Als Gott den Völkern ihre Länder auf der Erde zuwies, so heißt es in einer georgischen Sage, hatten die Georgier nach einem rauschenden Fest den Termin verschlafen. Doch Gott hatte Nachsehen und schenkte dem georgischen Volk das Land, das er eigentlich für sich selbst vorgesehen hatte. Glück hat es den Georgiern in ihrer 1500-jährigen Geschichte nicht gebracht. Über Jahrhunderte war der Kaukasus von imperialen Mächten umkämpft. Allein Georgiens Hauptstadt Tiflis, Knotenpunkt der Karawanenrouten an der Seidenstraße, soll neunundzwanzigmal niedergebrannt sein. Einst war Georgien Teil des Römischen Reichs, im siebten Jahrhundert fielen die Araber ein, dann die Mongolen, später die Perser und in der frühen Neuzeit die Türken. Ab 1801 rückte schließlich Russland ein, erklärte Georgien zur Kolonie und blieb, bis auf eine kurze Unterbrechung, bis zum Ende der Sowjetunion.
Verfechter der georgischen Unabhängigkeit
Eigentlich habe das Land bereits im Mittelalter aufgehört zu existieren, meint der georgische Autor Otar Tschiladse in seinem National-Epos "Der Korb".
"Als sich der römische Papst Pius II. mit der Absicht trug, die Osmanen aus Byzanz zu vertreiben [...], da machte sich der Papst zunächst, ganz klar, einen Plan, wie er vorgehen wollte, und als Erstes schickte er einen Gesandten, einen gewissen Ludovico da Bologna, nach Georgien, denn unter den christlichen Staaten des Orients setzte er seine Hoffnungen vor allem auf den Beistand dieses Landes. Jedoch [...] Ludovico da Bologna fand Georgien nicht einmal mehr an seinem Platz vor, will sagen, jenes für seinen ritterlichen Edelmut und seine kriegerische Tapferkeit gerühmte Land, dessentwegen er die reichlich weite und [...] nicht ganz ungefährliche Reise unternommen hatte. Georgien existierte faktisch nicht mehr, wie aber hätte man in Rom ahnen sollen, dass zweihundert Jahre Mongolenherrschaft das stolze, ruhmvolle, über reichlich Krieger und tüchtiges Volk verfügende Land vollends in den Ruin treiben würden?"
Der 2002 auf Georgisch erschienene Roman wird als das finale Hauptwerk des Dichters und Prosa-Autors angesehen. Zeitlebens setzte sich Otar Tschiladse für die georgische Unabhängigkeit und die patriotische Rückbesinnung auf die eigene Geschichte ein. Der moralische Verfall, die Fremdbeherrschung Georgiens, die bereitwillige Auslieferung des Landes an eine fremde Macht, das von Unglück geprägte Schicksal der georgischen Nation sind die Grundmotive von Tschiladses insgesamt sieben Romanen.
Der 2002 auf Georgisch erschienene Roman wird als das finale Hauptwerk des Dichters und Prosa-Autors angesehen. Zeitlebens setzte sich Otar Tschiladse für die georgische Unabhängigkeit und die patriotische Rückbesinnung auf die eigene Geschichte ein. Der moralische Verfall, die Fremdbeherrschung Georgiens, die bereitwillige Auslieferung des Landes an eine fremde Macht, das von Unglück geprägte Schicksal der georgischen Nation sind die Grundmotive von Tschiladses insgesamt sieben Romanen.
Erbarmungslose und grausame Korbmenschen
Die Haupthandlung von "Der Korb" beginnt mit der Besetzung durch die Russen 1801. Der Chef des russischen Militärpostens vergnügt sich lustvoll mit der Frau eines georgischen Hirten. Zur Ehrenrettung der Familie erschlägt dieser zuerst seine Frau und ersticht dann sich selbst. Was der Hirte nicht ahnt: Der zweijährige Sohn, der das Geschehen aufmerksam aus einem Korb heraus beobachtet, wächst zum furchtbaren Gewalttäter heran. Rashden Kascheli ist der Stammvater einer neuen Gattung von "Korbmenschen", Ursprung einer neuen Rasse, die mehrere Generationen hindurch die Geschicke Georgiens bestimmen soll. Rashden Kaschelis Sohn Anton etwa wird zum willfährigen Mordinstrument des Großen Terrors auf Befehl eines gewissen Josef Stalin, selbst gebürtiger Georgier.
"Sein soeben geborener Sohn konnte als Zweijähriger mit geschlossenen Augen ein Gewehr zerlegen und wieder zusammensetzen, als Fünfjähriger tötete er damit den Nachbarshund und mit fünfzehn schoss er bereits auf Menschen. Die Jahre 1936, 1937, 1938, 1939 brachten ihn zu großem Ruhm. In den Zuchthäusern erkannte man ihn an seinem Schritt. Schier Unglaubliches erzählte man sich über seine Erbarmungslosigkeit und Grausamkeit. Dabei wurde er nicht von Berechnung und Eigennutz getrieben wie die meisten, nicht Rachedurst erfüllte ihn wie manch anderen, auch rechnete er nicht, wie ein wahrer Bolschewik, mit 'Volksfeinden' ab, mit 'Kulaken' oder mit 'georgischen Nationalisten' - es war ihm schlicht egal, wessen Blut er vergoss [...]."
"Sein soeben geborener Sohn konnte als Zweijähriger mit geschlossenen Augen ein Gewehr zerlegen und wieder zusammensetzen, als Fünfjähriger tötete er damit den Nachbarshund und mit fünfzehn schoss er bereits auf Menschen. Die Jahre 1936, 1937, 1938, 1939 brachten ihn zu großem Ruhm. In den Zuchthäusern erkannte man ihn an seinem Schritt. Schier Unglaubliches erzählte man sich über seine Erbarmungslosigkeit und Grausamkeit. Dabei wurde er nicht von Berechnung und Eigennutz getrieben wie die meisten, nicht Rachedurst erfüllte ihn wie manch anderen, auch rechnete er nicht, wie ein wahrer Bolschewik, mit 'Volksfeinden' ab, mit 'Kulaken' oder mit 'georgischen Nationalisten' - es war ihm schlicht egal, wessen Blut er vergoss [...]."
Wortgewaltige Seelenschau menschlicher Schwächen
Otar Tschiladse bedient sich in seiner unbändigen Fabulierlust mythologischer Bilder, um die Gräuel der Sowjetisierung und die Zerschlagung der georgischen Volksgemeinschaft nachzuerzählen. Nicht die Chronologie kanalisiert den scheinbar unerschöpflichen Erzählfluss Tschiladses. Es sind Assoziationen, Szenen, Bilder, sich widersprechende Versionen, wechselnde Erzählerstimmen, Träume, Visionen und Zeitensprünge, die in diesem Roman ein faszinierendes Universum von wimmelnden Geschichten und psychologischen Querverbindungen entstehen lassen. Ihn interessiere nicht die Geschichte des Menschen, sondern die Geschichte im Menschen, hat Otar Tschiladse einmal gesagt. Und tatsächlich betreibt er mit seinen Figuren eine wortgewaltige Seelenschau, die menschliche Schwächen zelebriert und tragische Konflikte heraufbeschwört.
Die Dynastie der Kaschelis, deren Urvater einst dem Korb entsprang und sich nun fortpflanzt wie eine Seidenraupe, steht im Mittelpunkt der erzählten Gegenwart: Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens 1991 will sich der letzte Abkömmling, Anton Kascheli der Jüngere, endlich von seiner Brut lossagen. Aber schon auf der Hochzeitsreise mit seiner Braut Lisiko wirft der Vater ein Auge auf seine Schwiegertochter. Den zwanghaften, niederträchtigen Verrat des Vaters verbindet Otar Tschiladse mit dem Bild der Kriebelmücke, die so wie die Russifizierung des Landes die Georgier wie eine quälende Plage verfolgt.
"Nicht Kriebelmücken umschwärmten sie, eine wahre Feuerbrunst wütete ringsum, und die züngelnden Flammen legten alles spurlos in Asche - alles was die Beziehung zwischen Vater und Kind, Schwiegervater und Schwiegertochter, zwischen Alt und Jung wie überhaupt jegliche zwischenmenschliche Beziehung begründete. Da war nichts mehr außer seinem Verlangen, und ihm blieb nur übrig, sich diesem Verlangen zu fügen. Obwohl, er wusste selbst nicht recht, was er tat, denn was er tat, war einfach Wahnwitz, eine unerhörte Dreistigkeit seinerseits. Doch genau besehen - was hatte er schon getan?! Er war hingegangen und hatte die Hand auf ein Eigentum gelegt. War das anstößig? War Lisiko nicht bereits ein Eigentum so wie sein Sohn Anton und seine Frau Fefe [...]?"
Die Dynastie der Kaschelis, deren Urvater einst dem Korb entsprang und sich nun fortpflanzt wie eine Seidenraupe, steht im Mittelpunkt der erzählten Gegenwart: Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens 1991 will sich der letzte Abkömmling, Anton Kascheli der Jüngere, endlich von seiner Brut lossagen. Aber schon auf der Hochzeitsreise mit seiner Braut Lisiko wirft der Vater ein Auge auf seine Schwiegertochter. Den zwanghaften, niederträchtigen Verrat des Vaters verbindet Otar Tschiladse mit dem Bild der Kriebelmücke, die so wie die Russifizierung des Landes die Georgier wie eine quälende Plage verfolgt.
"Nicht Kriebelmücken umschwärmten sie, eine wahre Feuerbrunst wütete ringsum, und die züngelnden Flammen legten alles spurlos in Asche - alles was die Beziehung zwischen Vater und Kind, Schwiegervater und Schwiegertochter, zwischen Alt und Jung wie überhaupt jegliche zwischenmenschliche Beziehung begründete. Da war nichts mehr außer seinem Verlangen, und ihm blieb nur übrig, sich diesem Verlangen zu fügen. Obwohl, er wusste selbst nicht recht, was er tat, denn was er tat, war einfach Wahnwitz, eine unerhörte Dreistigkeit seinerseits. Doch genau besehen - was hatte er schon getan?! Er war hingegangen und hatte die Hand auf ein Eigentum gelegt. War das anstößig? War Lisiko nicht bereits ein Eigentum so wie sein Sohn Anton und seine Frau Fefe [...]?"
Orientierungslosigkeit nach der Unabhängigkeit
Das Bild des übermächtigen, gnadenlosen Vaters leitet Tschiladse durch seinen wie im Fiebertraum verfassten Assoziationsstrom. Die mächtige Vaterfigur findet sich einerseits in der lähmenden Agonie und Orientierungslosigkeit, die Georgien nach der Unabhängigkeit 1991 befällt. Zugleich fabuliert der zartbesaitete Sohn des Tyrannen Raschden Kascheli immer wieder vom Mord am eigenen Vater, der ihm seine geliebte Lisiko raubt und sein Leben erdrückt. Nach 23 Jahren im Gefängnis sucht Anton 1991 die Freiheit. Was aber fängt man überhaupt an mit dieser Freiheit, wenn man nicht enden will, wie so viele georgische Emigranten, die ihr Land verlassen, aber kein neues Zuhause gefunden haben?
"Wir Georgier kehren nicht mehr freiwillig zurück. Wir sind Masochisten. Wir genießen es, an Nostalgie zu leiden. Wir staffieren unsere Emigrantenwohnung georgisch aus, schmücken sie mit Wandbehängen aus Tuscheti, mit einer Tschonguri aus Megrelien mit allerlei Keramikgeschirr aus dem imeretischen Dorf Schroscha und greinen lauthals: Oh, das hat man uns alles genommen, oh, wie lieb ist uns hier, was wir dort nicht geliebt haben! Unser Nationalstolz gibt sich damit schon zufrieden."
"Wir Georgier kehren nicht mehr freiwillig zurück. Wir sind Masochisten. Wir genießen es, an Nostalgie zu leiden. Wir staffieren unsere Emigrantenwohnung georgisch aus, schmücken sie mit Wandbehängen aus Tuscheti, mit einer Tschonguri aus Megrelien mit allerlei Keramikgeschirr aus dem imeretischen Dorf Schroscha und greinen lauthals: Oh, das hat man uns alles genommen, oh, wie lieb ist uns hier, was wir dort nicht geliebt haben! Unser Nationalstolz gibt sich damit schon zufrieden."
In der neuen Zeit der Freiheit bleibt Antons Mord am Vater ungestraft, weil der neue Untersuchungsrichter es so will. Während draußen die Demonstranten für die den großen Neuanfang paradieren, probt Anton in der Nachtbar die unbegrenzten Möglichkeiten der freien Welt und holt sich dabei eine blutige Nase. Antons Braut Lisiko will derweil ihr Leben beenden, weil sie sich dem Schwiegervater ergeben hat, genau so wie das junge Georgien sich erneut den alten sowjetischen Eliten andient. Lisikos Vater, der Schriftsteller Elisbar, grämt sich währenddessen vor Scham, dass er der Zerstörung seiner Heimat durch die Russen tatenlos zusah.
Pessimistisches Resümee der georgischen Nationalgeschichte
Otar Tschiladses hat einen ebenso tragischen wie fein-ironischen Roman geschrieben, der wie ein entgrenzter innerer Monolog mäandert. "Völker vergessen, Menschen vergessen nicht", hat der große Seelenerkunder Tschiladse einmal gesagt. Und tatsächlich reißt es seine Figuren in den Strudel der Geschichte, sie enden im Wahnsinn. Otar Tschiladse zieht ein pessimistisches Resümee der georgischen Nationalgeschichte und bietet zugleich eine fesselnde, wie er es nennt, "Seelengeschichte des georgischen Volkes". Wer verstehen möchte, wie Georgien sich mühevoll als Nationalstaat wiedererfunden hat und welche Angst man bis heute vor einer erneuten russischen Besetzung hat, der wird in diesem Roman fündig.
Bis 1991 wurde die georgische Literatur gezielt an den Rand gedrängt, kaum übersetzt. Mit seinem Werk platziert Otar Tschiladse Georgien eindrucksvoll auf der literarischen Weltkarte.