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Otar Tschiladse
Georgische Seelengeschichte

Otar Tschiladse wurde 1933 in Ostgeorgien geboren und starb 2009. Zunächst machte sich der georgische Schriftsteller als Lyriker einen Namen. Seine sechs großen Romane bezeichnete er als Seelengeschichte des georgischen Volkes. Sein Debütroman von 1973, "Der Garten der Dariatschangi", ist nun auf Deutsch erschienen - ein zeitloses Werk.

Von Jan Koneffke |
    Aufgeschlagenes Buch
    Für Jan Koneffke ist "Der Garten der Dariatschangi" ein süffiges Lesevergnügen. (imago / blickwinkel)
    In einer georgischen Legende ruft Gott alle Völker der Welt an einem bestimmten Tag um zwölf Uhr zu sich, um ihnen jeweils ein Land zuzusprechen. Die Georgier aber feiern abends zuvor ein rauschendes Fest, das bis zum Morgengrauen andauert. So verschlafen sie den Termin, und als sie endlich, Stunden später, beim lieben Gott eintreffen, hat er schon alle Länder der Welt verteilt. "Aber was sollen wir denn jetzt machen", klagen die Georgier, "wir brauchen doch auch ein Land." Nach langem Hin und Her hat Gott ein Einsehen. "Na gut", seufzt er, "dann kriegt ihr eben das Land, das ich für mich selbst reserviert hatte."
    Der georgische Autor Otar Tschiladse steht mit seinen Büchern für diese Heimatliebe ein. Auch wenn sein 650 Seiten umfassendes Meisterwerk "Der Garten der Dariatschangi" in der griechischen Antike spielt, handelt es sich dabei keineswegs um einen historischen Roman. Auf den ersten 200 Seiten greift er zwar die berühmte Argonautensage auf, verleiht ihr aber eine gänzlich neue Gestalt. Das liegt nicht nur daran, dass Tschiladse die Landung des Jason in der Kolchis aus der Perspektive des eroberten Volkes erzählt. Obwohl dem Roman Magie nicht fremd ist, etwa da, wo der Autor seine Leser an den Gedanken eines Tieres oder eines Gegenstands beteiligt, bricht er doch auch die Magie der Ereignisse. Das geschieht an entscheidender Stelle: Phrixos, laut Mythos ein Königssohn, der auf einem Widder übers Meer flog, wird im Roman zu einem Kind armer Leute, das vom kretischen König Minos für eine List missbraucht wird.
    Der Widder wurde mitsamt dem Jungen vor der Küste der Kolchis von Bord geworfen und ist keine Sekunde geflogen. Aietes aber, der in der Hauptstadt Wani residierende König, erbarmt sich des angeblich in der griechischen Heimat verstoßenen Thronerben und nimmt ihn in die Herrscherfamilie auf. So nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Das Goldene Vlies, in Wahrheit nur eine "räudige Widderhaut", wird zum Vorwand einer kriegerischen Forderung, unter dem die Griechen das fremde Land erobern.
    Tschiladses Roman vermenschlicht auch die mythische Figur der Medea, die aus Liebe zu Jason - einer Liebe, die sich keiner Erfahrung, sondern der Imagination verdankt - sowohl ihren Vater, als auch ihr Land verrät. Das Magische geht dieser romantischen Seele völlig ab - nicht aber dem Buch, das sie nach ihrer Abreise mit Jason gänzlich aus dem Blick verliert, weil es nicht den Medea-Mythos forterzählen möchte, sondern die Folgen, die die Eroberung der Kolchis für die Unterworfenen hat.
    Magisch nämlich verschränkt es die Ankunft des Phrix auf dem angeblich fliegenden Widder und die Eroberung der Kolchis mit einer Veränderung der Natur: Bald verschwindet der paradiesische Garten der Dariatschangi, und auch das Meer beginnt, sich zurückzuziehen.
    "Der vom Meer im Stich gelassene Streifen Erde, feucht und knittrig wie die Haut eines Neugeborenen, wurde allmählich breiter und säumte die gesamte Küste mit einem Trauerrand. Danach bildete sich zwischen Wani und dem Meer ein mächtiger Sumpf, der grün, blasig und schleimig war wie der Auswurf eines Drachen. Die einstmals berühmte, aller Welt bekannte Stadt wurde zu einem abgeschiedenen, unerreichbaren, öden Ort. Vorbei die Zeit, da aus den Fenstern aller Waner Häuser das Meer zu sehen, in allen Waner Häusern sein angespanntes, unentwegtes Schnaufen zu hören war und es keinem Waner in den Sinn gekommen wäre, das Fenster zu öffnen, nur um aufs Meer zu schauen, oder, in schlafloser Nacht sich im Bett hochrichtend, nach dem Meer zu lauschen. Das Meer war für die Waner immer dagewesen."
    Eindringliche Figurenzeichnung
    Dass die symbolische Ebene des Romans dennoch nicht überfrachtet wirkt, liegt vor allem an Tschiladses psychologisch eindringlicher Figurenzeichnung. Sie erstreckt sich sowohl auf das vom Mythos abweichende Personal, als auch auf die fiktiven Figuren, die den größeren Teil des Romans bestreiten. Dabei stehen der Krieger Ucheiro, seine Kinder und Enkelkinder, die schwarzäugige Hure Malalo und ihre sieben Töchter oder der unsterbliche Wiegenmeister Batschia, der den Geruch des Holzes angenommen hat, was die Spechte dazu verleitet, sich auf ihm niederzulassen, für ein selbstverschuldet aus dem Paradies vertriebenes Volk und eine Gesellschaft im Niedergang. Ucheiro, ein Exilant, begeht, ohne sich dessen bewusst zu sein, Verrat an der Heimat. Im Dienste einer fremden Macht erobert er für den erbärmlichen, sich wie Phrix fälschlich als Königssohn aufspielenden Spross eines Stallknechts, Oqadshado, den Thron der Kolchis. Das Schicksal bestraft ihn dafür hart: Schon bei der Ankunft in der Heimat erleidet Ucheiro einen Unfall und bleibt Zeit seines restlichen Lebens ans Bett gefesselt; seine Ursünde reißt auch die Nachkommen, Popina und Pharnaos, ins Verderben.
    Ihr blindes Schuldbewusstsein, ihre Zaghaftigkeit verurteilt beide zum Untergang, der sich bis ins dritte Glied erstreckt. Auch Pharnaos' Frau oder seine unglückliche Kinderliebe Ino werden Opfer ihrer Erinnerungsseligkeit, die sie umso unnachgiebiger beherrscht, je verdorbener die Gegenwart ist, ihrer Engelsgeduld, die sich vom Starrsinn nur schwer unterscheiden lässt, und ihrer Hilflosigkeit. Ganz Kolchis lebt geschichtsvergessen in den Tag hinein.
    "Den Menschen war etwas entfallen, sie hatten etwas vergessen ... irgend so etwas schwante der Stadt, ihr Gedächtnis indessen stellte sich stur, es öffnete keine Tür und ließ die Menschen draußen stehen wie die zornige Ehefrau zur Strafe den weinselig heimkehrenden Ehemann. Da steht der Ärmste vor seinem Haus und weiß nicht, was er verbrochen hat. Wenn die Tür wenigstens einen Spaltbreit aufginge, so viel, um den Geruch des Hauses wahrzunehmen, dann würde er alles wiedererkennen, die gewohnte Umgebung umstriche ihn wie ein treuer Hund, leckte ihm Hände und Gesicht."
    Zu puren Funktionsträgern der Erzählung einer "gewöhnlichen Annexion" werden die Figuren dennoch nicht. Tischladse interessierte sich, wie er meinte, weniger für die Geschichte der Menschen als für die "Geschichte im Menschen". Dieses Interesse spiegelt sich in der psychologischen Tiefenschärfe seines Romanpersonals.
    Das Ergebnis überrascht: So hat es der Leser mit einem wahren Epos zu tun, dessen Generationen übergreifender Bogen auf sicheren Pfeilern wiederkehrender Motive und Symbole ruht. Zeit und Ort wirken archaisch, die Figuren hingegen modern. Die plastische Sprache wiederum verrät den Lyriker, doch ihre Anschaulichkeit scheint sich auch der bildhaften Muttersprache zu bedienen. Da geht es Pharnaos "wie jenem Bären, der mit dem Wald schmollte, indessen der Wald von keinem Zerwürfnis wusste", und die unschuldige Nacktheit zweier Liebender wird vom Garten der Dariatschangi nicht verborgen, sondern noch sichtbarer gemacht, "wie die Nacht vom Lagerfeuer". Eine Unzahl von Wie-Vergleichen und Metaphern tragen dazu bei, dass der Roman seltsam - und anziehend - zeitlos bleibt.
    Süffiges Lesevergnügen
    Keinen Zweifel gibt es an dem süffigen Lesevergnügen, das er bereitet. Und obwohl Otar Tschiladse ein in Russland erfolgreicher Autor war, denkt der Leser unwillkürlich, wenn vom kretischen König Minos die Rede ist, der sich die Kolchis unterwarf, an den Zaren in St. Petersburg oder die Herrscher im Moskauer Kreml.
    Otar Tschiladse: "Der Garten der Dariatschangi", Roman, aus dem Georgischen und mit einem Nachwort von Kristiane Lichtenfeld, Matthes&Seitz, Berlin 2015, 663 Seiten.