten zu diesem Thema zu Papier zu bringen.
Erler: Ja, da muss ich eben ansprechen die Frage, was wichtiger ist – dass man sich auf einen Text einigt oder dass man eben diese ganz besonderen Möglichkeiten der OSZE zu einem Dialog nutzt. Und das ist ja doch auch sichtbar geworden in Hamburg, denn es ist hier nicht über die Ukraine nur gesprochen worden, sondern am Rande hat es eben bilaterale Gespräche zwischen dem deutschen Außenminister und seinen beiden Kollegen aus den USA und Russland gegeben, aber auch unter den beiden anderen, also Kerry und Lawrow. Da ist zum Beispiel auch über Syrien gesprochen worden, gar kein Thema für die OSZE, aber das ist typisch. Die OSZE, da trifft man sich eben noch, während andere Plattformen für Kommunikation, für Dialog ja gar nicht mehr funktionieren. Die G8 gibt es nicht mehr, da ist Russland draußen, da gibt es nur noch G7. Der NATO-Russlandrat ist jahrelang abgeschaltet gewesen, da trifft man sich jetzt wenigstens auf der Ebene der Botschafter wieder. Es gibt keine Regierungskonsultationen mehr mit Deutschland und mit vielen anderen Ländern nicht, es gibt keine EU-Russland-Gipfel mehr. Aber es gibt noch die OSZE, und dort wird eben miteinander gesprochen, wird intensiv diskutiert, und das brauchen wir, das ist unverzichtbar.
Heinlein: Also die OSZE ist so etwas, wenn ich Sie richtig verstehe, wie ein lockeres Gesprächsforum, ähnlich wie die Münchner Sicherheitskonferenz mittlerweile.
Erler: Na ja, ob das locker ist, das sind schon sehr schwierige Gespräche, die da geführt werden, und das ist aber eben unverzichtbar, weil, wie gesagt, es keine andere Organisation gibt, wo eben wir eine Mitgliedschaft haben, die so breit ist – mit 57 Teilnehmerstaaten – und eben mit Russland an Bord und mit den Vereinigten Staaten an Bord und mit Kanada an Bord. Und da kann man eben diese Möglichkeit nutzen, um über die großen Probleme der Welt, eben auch solchen außerhalb der OSZE, zu reden, und das ist wichtig.
"Ein einziges Nein verhindert jede Entscheidung"
Heinlein: In der OSZE, Herr Erler, gilt ja das Einstimmigkeitsprinzip. Sollte das abgeschafft werden, wenn man denn mal irgendwann konkrete Ergebnisse erreichen will, blockiert dieses Prinzip der Einstimmigkeit nicht die Handlungsfähigkeit der Organisation?
Erler: Ich kann Ihnen sagen, dass natürlich das eine unglaubliche Herausforderung ist, dass man eben bei allen Dingen eine 57:0-Entscheidung braucht, weil ein einziges Nein von einem einzigen Land verhindert jede Entscheidung. Das ist ein Handicap, das ist natürlich auch etwas, was man missbrauchen kann und was missbraucht wird, dass bestimmte Länder dann ihre ganz egoistischen eigenen Themen auch in völlig andere Sachverhalte versuchen reinzubringen, um da voranzukommen mit ihren eigenen Interessen. Das ist schwierig, aber auf der anderen Seite bin ich fest davon überzeugt, dass das eine Grundbedingung auch für die künftige Existenz, und zwar mit 57 Mitgliedern ist, denn das bedeutet ja auch eine Garantie für jedes Land, dass nichts passieren kann gegen den eigenen Willen. Und wir sehen gerade, dass andere internationale Organisationen, die dieses Prinzip nicht haben, darunter leiden, zum Beispiel der Internationale Strafgerichtshof, denn dort treten Länder aus, sagen einfach, das gefällt uns nicht mehr, was dort passiert, wir machen da nicht mehr mit. Das könnte auch der OSZE drohen, wenn sie dieses Einstimmigkeitsprinzip, dieses Konsensusprinzip aufgeben würde.
Heinlein: Also man will niemandem wehtun bei der OSZE, und deshalb funktioniert es.
Erler: Man kann niemandem wehtun, weil wenn der sagt, das mache ich nicht mit, dann wird das schwierig. Man kann natürlich nicht Dialog verhindern, aber man kann Entschließungen, Beschlüsse verhindern, wo irgendetwas drinsteht, was einem nicht passt, und das zwingt eben zu ganz langwierigen Verhandlungen. Immerhin haben wir es jetzt geschafft, noch zehn Erklärungen und Entschließungen hinzukriegen, wobei vorgestern bis nachts verhandelt wurde, und das ist mehr, als normalerweise zustande kommt in den vergangenen Jahren. Aber es ist ganz typisch, dass zum Beispiel zur Ukraine kein gemeinsamer Text machbar war und dass eben auch diese, sag ich mal, wichtige Abschlusserklärung allgemeiner Art in der Form nicht zustande gekommen ist, aber das ist schon seit 2002 der Fall.
"Ukrainekonflikt ist eine große Herausforderung für die OSZE"
Heinlein: Herr Erler, Ihr Parteifreund, Außenminister Steinmeier, hat zum Auftakt des Gipfels gesagt, Zitat, die OSZE sei "ein Leuchtturm, der uns Orientierung gibt", Zitat Ende. Wie groß ist denn noch die gemeinsame Wertebasis innerhalb der OSZE, innerhalb der OSZE-Staaten? Mit Russland entwickeln sich ja viele Dinge eher auseinander.
Erler: Da haben Sie recht, aber es ist eben eine gemeinsame Wertebasis. Die OSZE stützt sich auf die Beschlüsse der Schlussakte von Helsinki von 1975 und der Charta von Paris für ein neues Europa von 1990, und darin sind solche Prinzipien festgelegt wie Anerkennung der Souveränität der Staaten, wie Anerkennung der Gültigkeit der Grenzen, wie Gewaltverzicht und friedliche Konfliktlösung als Prinzipien, und alle 57 Staaten haben das auch mit Unterschrift verbindlich anerkannt. Aber natürlich sehen wir Verstöße, und einer der heftigsten Verstöße ist eben das russische Verhalten in dem Ukrainekonflikt mit der Annexion der Krim und der Intervention in der Ostukraine. Und das ist jetzt logischerweise eine große Herausforderung für die OSZE. Ohne die Beobachter der Special Monitoring Mission in der Ostukraine wüssten wir überhaupt nicht, was in diesem Konflikt vor Ort tatsächlich passiert, das ist unsere einzige verlässliche Quelle.
Ohne die Arbeit der trilateralen Kontaktgruppe in Minsk in vier Arbeitsgruppen, wo der einzige Platz ist, wo Russen, Ukrainer und Vertreter der Separatisten in der Ostukraine an einem Tisch sitzen, moderiert von der OSZE, hätten wir gar keine Vorbereitung für die Suche nach der politischen Lösung – dieses Normandie-Format versucht also die Bundeskanzlerin mit den Präsidenten Hollande, Poroschenko und Putin zusammen. Die OSZE beschäftigt sich ganz intensiv mit diesem Konflikt und hilft auch den Leuten vor Ort in der Region, die ja schwere Not leiden unter diesem Konflikt, also bemüht man sich, das zum wichtigen Gegenstand zu machen, wo eine wichtige Vertragsverletzung stattgefunden hat.
"Werteorientierte kollektive Sicherheitsorganisation"
Heinlein: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Erler, was Sie eingangs gesagt haben, kann man das eigentlich nur hinter den Kulissen besprechen und darf nicht offensiv dann das ein oder andere Mitglied dann anprangern in Schlusskommuniqués et cetera.
Erler: Man kann niemanden vorführen, das geht nicht, mit dem muss ja darüber verhandelt werden, damit der zustimmen würde, und das erreicht man dann eben nicht. Ich schildere das immer an einem Beispiel: Wenn man eine Ukraine-Erklärung macht, wo drin steht, Annexion der Krim, dann wird man keine russische Zustimmung finden, wenn aber das genau nicht drin steht, wird man keine ukrainische Zustimmung finden. Also insofern ist man da dann natürlich in diesem Konsensproblem, aber das heißt ja nicht, dass nichts gemacht wird. Das habe ich eben versucht zu schildern, dass vor Ort da sehr viel gemacht wird, dass die OSZE hier eine unverzichtbare Rolle hat bei den Bemühungen um eine politische Lösung und dem Verzicht auf eine militärische Lösung, und dass es natürlich der Anspruch der OSZE ist, alle Länder wieder zur Beachtung, nicht nur wieder, sondern generell auch zur Beachtung dieser Prinzipien, die ich genannt habe, zu bringen, denn das ist eine werteorientierte kollektive Sicherheitsorganisation, wie sie es in dieser Form nicht noch einmal auf der Welt gibt.
Heinlein: Der OSZE-Sonderbeauftragte der Bundesregierung Gernot Erler heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Herr Erler, ich danke für das Gespräch und ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!
Erler: Das wünsche ich Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.