Der Übermut der Reichen, die Rücksichtslosigkeit der Rüpelrepublik, das sind Jingles der Kulturkritik. Und es gibt ja Gründe, die Ohnmacht der Moral als den Preis der Moderne zu sehen. Aber haben wir es tatsächlich mit einer moralischen Auszehrung unserer Zeit zu tun? Otfried Höffe glaubt das nicht. Er ist emeritierter Professor für Philosophie in Tübingen, sein ganzes Leben hat er sich mit Fragen der Ethik, der Gerechtigkeit und Politik befasst - und gerade ein Buch veröffentlicht, das den verblüffenden Titel trägt: „Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert". Höffe verweist auf ein bezeichnendes Phänomen: Die Neigung zur Skandalisierung in der Gegenwart. Bezeichnend, weil die Skandalisierung moralische Empfindlichkeit des Publikums voraussetzt. Das ist zunächst nur eine hübsche Pointe. Doch dann untersucht Höffe vier für die Moderne besonders wichtige Bereiche, in denen die Moral den Anstoß gab: Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Soziales. Beispiel Wissenschaft: Das Ideal des antiken Forschers war die reine, von allen Nützlichkeitserwägungen freie Erkenntnis. Die Forschung der frühen Neuzeit dagegen will das Lebensglück der Mitmenschen fördern. Aus der Lust des Forschers am Erkennen wird ein Auftrag zum Wohle der Mitmenschen.
"Während das christliche Mittelalter kontemplative Wissenschaften wie Philosophie und systematische Theologie höher schätzt, erhebt paradoxerweise die nicht mehr so christliche Neuzeit das christliche Ideal der Nächstenliebe zum Leitprinzip."
Die Marktwirtschaft wurde von Adam Smith propagiert, der eine Professur für Moralphilosophie innehatte. Denn der Markt befördert das Gemeinwohl, auch wenn die Marktteilnehmer ihren persönlichen Vorteil suchen. Für die Politik der frühen Neuzeit liegt der moralische Auftrag auf der Hand: Freiheit und Wohlfahrt der Bürger. Und noch mehr gilt das für den Sozialstaat, ein viertes Merkmal der Moderne. Jedes Mal diagnostiziert Höffe starke moralische Antriebskräfte. Diese Antriebskräfte setzen Prozesse in Gang, die sie irgendwann nicht mehr steuern können. Höffe spricht hier von „Initialmacht". Sie überdauert nicht, an ihre Stelle muss deshalb die Kontrollmoral treten. Ist diese ähnlich lebenskräftig? Höffe ist zuversichtlich. So tritt der Sozialstaat langfristig einem entfesselten Markt entgegen. Und auch den moralischen Kontrollinstanzen, die die Wissenschaft und Forschung prüfen, traut er einiges zu. Ein Wunder ist das nicht, er leitet die Schweizer Ethikkommission für die Humanmedizin. Höffe teilt nicht das verbreitete Gefühl eines heillosen Zustands unserer Welt. Von einem vorsichtig konservativen Standpunkt aus ist er Optimist. Er hält den Sozialstaat für eine große Leistung, insofern er den Gefahren des Marktes entgegentritt. Das ist für ihn ein Beispiel wirksamer Kontrollmoral. Aber der Autor sieht auch die heikle Seite: Sozialpolitische Besitzstände werden im Namen der sozialen Gerechtigkeit verteidigt – ein weiterer Beleg für die Macht der Moral, wenn auch von der bedenklichen Seite:
"Dass der konsumtive Anteil (der Staatsausgaben) sich zu Lasten des investiven Anteils vermehrt, ist aber eine krasse Ungerechtigkeit gegen die künftigen Generationen. Man muss es schon einen intergenerationalen Imperialismus und Sozialdarwinismus nennen, dass die gegenwärtig dominierenden Generationen kräftig auf Kosten der zukünftigen leben."
Aber das heißt nicht, dass Höffe sich zur Trompete des Marktglaubens machte. In der überbordenden Ökonomisierung sieht er etwa eine der großen Gefahren für die Universitäten:
"Gegen die Vorherrschaft, oft sogar Tyrannis der Ökonomie, eigentlich sogar nur gegen die Diktatur des BWL-Denkens, sollten die Wissenschaften (...) gemeinsam Einspruch erheben. Nur in Klammern: Während kein Kfz- oder Chemieunternehmen einen Althistoriker oder Astrophysiker in den Aufsichtsrat wählt, schickt man den Hochschulen als Universitätsräte lieber erfolgreiche Unternehmer statt hervorragende Wissenschaftler."
Ein großes Thema Höffes ist die Ökologie, genauer: die ethischen Fragen, die aus den ökologischen Problemen hervorgehen. Wo steht der Mensch in der Natur? Die oft gehörte Kritik an der Anthropozentrik, jenem Denken, das den Menschen an die Spitze der Natur stellt, hält er für widersprüchlich. Denn jeder Versuch, den Menschen zur Rücksicht auf die Natur anzuhalten, appelliert doch an eine ganz einzigartige menschliche Fähigkeit, nämlich die zur ethischen Reflexion. Auch der entschlossenste Vertreter der Tierrechte kommt aus der Anthropozentrik nicht hinaus. Höffes neues Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen und Reden, die sich nicht an die Fakultätsgenossen richten, sondern an jedermann, der über das Richtige und Falsche nachdenkt. Und das hält der Autor für eine entscheidende Aufgabe des Faches:
"Die Philosophie versteht sich seit ihren Anfängen in Bezug auf Moral, philosophische Ethik als eine sogenannte praktische Philosophie. Das heißt, sie sucht zwar Einsichten, aber die Einsichten sollen letztlich dem Handeln dienen, und damit wendet sie sich an den mündigen Bürger. Und wenn sie sich an den mündigen Bürger wendet, muss sie auch verständlich sein. Also selbst die akademische Philosophie sollte letztlich, wenn sie Moralphilosophie treibt für mündige Bürger und damit elegant, mindestens verständlich geschrieben sein".
Und Höffes Buch ist in der Tat gut lesbar, animierend geschrieben. Dabei muss man dem Autor nicht in jedem Punkt zustimmen. Sein Vertrauen in die Kontrollmoral und ihre Kraft gegenüber Wissenschaft und Wirtschaft geht wohl zu weit. Ob und wie weit sich die professionellen Sphären von Wissenschaft, Technik, Ökonomie von denen des moralischen Diskurses noch erreichen lassen, das diskutiert er doch nicht umsichtig genug. Insofern fehlt der Aufsatzsammlung etwas, naheliegenderweise: systematische Strenge. Aber das Buch eines klugen Mannes zu lesen, der nicht in die Sittlichkeitsklagen einstimmt, die immer schon oben aufliegen, das ist doch was.
Otfried Höffe: "Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik"
C.H. Beck Verlag, 219 Seiten, 22,95 Euro
C.H. Beck Verlag, 219 Seiten, 22,95 Euro